Der Bergfilm gilt als deutsches Genre, begründet von Pionier Arnold Fanck.
Das Bild der alpinen Helden und der Berge selbst hat sich seither stetig gewandelt.
Text: Franziska Horn
Es war ein Vortrag, der auf ganzer Linie überraschte. Es war 2013,
beim jährlichen Fachübungsleiter-Symposium des Alpenvereins
München & Oberland, das Thema mutete zunächst eher trocken an:
„Konflikte – Erfolgreich Gruppen leiten mit themenzentrierter Interaktion“.
Aber dann: Auf dem Podium zeigte Manfred Huber, Dozent
vom Institut Gauting, alte Spielfilmausschnitte in Schwarz-Weiß
und setzte sie dann in einem großen Wurf in den Kontext zu Gruppendynamik,
Persönlichkeitsentwicklung und zur „Heldenreise“ als
Schema menschlicher Erfahrung. Luis Trenkers Liebesbriefe aus dem
Engadin von 1938 als Vorlage für modernes Konfliktmanagement?
Film ab: Ein Zug rauscht durch ein tief verschneites Tal.
Schnitt. Im Inneren des Waggons sitzt ein mondänes Stadtmädel in
weichen Kissen. Schnitt. Oberhalb tobt ein wildes Abfahrtsrennen,
auf meterlangen Holzlatten über die unverspurten Steilhänge. Stürze
im Schnee. Eine Raserei in Weiß. Doch immer wieder entkommt
der schneidige Toni Anewanter (Luis Trenker) seinen Verfolgern.
Er will, er muss den Zug erreichen, in welchem sein Gspusi gerade
davonflitzt. Dann bricht ein Ski entzwei, jetzt hängt der Toni fest.
Rafft sich auf. Klaut einen Ski, irgendwoher – weiter geht’s. Hinauf
und hinab. Hin und her. Fast zehn Filmminuten dauert die Hatz
über die Hänge, ein bis heute gern wiederholtes Motiv des Bergfilms
(James Bond!). Und doch stecke in diesen Szenen weit mehr, erklärte
Huber dann. Die Zugfahrt im Tal im Schnitt gegen die gleißenden
Gipfel: der Kontrast von Stadt und Natur. Oben die lebendige Jagd in
einer fremden Bergwelt voller Abenteuer: die Welt der Freiheit, die
neue Welt. Unten im Tal die Zivilisation, in der es routiniert wie auf
Schienen läuft, eine industrialisierte Komfortzone – schon damals.
Die urbane Welt: Im Bergfilm ist sie die Welt des Mangels und des
Unglücklichseins. Grund genug für Sinnsuche und Aufbruch ins
Ungewisse: So beschreibt es Mythenforscher Joseph Campbell (1904
bis 1987) in seinem 1949 erschienenen Buch „Der Heros in tausend
Gestalten“. Er skizziert die ewige Suche des Menschen nach Erfolg,
Glück und Veränderung, mit allen Irrungen und Wirrungen auf dem
Weg zum Ziel. Es ist das Prinzip der Heldenreise. Auch genannt:
„The Quest“. „Gemäß Campbell ist die Heldenreise
ein uraltes Erzählprinzip, ein Destillat, das
auf psychologischen menschlichen Erfahrungen
beruht“, sagte Manfred Huber. Beeinflusst
von der Tiefenpsychologie und
von C. G. Jung gliederte Campbell das Schema
für diesen Weg der Wandlung in zwölf
Stationen. Ein Schema, das in gestraffter
und reduzierter Form auch für Film-Drehbücher
gilt: Ein Protagonist („Held“) macht
sich auf, ein Ziel zu erreichen. Er kommt voran,
trifft Helfer und Mentoren, Gegner und
Widerstände. Er erlebt Wendungen, Krisen,
Schmerzen, Verluste, Konflikte, dann den
Punkt, der eine Umkehr unmöglich macht –
bis schließlich der Gipfel erreicht, die Rückkehr
ins Tal geglückt, die Trophäe, der Gral,
das Elixier, die Weltformel, das Allheilmittel
errungen, die Frau/der Mann des Lebens
gefunden oder das Böse besiegt ist.
Die Zyklen der Heldenreise finden
sich in der Bibel oder in Sagen der Antike,
in Shakespeares Dramen, Grimms Märchen
und in Hollywood-Blockbustern wie Matrix,
Star Wars, Pretty Woman, Titanic, Herr der
Ringe oder Harry Potter. Ein und dasselbe
Erzählschema für Filme ganz unterschiedlicher
Couleur? Das funktioniert. Im wahren
Leben kann schon eine einzelne Bergtour
zur Heldenreise werden, ein Kletterkurs
oder eine Ausbildung zum Fachübungsleiter.
