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Schmerz!

Maria, 21, empfindet tiefe Befriedigung, wenn sie sich schneidet. Wie eine Bestrafung, die sie genießt

Schmerz ist für mich ein wohltuendes Gefühl – so, als habe bei mir jemand etwas falsch programmiert und Schmerz und Liebe verwechselt. Ich falle dabei in eine Art Trance, ich stehe dann neben mir und gucke mir beim Schneiden zu, ein dissoziativer Zustand.

Seit ich vor vier Monaten in die Klinik kam, versuche ich, mich nicht mehr so häufig zu schneiden. Mit vier, fünf Malen bin ich bisher ausgekommen. Es war mir jedes Mal sehr peinlich, weil man danach den Pflegern Bescheid sagen muss. Aber manchmal ertrage ich es einfach nicht mehr länger: Wenn ich meine Regeln nicht eingehalten habe, zum Beispiel eine bestimmte Gramm- oder Kalorienzahl beim Essen überschritten oder in der Therapie zu viel preisgegeben habe, muss ich mich bestrafen. Schneiden ist dafür die einfachste Möglichkeit. Es geht schnell, und man kann es überall machen. Bevor ich damit anfange, fühle ich mich immer wie jemand, der eine Woche nichts gegessen hat. Er hat das Steak schon auf dem Teller und wartet nur darauf, dass er los­legen darf. Ich mache es mir in meinem Zimmer bequem, schalte Musik ein – Punkrock, Queen oder nur Radio – und hole ein Handtuch, Verbandszeug, Desinfektionsmittel und Rasierklingen. Wenn ich all das neben mir angeordnet habe, kommt der erste Schnitt.


Wenn die schnitte gut geworden sind, hält die Befriedigung an

Ich schneide immer in meine Unterarme. Pro Session ­müssen es mindestens zehn Schnitte sein, je mehr, desto ­besser. Ich muss in einer bestimmten Anordnung schneiden, die zu den vorherigen Schnitten passt. Wenn die Schnitte gut geworden sind und ich Glück habe, hält die Befriedigung nach der Session noch eine Weile an.

Vielleicht klingt das, als sei Schneiden für mich eine Be­lohnung, keine Bestrafung. Aber das ist es nicht. Es ist einfach meine Methode, mich selbst auszuhalten. Manche versuchen, mit Ersatzhandlungen davon loszukommen, Chilis kauen, auf Erbsen laufen, kalt duschen. Ich halte das für Scheiß. Wenn ich dazu in der Lage bin, etwas anderes zu tun, bin ich auch in der Lage, es ganz seinzulassen.

Wann ich mit dem Schneiden angefangen habe, weiß ich nicht mehr. Vielleicht mit zwölf, als sich meine Eltern getrennt haben. Meine Einstellung zu Schmerzen war aber schon als Kind anders als bei den meisten. Mein Vater langte gern mal zu, allerdings habe ich das nie als negativ empfunden. Manchmal habe ich ihn sogar extra provoziert. Schmerz war etwas Tolles. Es war Zuwendung. Mit meiner Mutter habe ich bis ­heute nicht wirklich über das Schneiden geredet. Sie hat es wohl erst er­fahren, als mich das Internat in eine Klinik geschickt hat.

Dies ist mein vierter Klinikaufenthalt, denn leider reicht Schneiden nicht mehr aus. Ich treffe jetzt Männer, von denen ich ahne, dass sie mir Gewalt antun werden. Das ist gefährlich. Trotzdem hat es keinen Sinn, damit aufhören zu wollen, solange ich nicht gelernt habe, mit mir selbst klarzukommen.


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