1 subscription and 2 subscribers
Article

Die Sache mit dem „Ich“ | Übermedien

Fast immer, wenn ich den „Spiegel" lese, macht mich das wütend. Nicht wegen erfundener Geschichten. Im Gegenteil: Mich macht wütend, dass gerade der „Spiegel" und viele andere Publikationen ständig beweisen wollen, wie seriös sie sind. Als Feind dieser Seriosität haben sie ausgemacht: das „Ich".

Der Autor

Frederik Seeler ist freier Reporter. Er hat die Henri-Nannen-Journalistenschule absolviert und unter anderem für „JWD" und „Vice" geschrieben.

Der „Spiegel" hat tolle Zugänge: In der vorletzten Ausgabe durfte ein Reporter mit Kommissionspräsident Juncker in Tunesien Gin Tonic trinken. Im Oktober spielte ein Reporter mit Markus Söder Tennis, im Sommer surrte er mit Christian Lindner im Porsche durch Düsseldorf.

Obwohl diese Reporter nah an Politiker herankommen, versuchen sie in ihren Texten so zu tun, als wären sie weit weg, ja, als wären sie überhaupt nicht da. Wenn der Autor im Juncker-Porträt eine Szene auf der Hotelterrasse beschreibt, klingt das so:

Der Sprecher und der Journalist, der Juncker begleitet, prosten [Juncker] zu.

Als ich diese Stelle das erste Mal lese, denke ich, dass hier neben dem „Spiegel"-Reporter anscheinend noch ein anderer Journalist mit Juncker unterwegs ist. Natürlich handelt es sich aber um den Autor, der sich selbst „Journalist, der Juncker begleitet" nennt und mit ihm zusammen einen Sundowner auf der Terrasse trinkt.

Selbst dann, wenn ein „Spiegel"-Reporter für ein Porträt aufschreibt, wie er mit Markus Söder Tennis spielt, also aktiv an der Geschichte teilnimmt, vermeidet er das „Ich". Der Teaser in der Online-Version:

Wer [im Tennis] gegen [Söder] antritt, lernt ihn kennen.

Als könnten alle bayerischen Wähler*innen ganz selbstverständlich den Ministerpräsidenten zu ein paar Aufschlägen herausfordern.

Warum wird das „Ich" hier so krampfhaft vermieden? Warum gilt es als so unseriös? Warum benutzen viele Schreiber*innen lieber Formulierungen wie „der Beobachter", „der Reporter" oder „man könnte (denken, sehen, beobachten), dass..." anstatt das viel einfachere, ehrliche: ICH.

Absurd

In deutschsprachigen Medien hat das „Ich" seinen Platz in Selbsterfahrungstexten und -reportagen; sogenannte „Ich"-Geschichten. Wo das „Ich" angeblich nicht hingehört: investigative Recherchen, Porträts, „richtige" Reportagen.

Denn das „Ich" mache Texte subjektiver, das „Ich" führe dazu, dass sich Autor*innen in den Vordergrund drängen und wir weniger über die Protagonist*in erfahren. „Ich"-Texte gewinnen keine Nannenpreise, höchstens den Henry-Nonsens-Preis, die „beste absurdeste Reportage, geschrieben in der Ich-Perspektive", verliehen von Reportagen.fm. Ich finde diesen Preis großartig, auch ich habe Texte eingereicht. Aber der Unterton der Ausschreibung sagt: Absurde Geschichten sind in Ich-Form geschrieben. Absurder als die Formulierung: „Wer im Tennis gegen Söder antritt, lernt ihn kennen"?

In den meisten englischsprachigen Medien ist es normal, dass Autor*innen ins „Ich" wechseln, wenn sie eine Begegnung beschreiben oder zeigen wollen, dass sie jemanden persönlich getroffen haben. Ein beliebter Einstieg für ein Porträt im „Guardian" oder der „New York Times" lautet: „The first time I met X, was in a small restaurant in X."

Transparent

Der Journalist Ronan Farrow, der für den „New Yorker" den Missbrauchsskandal um Harvey Weinstein enthüllte, schreibt ganz selbstverständlich:

In the course of a ten-month investigation, I was told by thirteen women that [...] Weinstein sexually harassed or assaulted them.

Er sagt: Mir wurde erzählt, nicht: Wenn man diese Frauen trifft, dann erzählen sie einem, dass....

