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Die Poesie der Kälte

"La Colline qui se prenait pour une montagne" - Der Hügel, der sich für einen Berg hielt, so heißt diese Fotografie der Extremalpinistin Monica Dalmasso aus Chamonix. ©MonicaDalmasso

Die französische Alpin- und Kunstfotografin Monica Dalmasso zählt zu den profiliertesten des gesamten Alpenraums. Ihre Bilder von Menschen am Rand der Leistungsgrenze verströmen eine traumwandlerische Leichtigkeit. Stets im Zentrum ihres Schaffens: die facettenreiche Begegnung zwischen Mensch und Natur.

Franziska Horn » Monica, du zählst zu einer Handvoll professioneller Bergfotografinnen und -fotografen, die ebenso hervorragend klettern wie fotografieren. Wie kommt das?

Monica Dalmasso » Das Fotografieren habe ich an der Ecole Nationale supérieure Louis-Lumière (ENS) in Paris gelernt. Und ich war einige Jahre Mitglied des französischen Kletter-Nationalteams, bevor ich mich ausschließlich der Fotografie widmete. Heute arbeite ich regelmäßig in den thematischen Bereichen Sport und Abenteuer und ebenso im Bereich der künstlerischen Fotografie, zum Beispiel für Galerien und Ausstellungen.

FH » Wie gehst du visuell an deine Themen heran?

MD » Meine Art, Bilder zu erschaffen, ist impulsiv und spontan. Ich suche nach einer Vision von Wirklichkeit, die nicht als real erscheint, sondern eher so wirkt, als ob man aus einem Traum erwacht. Vor allem mag ich es, das Ursprüngliche und ebenso das Poetische in feindlichen Höhen aufzuzeigen. Draußen in der Wildnis bin ich ganz in meinem Element, beim Fotografieren von Natur und Menschen, in einer rauhen Umgebung, wo alles passieren kann.

FH » Du lebst am Fuß des Mont Blanc. Was hat Dich dorthin verschlagen?

MD » Ich stamme ursprünglich aus dem Süden von Frankreich, aus der Gegend von Nizza. Dort gibt es viele Möglichkeiten zum Felsklettern, in der Schlucht von Verdon oder im Kalkgestein der Calanques. Auch in Fontainebleau ist es toll. Bouldern tue ich aber eher weniger. Ich wollte näher an den Bergen leben, also bin ich nach Chamonix gegangen. Für das Skifahren ist Chamonix gut, fürs Klettern eher nicht so. Ich habe in Savoz gelebt, zehn Minuten von Chamonix, später dann in Brévent, mit Blick auf den Mont Blanc. Und aktuell in Les Moussoux, gegenüber den berühmten Felsnadeln der Aiguilles de Chamonix.

FH » Was hält Dich bis heute in Chamonix?

MD » Es ist die Möglichkeit, so ganz unterschiedliche Sportarten zu machen, das ist faszinierend. Und Chamonix ist ein „melting pot“, ein Schmelztiegel. Es kommen Leute aus der ganzen Welt hierher, die Atmosphäre ist wirklich offen und aufgeschlossen. Und die Schweiz und Italien sind nah.

FH » Deine Lieblingsdisziplin …?

MD » … ist das Felsklettern, ganz klar, das mache ich am häufigsten. Aus vielen Gründen, es geht um die Schönheit der Bewegung, um die Vorwegnahme der Züge, um die mentale Dimension … aber der Hauptgrund ist wohl, dass Klettern die einzige Disziplin ist, die mich am Denken hindert.

FH » Und wo kletterst Du am liebsten?

MD » Da sind zum Beispiel die Felsnadeln der Drus, der Grépon und auch der Grand Capucin. Ich habe mehrere Routen auf jedem von ihnen geklettert. Rund um Chamonix gibt es viele interessante Kletterspots. Ich gehe auch oft vom Aostatal aus, dort gibt es sehr schöne Aiguilles … und die beste Eiscreme!

FH » Wie gut, dass du Mitglied der „Equipe nationale de France“ im Klettern warst...

MD » Richtig, doch das professionelle Klettern hat mich nicht so sehr interessiert, auch nicht das Wettkampfklettern. Beim Klettern bevorzuge ich das Abenteuer und die Natur, nicht den Wettkampf. Ich war einfach nicht motiviert, die Erste zu sein. Das Training selbst war spannend, ja! Die Wettkämpfe waren es nicht.

FH » Du bist mit den Größen der Zeit geklettert, zum Beispiel mit Catherine Destivelle.

