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Sarajevo hat sein Coming Out

Endlich dürfen sie sich zeigen. Endlich dürfen sie durch ihre Hauptstadt Sarajevo laufen und dabei ihren Nachbarn, ihrem Land, der Welt zeigen, wer sie sind und wen sie lieben. Tausende Schwule, Lesben, Transgender, Bisexuelle, Intersexuelle und Queere ziehen an diesem Nachmittag über den Titova-Boulevard, vorbei an Altbauten, deren Einschusslöcher immer noch an die Bela­gerung der Stadt in den Neun­zigern erinnern. Über ihnen wehen Regenbogenflaggen. Aktivisten in der zweiten Reihe schlagen auf Trommeln, andere pusten in Trillerpfeifen. Viele halten sich die Ohren zu, weil es so laut dröhnt. Aber der Lärm muss in der ganzen Stadt zu hören sein. Alle sollen mitbekommen, dass es sie gibt.

Die Polizisten haben die Straßen abgesperrt, stehen mit Schilden und Knüppeln auf dem Bürgersteig, damit Nationalisten nicht wieder auf die Queeren losgehen, wie es so oft in den vergangenen Jahren passierte. Eine alte Frau lehnt sich aus dem Fenster über der Demo und formt mit Zeigefingern und Daumen ein Herz. Einige Meter weiter steht ein Junge auf der Terrasse eines Einkaufszentrums und zeigt seinen Mittelfinger.

Eines der letzten ehemals jugoslawischen Länder, das Gay Pride feiert

Ganz vorn, am Anfang der Demo, laufen Branko und Nera, zwei bosnische Aktivisten, die schon seit zwei Jahren die Pride planen und jetzt die Tränen unterdrücken müssen, weil so viele Leute gekommen sind. Branko und Nera halten das Banner mit dem Motto der Pride: Imar Izak. Jemand will heraus. Einen Satz, den man in Bussen in der Stadt hört, wenn Leute aussteigen wollen. Aber Nera und Branko meinen eine andere Art von Coming-out.

Bosnien und Herzegowina ist das letzte der ehemals jugoslawischen Länder, das eine Gay Pride feiert. Noch in den Neunzigern bekämpften sich bosnische Serben, Kroaten und muslimische Bosniaken, verübten Massaker aneinander. Fast 100.000 Menschen starben.

Seitdem kämpft das Land darum, den Hass zu überwinden und Teil der EU zu werden. Die Pride testet nicht nur die Toleranz des Landes gegenüber Homosexuellen, sondern allgemein die Offenheit gegenüber Andersdenkenden und Minderheiten. Während in den meisten Ländern Gay Prides bunte Paraden sind, die von Firmen wie Coca-Cola unterstützt werden, zeigt sich in Bosnien und Herzegowina, was die Pride heute noch für eine Bedeutung haben kann. Für Menschen wie Nera und Branko, die für ihr Engagement bedroht, beschimpft und angegriffen werden. Und für all die Menschen, die endlich den Mut finden, sich zu outen und zum ersten Mal in ihrem Leben für ihre Rechte zu demonstrieren.



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