Schragazu, Gränta oder Quattapätsch: Auf den Wegen des Montafoner „Alpenmosaiks“ begegnen dem Wanderer heimische Wörter, ikonische Berge und Bauten – und alpine Delikatessen.
Von Franziska Horn
„Wir waren arm und gleichzeitg steinreich“, sagt Imelda Dönz und steht dabei vor einemder typischen Montafoner Häuser hier in St. Gallenkirch. Das Wetter? Es kübelt aus allen Wolken, die vorbeipreschenden Autos spritzen das Wasser meterhoch auf die Bordsteine und damit auf uns, doch das kann der guten Laune von Imelda nichts anhaben. Einem Bergler macht der Regen nichts aus. Diese handfeste Resilienz steckt an und so folgen wir der engagierten Wanderführerin, Jahrgang 1960, weiter durch ihr Heimatdorf und über zaghaft blühende Bergwiesen. St. Gallenkirch ist eine von acht Gemeinden eines langgezogenen Tals namens Montafon. Unzählige Gäste hat Imelda schon mit auf diesen „Montafonerhausweg“ genommen – und ihre Begeisterung dabei steckt an.
Preiselbeer-Schnaps
So kommen wir an rund 350 Jahre alten Häusern vorbei. Das Montafonerhaus ist ein ganz eigener Bautyp, teils aus Holz, teils gemauert, mit charakteristischer Aufteilung. „Die Reicheren hatten Kalköfen, sonst wurde mit Holz geheizt. Jedes Haus hatte eine Räucherstube für Speck und den berühmten Sura Kees, den Sauerkäse den‘s wirklich nur hier gibt. "Und jedes Montafonerhaus hat einen Kräutergarten mit Heilpflanzen“, berichtet Imelda, die früher selbst in einem solchen wohnte. „Kräutergarten“ ist auch das Stichwort, um ihren Rucksack aufzumachen. Darin: eine Flasche mit selbst gebranntem kostbarem „Gränta“-Schnaps, das sind Preiselbeeren, dazu befördert sie ein paar Stamperlgläser ans Tageslicht. Wir bekommen einen kräftigen Schluck kredenzt.
Schmeckt ausgezeichnet, wirklich handgemacht, und unsere Stimmung klettert auf der Gute-Laune-Skala nochmal höher, Dabei lauschen wir Imeldas Ausführungen zur Drei-Stufen-Landwirtschaft, die hier im Montafon noch emsig gepflegt wird.
Refugium Maisäß
Dann erzählt Imelda von einem Heiligtum, das jeder Talbewohner in hohen Ehren hält – sofern er eines hat: das Maisäß. Eine kleine Hütte im Blockhausstil, aus von der Sonne dunkel gebranntem Holz mit kleinen, quadratischen Fenstern, daran grüne oder rote Läden. Ein Stil, der von der ausgefeilten Bauweise der Walser Bergbauern zeugt. Zu jedem der schlichten Maisäße gehört ein Stadel, ein Stück gerodeter Alpboden drumherum und manchmal weitere Maisäße, wie oben auf der weiten Panoramawiese von Ganeu oberhalb des Orts Gaschurn. Früher dienten diese Hütten der mittleren Weidestufe fürs Viehtreiben in den Sommermonaten, heute als Refugium und Rückzugsort, ein lauschiges alpines Königreich, wo man für sich sein und in die Bergwelt eintauchen kann. Viele Montafoner halten ihre Maisäße privat. Die gute Nachricht: Es gibt einige, die man mieten kann.
„Das Maisäß hat eine Sonderstellung in meinem Leben, denn es gibt Kraft und Ruhe“, sagt Imelda und erzählt von ihrem Hideaway im abgelegenen Silbertal. „Nur dort und mit dem beständigen Rauschen des Wildbachs kann ich richtig schlafen.“ Neugierig und motiviert folgen wir Imelda am nächsten Tag auf eine zweite Wanderung, dieses Mal auf Sonne hoffend und auf weitere Rationen vom fantastischen „Gränta“.
Das Wetter passt. Von Tschagguns aus geht es per Gondel hinauf auf den Golm, dann entlang des Gauertaler AlpkulTour-Wegs vorbei an sinnig durchdachten Kunstwerken des heimischen Künstlers Roland Haas hinüber zur Lindauer Hütte.