MD » Ich habe Catherine 1985 getroffen, als wir den gemeinsamen Film “E’ pericoloso sporgersi” („Nicht hinauslehnen“) in den Gorges du Verdon drehten. Worum es hier geht? Zwei Mädchen in schwierigen Routen! Zum Beispiel gehen wir die Route „Pichenibule“ mit 1000 Metern im Grad 7b+ zum ersten Mal frei. Wir hatten beim Dreh viel Spaß, einen Monat lang, und spielten dabei mit allen Klischees der Zeit.

FH » Was bedeutete es danach, in die Großstadt zu gehen?

MD » Ich bin nach Paris gegangen, um Fotografie zu studieren und als Fotografin zu arbeiten, da ich wusste, dass es nur wenige Jahre möglich ist, vom Klettern zu leben. Ob die Großstadt Paris mir als Naturfan gefallen hat? Ja, für eine gewisse Zeit war es gut.

FH » Du sagst, du stellst die Begegnung von Mensch und Berg in den Mittelpunkt deiner Arbeit. Was genau meinst du damit?

MD » Dass wir alle in den Bergen das finden können, wonach wir suchen. Die Berge sind wie ein großer Spiegel – und menschliche Wesen sehen in diesem Spiegel sehr klein aus.

FH » Welche Deiner Bilder verkaufen sich am besten oder kommen am besten an: Eher die wilden Perspektiven oder die netten Ansichten – und warum?

MD » Ich habe beobachtet, dass die Bilder mit geringer Schärfentiefe besonders gut ankommen – wie das mit dem roten Kletterseil, oder das Bild vom Rotkäppchen mit Fokus

auf den Schneeflocken. Oder das Foto vom Felsriss und auch die eher poetischen Bilder wie jenes, das ich „Der Hügel, der sich für einen Berg hielt“ nenne. Es sind Bilder, die eine traumähnliche Dimension besitzen.

FH » Was magst du am Märchen vom Rotkäppchen besonders?

MD » Ich bin mir nicht sicher, ob ich es wirklich besonders mag, aber sicherlich hat es meine Fantasie angeregt. Als kleines Kind hat es mich zu Tode erschreckt. Aber mir gefällt noch immer die Idee dieser Geschichte: Das kleine Kind, das allein durch den Wald wandert, mit einem schrecklichen Raubtier auf den Fersen – es erinnert mich an meine Kindheit. Die andere gute Sache des Märchens ist, dass ich das Bild in Rot- und Graustufen drucken konnte, eine Farbkombination, die ich sehr liebe. Und nein, das bin nicht ich. Auf den Bildern dieser Serie spielt eine Freundin von mir, Lotta Richter, das Rotkäppchen. Auf Französisch heißt es übrigens „Le petit chaperon rouge“.

FH » Schwarz, Weiß und ein Hauch von Rot – die Kombination scheint tatsächlich ein Leitmotiv Deiner Fotoarbeiten zu sein.

MD » Stimmt, das ist auch bei diesem gewissen Bild mit François Damilano in der roten Jacke so: „La colline que se prenait pour une montagne“ entstand in der Nähe von Grands Mulets am Mont Blanc. Mir ist diese Farbkombination sehr ins Auge gesprungen, also habe ich das als Serie fortgesetzt. Ich mag es sehr, Farbe auf diese Weise einzusetzen.

FH » Deine Aufnahmen von Langläufern wirken mühelos, minimalistisch, beinahe schwebend. Dabei setzt Du gerne die Technik der Abstraktion ein. Oder zeigst grafisch wirkende Close-Ups von Schnee und Eisblumen und sprichst dabei von der Poesie der Kälte

MD » Ja, die Kälte hat ihre eigene ästhetische Sprache. Schnee ist eine unglaublich poetische Organisation von Molekülen, die Zeichnungen und Kristalle von fragiler Finesse

formen. Die Vielfalt der Eis- und Schneeformationen hat mich schon immer fasziniert und ich werde nicht müde, sie zu fotografieren.

FH » Klettern als Schule des Sehens, könnte man sagen. Daneben sind Berge eine gute Schule für uns Menschen, heißt es. Was haben Dich die Berge gelehrt?

MD » Es ist dies: Der beste Weg, den Gipfel oder das Ziel zu erreichen, ist, dich auf jeden einzelnen Schritt zu konzentrieren und dabei immer die richtige Richtung im Kopf zu behalten. Das habe ich den Bergen gelernt, aber es lässt sich auf alles im Leben anwenden.

FH » Berge haben auch ihre Schattenseiten, nicht nur visuell.

MD » In einem großen Teil meiner Arbeit geht es vor allem darum, wie wir die Berge respektieren. Aber ich interessiere mich ebenso für die Gefahr und das Sterben am Berg. Ich habe meinen Lebenspartner Stéphane Husson vor ein paar Jahren bei einem Bergunfall verloren. Ich dachte erst, ich werde nie mehr wieder in die Berge gehen. Aber ich bin zurück gekommen, weil es einfach mein Ding und auch meine eigene Geschichte ist. Es ist mein Leben. Ich habe viele Freunde am Berg verloren, das macht es nicht einfacher. Aber es kann mich nicht abhalten.

