5 subscriptions and 6 subscribers
Article

Gedichte gegen die Scham

Wiederverwendbare Stoffbinden von Eco Femme: Foto: Eco Femme

Menstruation ist in Indien ein Tabu. In ihrer Verzweiflung schwänzen Mädchen während ihrer Periode die Schule oder brechen sie ab. Der Widerstand gegen das "Period Shaming" wächst - auch bei Männern.

"Sie liebte Biologie. Wollte Ärztin werden. Dann übernahm die Biologie sie. Nie wieder sah sie die Schule von innen." Weiße Buchstaben auf blutrotem Untergrund. Diese Zeilen sind Teil einer Facebook-Kampagne, ein Stück "Period Poetry". Athira Unni, eine Studentin aus Indien, hat das Gedicht in englischer Sprache verfasst. Sie folgte dem Aufruf der studentischen Initiative "The Haiku". Diese wendet sich mit kleinen Gedichten gegen ein großes Tabu in der indischen Gesellschaft: die weibliche Menstruation.

"Wir studieren Medizin, sind angehende Ärzte - doch lange sprachen nicht einmal wir darüber, dass Frauen ihre Tage haben", sagt die Medizinstudentin Sreya Salim. Stattdessen schämten sich Sreya und ihre Kommilitonen. Mit dem Start der "Haiku"-Kampagne wollten sie dem "Period Shaming" ein Ende setzen. Sreya gab den Anstoß dafür: "Ich fühlte mich bereit, die Stimme zu erheben, zu streiten, zu rebellieren." Das war vor zwei Jahren. Seitdem haben Sreya und mehrere Mitstudierende über 100 Kurzgedichte, sogenannte Haikus, aus ganz Indien gesammelt. Schüler und Studierende, vor allem der Medizin, haben sie geschrieben. Die Verse strotzen vor Emotion. "Frust, Wut, Scham, Schmerz, Hoffnungslosigkeit - alles ist dabei", so Sreya.

",Weiblichkeit', sagte ihre Mutter. ,Erwachsen', rief ihre Schwester. ,Verantwortung', mahnte ihr Lehrer. ,Eingesperrt', klatschte die Gesellschaft", so bringt Sreya in ihrem Gedicht die Situation der Frauen in Indien auf den Punkt. Diese schweigen über ihre Menstruation, weil die Gesellschaft sie dazu auffordert. Ihr Schweigen ist sichtbar: In Großstädten verstecken sie Binden nach dem Kauf in braunen Tüten oder wickeln sie in Zeitungspapier - und eilen nach Hause. In ländlichen Gegenden, wo es nur kleine Dorfläden gibt, verzichten Frauen häufig darauf, Binden zu kaufen, weil sie sich vor den männlichen Verkäufern genieren. Noch weniger kommt für sie der Kauf von Tampons infrage, die man ja einführen muss, genau wie Mentruationstassen.

Hinzu kommt, dass auf dem Land der hinduistische Glaube stärker verwurzelt ist. "Während der Menstruation gelten Frauen drei bis vier Tage als unrein", sagt Heike Oberlin, Professorin für Indologie an der Universität Tübingen. In dieser Zeit dürfen Mädchen und Frauen weder Pickle, das beliebte eingelegte Obst und Gemüse, noch blühende Pflanzen anfassen. Sie dürfen Tempel und Küche nicht betreten. Während die restliche Familie bei Tisch sitzt, kommt es vor, dass Frauen ihr Essen am Boden zu sich nehmen müssen oder nachts nicht im eigenen Bett schlafen dürfen. Sona Vijay durfte nicht einmal ihren eigenen Sohn berühren, nachdem er gestorben war, und schreibt sich ihren Kummer von der Seele: "Sie fütterte ihn, badete ihn. Sie liebte ihn. Jetzt liegt er da, regungslos, in weißen Stoff gewickelt. Sie darf ihn nicht berühren, sagen sie. Sie blutet."

Die religiös abgeleitete Unreinheit hat Folgen: 23 Prozent der Mädchen brechen die Schule nach Einsetzen der ersten Menstruation ab. Oder aber die Eltern nehmen ihre Töchter von der Schule, weil sie diese nun für heiratsfähig halten. Meistens bleiben Mädchen dem Unterricht jedoch fern, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Blutung in den Griff kriegen sollen.

Indische Schulen haben nur selten Toiletten, somit fehlt Mädchen der Rückzugsort, an dem sie sich ungestört um ihre Intimhygiene kümmern können. Besonders bei stärkeren Blutungen haben sie Angst, dass Blutflecken sie verraten könnten. Daher erscheinen viele, wenn sie ihre Tage haben, gar nicht erst zum Unterricht - und fehlen so pro Jahr an bis zu 50 Tagen. Mit gravierenden Folgen für ihre Bildung.

Original