Pfeifende Murmeltiere
„Grüaß Di“, begrüßt Imelda jeden, der entgegenkommt, und legt immer wieder einen Stopp ein: „Lueg e mol, ein Frauenschuh!“ – und meint die vorsichtig herausspitzenden Berg-Orchideen. Bald wird hier alles blühen. Der Weiße Germer etwa. „Der ist giftig“, weiß
Imelda. „Der Meisterwurz dagegen hilft bei Verletzungen.“ Blümlein, Kräuter und pfeifende Mormenta, Murmeltiere also – es gibt so viel zu sehen auf diesem Höhenweg, dass wir wie angenagelt stehen bleiben, als sich vor uns die Sulzfluh mit den benachbarten Drei Türmen auftun. Wie vom Steinmetz gemeißelt schrauben sich die markant geformten Bergspitzen in den Himmel. Imelda erzählt vom weitläufigen Wegenetz namens „Alpenmosaik Montafon“, auf dem man viele Tage oder Wochen quer durchs Montafon zu gemütlichen Berghütten, wundersamen Wollgraswiesen, archaischen Gipfeln und grün schillernden Stauseen wandern kann, dabei die drei Gebirgszüge Rätikon, Verwall und Silvretta durchquerend. Auf dem Weg hinunter ins Tal, immer weiter auf dem Gauertaler „AlpKultour“-Weg, ist es dann so weit: Nachdem wir zahlreiche Maisäße bestaunten und Montafoner Wörter wie „Schragazu“ – ein gestrickter Weidezaun – oder „Quattapätsch“ für Salamander dazu lernten, öffnet Imelda an einer alten Trockenmauer, auf der bereits wilder Thymian vor sich hin duftet, den Rucksack. Eine Runde „Gränta“ krönt diesen von Highlights geprägten Tag.
Das Montafon ist was für Genießer.
Zum dritten Ausflug kurven wir am folgenden Tag die kurvenreiche Staße zur Silvretta-Bielerhöhe hinauf, wo eine schneidige Klettertour für Senkrechtstarter wartet: Beinahe im 90-Grad-Winkel führt ein Klettersteig die Staumauer des Silvretta-Stausees hinauf. Mit viel Luft unterm Hintern erklimmen die Höhenaspiranten gut gesichert die mächtige graue Wand.
Hemingway als Gast
Als Guide überwacht ein heimisches Kletter-Ass die Bewegungen der Gruppe: Niemand Geringerer als Beat Kammerlander, der aus dem nahen Bludenz stammt und vielfach Rekorde in seiner Extremsportart setzte, zeigt den Zöglingen die besten Moves, Griffe und Tritte, um genußvoll die Route hoch zu steigen.
Dass hier einmal Touristen zur Gaudi die Wand hochgehen, das hätte sich good old Hemingway wohl nicht träumen lassen, als er damals im Winter vor rund 100 Jahren auf Skitouren das Madlenerhaus unterhalb des heutigen Staudamms besuchte. Den Dammgab‘s damals freilich noch nicht, der stammt von 1938. Am Ausstieg des Steigs klicken die Kameras vobeiziehender Spaziergänger, denn rund um den See verläuft ein spannender Fußweg, der immer neue Aussichten auf den Piz Buin und seine Bergkumpanen liefert. Wie schon Hemingway, in den Jahren um 1924 herum, zieht das Montafon bis heute Menschen in seinen Bann. Eine davon ist Angelika Löttner, die aus Oberösterreich stammt und mit ihrem Partner, einem Architekten, Schruns als ständiges Basecamp gewählt hat. Sie erzählt von der Aufgeschlossenheit der Montafoner, die wohl auch durch die Lage hier im Dreiländereck bedingt ist, von der guten Küche und den Sennalpen mit Käse-Degustationen – und von der Phalanx vielfacher Bergriesen drumherum: Weil Angelika neben ihrer Arbeit als Krankenschwester auch noch als Wanderführerin für die hiesige Bergschule „Firmalpin“
unterwegs ist, kennt sie unzählige Touren zwischen einfach bis anspruchsvoll. Tipp: Bartholomäberg Zum Abschluss gehen wir einen gemütlichen Trip an – mit einer Maisäß-Runde über den Bartholomäberg, den Sonnenbalkon hoch über Schruns und mit Aussichten, die sogar verwöhnte Wanderer sprachlos machen. „Da siehst du das gesamte Rondell vom Hochjoch über die Tschaggunser Mittagspitze, Zimba bis hinüber zu Sulzfluh, Drei Türme, Drusenfluh und Schesaplana“, deutet Angelika in die Ferne. Ein, zwei Stunden später sitzen wir am beschaulichen Fritzensee vor einer Hütte.
Lage, Lage, Lage – das Schlagwort für erfolgreiche Immobilienbauer galt damals wie heute und so wussten die ersten Menschen, die das Montafon besiedelten, dass es hier oben am Bartholomäberg beinahe am allerschönsten ist. „Davon zeugen die frühen Siedlungen der Talschaft, viele alte Maisäße und erst recht das prähistorische Bergbaugebiet“, erzählt Angelika auf dem Rückweg, wo wir auch beim Llamero Horst vorbeikommen, der eine Wandertour auf den Bartholomäberg mit seinen Lamas als Begleitung anbietet, und zeigt auf einen Stolleneingang, der ins Innere des Berges führt. Doch statt dem Hämmern der Bergknappen dringt uns heute das Summen der Hummeln über den Bergblumen in den Ohren. Auf dem Weg durch weite Hänge knipsen wir fleißig die Aushänge von manch altem Maisäß: „Zu vermieten“. Der nächste Bergfrühling oder -sommer kommt bestimmt.