FH » Das Foto mit dem Titel „Monolithe“ zeigt Stéphane Husson an einer Felskante in Beaufort. Das Bild hat viele Preise gewonnen und wurde auf Festivals gezeigt.

MD » Das ist wohl der beste Weg, um ihn am Leben zu halten.

FH » Über den Tod am Berg wird eher wenig geschrieben, fast so, als ob es eine Art Tabu sei. Warum?

MD » Ja, die Leute wollen lieber denken: Mir kann das nicht passieren.

FH » Vielleicht ist das ein Selbstschutz?

MD » Vielleicht. Aber ich bin da ziemlich entspannt. Es kann immer passieren, schon morgen. Eines Tages muss jeder von uns gehen. Wenn es in den Bergen passiert, dann passiert es in den Bergen. Ich möchte nicht in einer perfekt sicheren Welt leben.

FH » Du bist viel und weit gereist, nicht nur zu den Bergen dieser Welt.

MD » Ich interessiere mich sehr für die „peuple premiers“, also indigene Völker, und dafür, wie Menschen in der Natur überleben können. Oder auch für die Beziehung, die wir zu

Bäumen haben. Der Wald kann ein sehr magischer Ort sein. Und so ist auch der Name meiner persönlichen Website „Coyote City“ entstanden. Der Name spielt auf die Haltung der American Indians gegenüber Tieren an. Für sie ist der Koyote ein verspieltes Tier, das einige Tricks drauf hat. Für mich bedeutet das soviel wie: Lebe unkonventionell!

FH » Neben freien künstlerischen Werken arbeitest Du auch für touristische Destinationen und für Auftraggeber aus der Outdoorindustrie.

MD » Ja, wenn es zu meiner Philosophie passt. Zum Beispiel habe ich drei Jahre für Patagonia Deutschland gearbeitet, die ihren Ansatz bezüglich Umwelt sehr ernst nehmen. Auch für Petzl und Rossignol habe ich gearbeitet, zeitweise für Gore-Tex. Außerdem für französische Destinationen wie Savoie Mont Blanc oder für die Orte an den großen Seen von Hochsavoien – den Genfersee oder den Lac d‘Annecy. Oder für NGOs in Tansania, die Wildtiere schützen. Und für Skidestinationen, die versuchen, mehr als nur das Skifahren zu bieten. Seit drei Jahren fotografiere ich auch mit Drohnen, das ist sehr nützlich für Luftaufnahmen. Ich bevorzuge es aber, künstlerisch zu arbeiten und Ausstellungen zu machen, doch natürlich ist es schwierig, davon zu leben.

FH » Auf Instagram zeigst du aber auch Motive von iranischen Spitzenkletterinnen und von sozialen Brennpunkten in Brasilien. Wie kam das?

MD » Ja, diese Bilder haben einen durchaus politischen Kontext. Die Iranerin Nasim Eshqi zum Beispiel ist eine fantastische Frau, die für ihre Rechte eintritt und kämpft. Ich habe sie im Sommer 2022 am Gendarm des Cosmiques fotografiert, die Route heißt „Digital Crack“ (8a). Und danach konnte sie nicht mehr nach Hause zurückkehren. Ich unterstütze

sie und andere iranischen Frauen, die für die Freiheit kämpfen. Sie selbst sagt: „Im Iran würde ich mein Leben riskieren und wäre nutzlos. Hier kann ich viel mehr tun: Bilder und Worte der Rebellion teilen.“ Und die Bilder aus Brasilien sind bei einem Besuch der Favela Babilônia in Rio de Janeiro entstanden, eine Zusammenarbeit mit Einheimischen, dabei ging es darum, das ökologische Bewusstsein durch den Sport zu fördern. Dahinter steht die gemeinnützige Organisation Maewan, die Kindern das Klettern und Highlinen beibringt. Das war mein zweites Projekt mit dem Verein Maewan, zuvor war ich für sie in Vanuatu auf den Salomon-Inseln.

FH » Aktuelle und künftige Projekte?