Seine Recherche wird dadurch nicht zu einer „Ich-Geschichte". Er schiebt sich auch nicht in den Vordergrund, sondern macht mit dem „Ich" kenntlich, dass er alleine recherchiert hat, dass er seine Protagonist*innen persönlich traf. Das „Ich" macht seinen Artikel transparenter.

Allgemeingültig

Ich nenne diese Technik gerne das „unaufgeregte Ich". Es taucht auf, wenn es etwas zu berichten hat und verschwindet danach zu Gunsten der Recherche. Dieses „Ich" braucht keinen inneren Konflikt der Autor*in oder einen Selbstversuch als Daseinsberechtigung. Es kann sein, dass es nur ein einziges Mal im ganzen Text vorkommt. Aber dieses „Ich" verhindert im richtigen Moment, dass Reporter*innen mit „man" oder „der Beobachter" so tun, als würden sie wie allwissende, unangreifbare Erzähler*innen über der Geschichte schweben.

Nur: Wenn man dieses „unaufgeregte Ich" in Deutschland benutzt, bekommt man den Text oft zurück und es heißt: „Nimm dich hier lieber als Autor ein bisschen zurück."

Ha, kleine Falle! Bemerkt? Ich habe in dem Absatz „man" geschrieben. Aber natürlich ist mir das passiert. Ich habe mal einen Text mit genau diesen Worten zurückbekommen. Ich kann nicht für andere Journalist*innen sprechen, aber mache aus meiner Erfahrung durch die drei Buchstaben „man" etwas Allgemeingültiges mit dem empirischen Anspruch „oft".

Hier liegt die Gefahr des „man". Wer als Autor*in eine Meinung, Bewertung oder einen Gedanken im Texten unterbringen möchte, sollte zugeben, dass es die eigenen sind.

Subjektiv

Ich möchte hier nicht über die vermeintliche Objektivität/Subjektivität von Journalismus diskutieren, aber ich glaube, dass es einigermaßen anerkannt ist, dass jeder Text einen subjektiven Blick darstellt. Der Schweizer Journalist Constantin Seibt schreibt in seinem Journalismusratgeber „Deadline":

Schreiben ist eine geradezu absurd subjektive Angelegenheit: ein Mensch, eine Tastatur.

Wenn ich also in einem Text ein „Ich" benutze, mache ich ihn nicht unbedingt subjektiver, sondern gebe nur zu, dass er subjektiv ist.

Seibt vermutet, dass Redaktionen mit „Anonymität, Normierung, Neutralität" ihre Glaubwürdigkeit festigen wollen. „Die Furcht dahinter ist, dass die Leser beim ersten subjektiven Wort merken, dass hier ja nur einer ist, der schreibt." Folglich versuche der Journalismus den gleichen Trick, wie es Beamte und Businessleute täten: „Seriosität durch graue Anzüge."

So richtig und lustig diese Analyse ist, auch für Seibt gehört das „Ich" nur in Selbsterfahrungsberichte. Dabei ist es genau diese Degradierung des „Ichs", die dazu geführt hat, dass in Deutschland fast niemand das „Ich" in ernsten Recherchen benutzt.

Aufgeregt

Wenn Journalist*innen einen Selbsterfahrungstext schreiben, dann braucht der meist einen Ich-Konflikt, um erzählenswert zu werden. Allein das Wort: Ich-Konflikt! Meine fiktive Therapeutin würde sagen, wir sind alle wandelnde Ich-Konflikte.

Aber ich meine damit die Katharsis. Erst traue ich mich etwas nicht, dann doch. Erst mag ich etwas nicht, dann doch. Genau das führt dazu, dass Schreiber*innen ihren inneren Konflikt aufblasen, Begegnungen zu weltverändernden Momenten umdeuten und die Texte sehr künstlich werden. Sie benutzen ein „aufgeregtes Ich". So erfüllen sie den Vorwurf, den die Leute der „Ich-Geschichte" machen. Dass sich Autor*innen in den Vordergrund drängen und die Recherche vernachlässigen.

Ich schreibe gerne solche „Ich-Geschichten"; ich sage nicht, dass sie verboten gehören. Ich sage auch nicht, dass man nie wieder ein „man" in Reportagen benutzen darf. Ich fände es nur großartig, wenn auch deutschsprachige Reporter*innen sich trauen würden zu schreiben: „Ich sitze im Porsche mit Christian Lindner." Oder: „Der Sprecher und ich prosten Jean-Claude Juncker zu." Sie beschreiben damit ja nur die Realität etwas genauer. Oder ausgedrückt mit „Spiegel"-Pathos: Sie sagen, was ist.

Original