Der erste Achttausender. Oder alle
vierzehn? Zurück zum Film. In Liebesbriefe aus dem
Engadin führte Trenker Regie, schrieb das
Drehbuch, spielte den Protagonisten. Gelernt
hat er zuvor bei Altmeister Arnold
Fanck, dem Bergfilmpionier schlechthin.
Schon 1931 hatte Fanck in Der weiße
Rausch – neue Wunder des Schneeschuhs ein
Verfolgungsrennen seiner Hauptdarsteller
Hannes Schneider, Guzzi Lantschner – und
Leni Riefenstahl als „Schibaby“ – inszeniert.
Der Geologe Fanck (1889 bis 1974) gilt
als Erfinder des Bergfilm-Genres. Er hatte
früh erkannt, dass es nicht genügt, Berge
dokumentarisch abzufilmen, um die Massen
ins Kino zu holen. Also entwickelte er
eine Spielhandlung und setzte den Menschen
als „Bezwinger“ in ein Spannungsverhältnis
zum Berg, oft unter Einsatz von
Lebensgefahr – das galt für den Film-Plot
ebenso wie für die Dreharbeiten vor Ort.
So gelang beides: monumentale Gipfel auf
Zelluloid zu bannen – und die Zuschauer
durch ein emotionales Narrativ. Dabei griff
er durchaus auf romantisierende Veduten
im Sinne von Caspar David Friedrich zurück,
aber auch auf moderne Technik. Mit
Kameramann Sepp Allgeier (1895 bis 1968)
setzte Fanck Filmtechniken wie die „entfesselte
Kamera“ ein, um die Schwenks dynamischer
zu gestalten, und gründete eine
eigene Produktionsgesellschaft namens
Berg- und Sport-Film GmbH. Um diese herum
entstand die Freiburger Schule, deren
Kameramänner sich für damalige „Extremsportarten“
wie Skilaufen, Skispringen und
Bergsteigen begeisterten. Dafür schleppte
Allgeier seine Zehn-Kilo-Kamera auf den
Berg und ließ sie auch mal von Lawinen
überrollen.
Die Berge selbst boten ein reiches Inventar
für gute Geschichten und imposante
„Berghelden“: für äußere Kämpfe gegen
Schneesturm, Lawinen, Gletscherspalten,
Verletzungen, große Kälte oder Konkurrenten.
Oder für die noch größeren inneren
Kämpfe – wie Verbote, Ängste, Konflikte. Bei
Fanck häufig zentral: der Konflikt Mensch
gegen Berg. So müssen sich in Im Kampf mit
dem Berge (1921) Hannes Schneider und Ilse
Rohde durch spaltenreiche Gletscher den Liskamm hinauf- und wieder hinunterarbeiten. 1923 folgte der Stummfilm Berg des Schicksals, für Luis Trenker die erste Hauptrolle
überhaupt. Der muss hier ein No-Mountains!-Versprechen brechen,
um eine Jugendfreundin zu retten. In Berlin sieht die 21-jährige
Leni Riefenstahl (1902 bis 2003) den Film und bewegt Fanck dazu,
eine Rolle für sie zu schreiben: 1926 spielt sie in Der heilige Berg die
Tänzerin Diotima, eine Frau zwischen zwei Männern. Eine Konstellation,
die sich wiederholt, vor der Kamera und auch dahinter.