MD » Ich plane aktuell ein Buch, einen Bildband, der im nächsten Herbst herauskommen soll. Es wird ein Buch über den Wandel in den Bergen, auf eine sehr künstlerische Weise,

auch mit Bildern anderer Bergfotografinnen, da gibt es wirklich nicht so viele. Ich möchte in dem Band über all die Themen sprechen, an denen ich gerne arbeite. Auch mit Bildern des Extrem-Bergläufers Kilian Jornet, die ich während seines Projekts „Kilian‘s Quest“ gemacht habe. Und mit neuen Bildern von ihm, die im Sommer 2023 entstehen werden. Kilian ist für mich ein Alien. Ich meine damit nicht nur seine körperlichen Fähigkeiten oder seine mentale Stärke, die außergewöhnlich sind. Er hat eine besondere Gabe, mit seinen persönlichen Grenzen zu flirten und dabei die Kontrolle zu behalten. Er scheint in direktem Kontakt mit den Naturgewalten und den Elementen zu stehen. Mit ihrer Härte und Ästhetik. Ich hatte immer den Eindruck, dass er seine eigentliche Stärke aus der Natur schöpft.

FH » Dann ist dieser Band eine Fortsetzung deiner Arbeit, in der es immer wieder um die Beziehung Mensch und Berg geht?

MD » In meinen Augen – oder sollte ich hier besser sagen: in meinen Ohren? – gibt es diesen steten Ruf der Berge an die Menschen. Aber all die sogenannten Heldentaten sind

meiner Meinung nach keine wirklichen Eroberungen, eher Entdeckungen oder Abenteuer. Der eigentliche rote Faden meines Lebens ist das Abenteuer. Der Mensch und das Abenteuer. Aber die Redakteure wollen lieber Bilder prominenter Berge, weil sich das leichter verkauft. Nicht so das Bergbeziehungs- Ding. Klettern ist ja nicht einfach nur ein Sport, sondern ein Austausch mit der Natur um dich herum: Darüber möchte ich sprechen, auch mit Redakteuren und das weiter entwickeln. Ich mag es, wenn es wirklich wild wird, im Sturm zum Beispiel. Aber ich werde im geplanten Buch nicht selbst darüber schreiben, sondern eher Texte in Form von Haikus zu den Bildern setzen.

FH » Es geht um die Magie der Natur?

MD » Ja, ich habe früh gemerkt, dass mein Leben von der großen Freude bestimmt wird, die ich in der Natur erlebe. Einfach dort unterwegs zu sein oder auch zu fotografieren. Es ist immer derselbe Wunsch: Mich so klein und leicht zu machen, dass ich mich von den Flügeln des Windes tragen lassen kann. Das Buch wird keine Abbildung sportlicher Heldentaten, sondern den Platz des Menschen in der Natur beleuchten, auch in der Nahaufnahme. Der Kletterer verschwindet dann immer mehr im Lauf der Seiten, um der Landschaft, den fünf Elementen Platz zu machen. So konzentriert sich der Blick auf das Material, auf die Struktur des Felsens, auf alles, was Sensibilität verkörpert – und vom Kletterer sehen wir nur noch einen Schatten, eine Spur … Und die letzte Präsenz des Menschen ist letztlich nur ein Blick.

FH » Dein Instagram-Account verrät, dass Bäume ein zentrales Thema in deinem Schaffen sind. Warum?

MD » Das ist eine lange Geschichte. Ich habe mich einmal während einer Expedition im Amazonasregenwald verirrt und verbrachte einen ganzen Monat in ihm, ohne wirklich

den Himmel zu sehen. Weil der Wald so dicht war. Es gab praktisch nichts zu essen, doch seltsamerweise hatte ich nicht einen Moment lang Angst. Die Bäume, das Leben des Waldes gaben mir eine ungeahnte Energie, die der Angst jeglichen Raum nahm. Diese Erinnerung ist immer noch sehr lebendig, und seitdem ziehe ich immer wieder los, um durch Wälder zu streifen und Bäume zu entdecken. Es ist in meinen Augen ein magisches Universum, in das ich mit unbeschreiblicher Freude eintauche.

FH » Vielen Dank für das Gespräch.


Monica Dalmasso wurde 1970 in der Region Nizza, Südfrankreich, geboren und lebt

seit über 20 Jahren in Chamonix. Der Bergwelt ihrer Wahlheimat gewinnt sie auf schwierigsten Kletterrouten Bilder von größter Leichtigkeit und Eindringlichkeit ab. Ihre impressionistisch anmutende Bildsprache ist geprägt von Poesie und Grazilität. Auch

auf ihren Reisen nach Indonesien, Tansania und Serengeti oder in die Vereinigten Staaten fängt Dalmasso magische Momentaufnahmen in der Natur ein. Auf dem Banff Festival (CAN) gewann sie 2010 den Preis des „Best adventure photographer“. Sie ist auf

zahlreichen Ausstellungen vertreten, ihre Werke werden von der Galerie JD Walter, Paris, und von Agenturen wie Saatchi oder Hemis präsentiert. Im Herbst 2023 erscheint ihr Bildband „Sauvage“, der einen Querschnitt ihres Schaffens zeigt.

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