Eigentlich ist es der Berliner Polizei zu verdanken, dass die russische Opposition in Deutschland eine eigene Stimme bekam. Ein Beamter brachte die jungen Russen zusammen. In der zuständigen Berliner Dienststelle lagen für den 10. Dezember 2011 mehrere Anträge für Demonstrationen vor der Russischen Botschaft vor. "Könnt Ihr Euch nicht alle zusammen tun?", fragte ein Beamter die Aktivisten, um die Begleitung der Demos für die Polizei zu vereinfachen. So kam eine Handvoll russischer Organisatoren auf einer Skype-Konferenz zunächst virtuell zusammen. Zwei Sachen verbanden sie: Sie lebten in Deutschland und waren von dem Wunsch getrieben, hier gegen das Putin-Regime auf die Straße zu gehen.
"Wir wollten protestieren gegen die Wahlfälschungen und das System Putin", sagt der Politologe Sergej Medwedjew, der seit sieben Jahren in Berlin lebt. "Ich habe mich früher nicht für Politik interessiert", sagt der junge Mann, der fließend Deutsch spricht. "Erst hier in Deutschland habe ich mehr gelesen, Diskussionsveranstaltungen besucht und wollte dann selbst aktiv werden." Als in der Heimat die großen Demonstrationen begannen - in Moskau gingen im Winter 2011 anlässlich der Parlamentswahlen Zehntausende Menschen für ihre Rechte als Wahlbürger auf die Straße -, gab es auch bei Russinnen und Russen in Deutschland das Bedürfnis, ihre Solidarität zu bekunden.
Im Windschatten alter RevolutionäreAm 10. Dezember 2011 versammelten sich also fast tausend Demonstranten vor der Russischen Botschaft nahe dem Brandenburger Tor. "Ich war überrascht über die vielen Landsleute", erinnert sich Sergej. "Wir hatten über Facebook eingeladen und kannten uns ja alle vorher nicht. Die große Zahl der Teilnehmer hat uns dann motiviert, weiter zu machen." Die Demonstration wurde zur Geburtsstunde des kleinen Vereins "IDecembrists", der heute 20 Mitglieder hat und zahlreiche Events in der deutschen Hauptstadt organisiert. "Damals erwachte die Zivilgesellschaft in Russland und wir wollten das unterstützen", sagt Sergej, der später zum Vorsitzenden des Vereins gewählt wurde. Der Name "IDecembrist" erinnert an die russischen Revolutionäre, die im Dezember 1825 den Eid auf den neuen Zaren Nikolaus I. verweigerten und damit ihren Protest gegen das Zarenregime und dessen Willkür bekundeten.
Zum Vereinstreffen an einem sonnigen Samstagnachmittag versammelt sich der harte Kern in einem abgelegenen Hinterhof-Lokal in Berlin-Wedding. Darunter ist die 29-jährige Bauingenieurin Julia Rachmann, die von der Demonstration in Berlin so beeindruckt war, dass sie gleich zu der Gruppe stieß. Julia war froh, Leute zu finden, denen nicht alles gleichgültig war, was in der Heimat geschah. "Ich habe hier richtige Freunde gefunden - danke an Putin dafür", sagt die junge Frau mit dem flotten Kurzhaarschnitt schmunzelnd. Julia kam 2008 nach Deutschland und arbeitet unter der Woche in Wolfsburg. Als Emigrantin sei es gar nicht so einfach, hier seine Nische zu finden, sagt sie. Relativ frisch dabei ist Alexej Kozlow, der in der Provinzstadt Woronesch bereits Oppositionsarbeit machte und im Januar aus Russland nach Berlin floh. Auch er ist froh, hier eine Gruppe gefunden zu haben, die sich für das einsetzt, was er auch schon zu Hause gemacht hat. Es sind Ingenieure, Ärzte, Juristen, Studenten und Politologen im Alter von 25 bis 30 Jahren, die sich bei "IDecembrists" neben ihrem Job ehrenamtlich engagieren.
Russlands Botschafter in Berlin reagiert auf offenen BriefDie Aktivisten diskutieren bei Tee und Keksen über ihre Position zum Ukraine-Konflikt. Sie sind sich schnell einig, dass sie bei der Vereinsarbeit vor allem die Menschenrechtsverletzungen in der Krisenregion thematisieren wollen. Im März veröffentlichten "IDecembrists" im Berliner "Tagesspiegel" einen offenen Brief russischer Landsleute an Präsident Putin "Wir dürfen einen Brudermord nicht zulassen", darin kritisierten sie die russische Militärintervention in der Ukraine scharf und forderten deren Rücknahme. Erstaunlicherweise erhielten sie sogar eine Antwort des russischen Botschafters in Berlin, Wladimir Grinin, der Ihnen ausführlich die russische Regierungsposition darlegte. "Seither werden wir stärker als Oppositionsgruppe wahrgenommen", sagt Sergej. Die Liste der bisherigen Aktivitäten des kleinen Vereins ist angesichts der wenigen Mitstreiter recht lang: Gespräche mit kritischen Journalisten, die Organisation eines Jugendfestivals, die Vorführung eines kritischen Dokumentarfilms vor den Olympischen Spielen in Sotschi und zahlreiche andere Events. Zukünftig wollen die Aktivisten außerdem Briefe an politische Gefangene in Russland schreiben.
Trotz mancher Erfolge lastet die Vereinsarbeit bislang auf zu wenigen Schultern. "Der Kreis muss sich weiten", fordert der Student Alexander Formozow, der von Israel aus per Skype zugeschaltet wird, aber sonst in Berlin lebt. Auch die Kriegsgefahr zwischen Russland und Ukraine trägt gerade dazu bei, dass der Optimismus der Aktivisten eher gedämpft ist. "Im Winter 2011 erlebten wir noch eine Zeit der Hoffnung auf Veränderung", sagt Sergej über die Startphase. Heute wirkt die politische Auseinandersetzung bis in die persönlichen Beziehungen hinein. Julia erzählt, dass sie mit ihren Eltern zu Hause in Russland nicht mehr über Politik sprechen kann. "Sie sind für den Krim-Anschluss", sagt sie. Den anderen geht es nicht anders und sie sprechen von einem "Generationenkonflikt". Sergej hat seit drei Monaten nicht mehr mit seinem Vater gesprochen. "Am besten meidet man da lieber das Thema Politik."
LinksDie Website des Vereins. Der Offene Brief an Putin aus dem Berliner Tagesspiegel. Das "Russland"-Dossier der bpb mit Infos zum politischen System. Debatten aus europäischen Medien zum Ukraine-Konflikt auf eurotopics.de.
Gemma Pörzgen ist freie Journalistin in Berlin und schreibt über Außenpolitik, Osteuropa, Medien und Bildung. Fotos: © picture alliance/Mary Evans Picture Library / Florian Schuh dpa/lbn