Für die beiden Berghelden, gespielt von Luis Trenker und Ernst
Petersen, geht das im Film nicht gut aus. Auch in Fancks erstem
Tonfilm von 1928, Stürme über dem Mont Blanc, wirken die bewährten
Zutaten: die Bergwelt als Akteur, Pathos und Mystik, eine Verfolgungsjagd,
eine Frau zwischen zwei Männern und der Berg, der
Prüfungen in Form von Unwettern schickt. Im selben Jahr erscheint
Fancks wohl packendster Film, Die weiße Hölle vom Piz Palü. Beim
Dreh lässt Fanck eine Schneewand oberhalb von Leni Riefenstahl
absprengen, um Dramatik zu erzielen. Wieder setzt er seine Darsteller
hohen Gefahren aus. Der Protagonist muss leiden, so lautet eine
Drehbuch-Regel gemäß Heldenreise. Im Film versucht Dr. Johannes
Krafft (Gustav Diessl) immer wieder, die Nordwand des Piz Palü zu
besteigen, wo seine Frau einst in einer Spalte starb. Dabei trifft er
auf ein junges Paar mit demselben Ziel, so entsteht eine Schicksalsgemeinschaft,
in der Riefenstahl – genau! – einmal mehr zwischen
zwei Männern steht. Stürme, Steinschlag und Lawinen beschleunigen
Handlung und Dramatik. Krafft findet schließlich Erlösung und
Katharsis, indem er das Paar quasi als Kompensation retten kann,
während er sich selbst opfert und am Berg erfriert – in der Nähe
seiner toten Frau. Im Tode vereint. Fanck habe, heißt es später, mit
seinen Heldenepen der Weimarer Republik einer durch den Ersten
Weltkrieg gedemütigten Nation neuen Aufwind verschafft. Trio infernale: Fanck, Trenker, Riefenstahl
Apropos Politik: Der frühe deutsche Bergfilm war stets politischer
Instrumentalisierung ausgesetzt. 1932 entsteht der in Südtirol angesiedelte
Film Der Rebell, dem Leben von Nationalheld Andreas
Hofer nachempfunden. Drehbuch, Regie, Hauptdarsteller: Luis
Trenker. Hitler soll den Streifen mehrmals gesehen und wegen
der nationalen Gesinnung hoch gelobt haben, Goebbels erhob den
Film zum „Vorbild“. Im gleichen Jahr bringt Riefenstahl als Variation
eines Urmythos Das blaue Licht heraus und gibt das als Regiedebüt
aus. Doch verantwortlich für die Regie ist Béla Balázs, den
sie nachträglich um Honorar und Anerkennung bringt. Von Fanck
hat Riefenstahl in Sachen Körperkult, Heroisierung und Glorifizierung
der Protagonisten dazugelernt, Anhänger der faschistischen
Ideologie ist Fanck jedoch nicht. Mit Der Berg ruft (1938) zementiert
Luis Trenker sein Image vom heimatduseligen Naturburschen für
alle Zeiten. Doch während sich Trenker 1940 der NSDAP anschließt,
tut Riefenstahl das nicht und reüssiert trotzdem beruflich. Fanck
wiederum hatte sich früh von der NSDAP distanziert und fällt daraufhin
in Ungnade. Als er 1940 doch noch beitritt, im Versuch einer
späten Anbiederung, ist es zu spät. Hitler propagiert Riefenstahl,
Goebbels fördert Trenker. Fanck, der den Berg für die Massen erschlossen,
das Skilaufen populär und eine ganze Industrie angeregt
hat, stirbt verarmt. An ihm orientieren sich zahllose Filmemacher
bis heute, darunter Willy Bogner (Fire & Ice), Leo Dickinson und
Reinhold Messner.
Als Reaktion auf die Traumata des Zweiten Weltkriegs entsteht
in den Nachkriegsjahren bis ca. 1960 der Heimatfilm mit rund 300
deutschsprachigen Produktionen. Was diese verbindet: Berge sind
hier nicht mehr Bedrohung, sondern heile Welt und Sehnsuchtsort.
Eine einfache Welt, in der das Traditionelle häufig klischeehaft
und heimattümelnd stilisiert wird, oft mit seichter Spielhandlung.
Es geht um das Wildern oder den Erbstreit, das Gute und das Böse
werden scherenschnittartig getrennt. Manche Streifen kommen
als romantisierendes Rührstück daher, darunter Verfilmungen von
Ludwig-Ganghofer-Romanen, z. B. Das Schweigen im Walde, eine
Romanze zwischen der blonden Sennerin Lore (Belinda Mayne) und
dem schnöseligen Graf Ettingen (Alexander Stephan), der prompt
eine Wandlung (Heldenreise!) durchmacht hin zum geläuterten
Waldbesitzer – gedreht im Berchtesgadener Land. Und wer erinnert
sich noch an den schlimmen „Huisentoni“ (Siegfried Rauch)
aus Der Jäger von Fall (1974)? Ähnlich trivial geht es in Der Förster
vom Silberwald mit Rudolf Lenz zu (Österreich, 1954), mit rund 28
Millionen Kinobesuchern ein Klassiker und Kassenschlager des
Heimatfilms, in dem die Kritiker „eine durchschnittliche Schnulze
mit stereotyper, konventioneller Handlung“ sahen. Anders als
bei Fanck, wo der Berg als Akteur dem Menschen seine harschen
Gesetzmäßigkeiten aufzwingt, ist der Blickwinkel im Heimatfilm
touristisch, der Berg eine passiv-liebliche Kulisse – aber auch hier
schon ein mitunter gefährdetes Stück Natur.
(etc)
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