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Ewiges Eis : Wir sind alle geborene Entdecker

Die meisten Menschen unterschätzen sich: Erling Kagge unterwegs zum Nordpol.

Das Schwierigste ist für ihn das Ankommen, das unterscheidet den Entdecker vom Sportler: Der Norweger Erling Kagge hat alle Pole bereist. Was treibt einen Abenteurer wie ihn an?


Neuland entdecken, das ist die Konstante im Leben von Erling Kagge, darin ist er gut. Ebenso darin, zu zeigen, dass die Welt da draußen längst nicht so bekannt, vermessen und erobert ist, wie es scheint. Und erst recht nicht die Welt innen drin. „Es geht darum, herauszufinden, wer man ist und was man kann, physisch oder mental", sagt er. „Wir alle sind geborene Entdecker - ich bin also ganz normal. Wer Zweijährige beobachtet, sieht schnell, dass sie eher zu klettern beginnen als zu laufen. Sie schauen erst um die Ecke, dann hinters Haus. Dann hinter den Horizont. So ticken wir alle!"

Kagge ist Jahrgang 1963, geboren in Oslo. Das Outdoor-Gen schien ihm anfangs nicht in die Wiege gelegt. Kagge entstammt einer Familie von Intellektuellen, der Vater ist Jazzjournalist, die Mutter Verlagsdirektorin. Die Familie geht auf Tagestouren, wie fast alle Norweger. Das Friluftsliv ist eine norwegische Erfindung: respektvoll in und mit der Natur im Freien zu leben, das ganze Jahr über, das ist hier mehr als ein Freizeitsport - es ist ein Lebensstil und sogar ein Studierfach, in dem man promovieren kann. Als Kind liest Kagge Bücher des norwegischen Forschungsreisenden Thor Heyerdahl. Beides, die Bücher und das Reisen, werden sein Leben bestimmen. Ebenso das Entdecken und das Verschieben eigener Grenzen. „Heyerdahl hatte tiefe Angst vor dem Wasser, weil er als Kind zweimal fast ertrunken wäre. Trotzdem träumte er davon, auf einem Floß den Pazifik zu überqueren", erzählt Kagge. Mit zwanzig Jahren segelt der Jurastudent in einem kleinen Boot über den Atlantik, zwei Jahre später in der Gegenrichtung - auf einem Schiff ohne Motor, Kühlschrank, Ofen oder funktionierende Toilette. „Diese Einfachheit habe ich geliebt, das Klarkommen mit dem Allernötigsten", sagt er. Er segelt von der Antarktis zu den Bermuda-Inseln, zu den Galapagos-Inseln und umschifft Kap Hoorn. „Es ist die Schönheit der Natur, die einen immer weitertreibt", sagt er.

Zurück in der Heimat, schließt er 1989 das Jurastudium an der Universität Oslo ab. Seit dem Segeltrip in die Antarktis träumt er davon, in die polaren Regionen zurückzukehren. Das neue Ziel ist der Nordpol. Er verlegt sich vom flüssigen auf das feste Element, das Eis. Mit zwei Freunden startet er im März 1990 auf Skiern von Ellesmere Island, Kanada, in Richtung Norden.

58 Tage und achthundert Kilometer später erreicht die Expedition den nördlichsten Punkt, mit reiner Muskelkraft, das Gepäck ziehen sie in Pulkas mit - bei Temperaturen um minus fünfzig Grad. Der Trick dabei? „Du musst perfekt vorbereitet sein!", sagt Kagge. Über die Expedition schreibt er später: „Über See-Eis zu laufen fühlt sich an wie auf einem Wasserbett. Salzwassereis ist viel elastischer - es schwingt mit." An guten Tagen schaffen sie dreißig Kilometer, an schlechten zwölf. Nachts treiben sie Meilen vom Kurs ab. Als sie glauben, die Reviere der Eisbären längst hinter sich zu haben, passiert es: Nur zwanzig Meter entfernt steht ein Polarbär, senkt den Kopf, pirscht heran. Sie ziehen die Waffen. „Um gut treffen zu können, muss der Bär ganz nah kommen. Das wiederum bedeutet: Der erste Schuss muss perfekt sitzen." Kagge und sein Kamerad Børge Ousland feuern. Einer der Schüsse trifft. Die Reise geht weiter. Knapp drei Jahre später zieht Kagge wieder los, diesmal zum Südpol, diesmal allein, ohne jede Unterstützung und Kommunikation nach außen. Weil sein Sponsor ihn zum Mitnehmen eines Funkgeräts verpflichtet hat, willigt er pro forma ein, wirft aber die Batterien weg. Er will die Tour restlos auf sich gestellt erleben, ohne Hintertürchen oder Kontakt zur Zivilisation. Er schafft es. Er geht die 1340 Kilometer in 52 Tagen - und landet mit dieser Aktion im März 1993 auf dem Cover des „Time Magazine". „Allein zu gehen ist eine absolut andere Erfahrung. Ich bin gerne autark unterwegs. Auf dem Weg zum Südpol war ich völlig isoliert und habe mehr als fünfzig Tage und Nächte kein Wort gesprochen. Ich hab nicht viel vermisst. Ich wusste auch nicht, ob es vierzig oder siebzig Tage dauern wird, denn das hat nie vorher jemand gemacht. Mein täglicher Job war, ein Bein vors andere zu setzen, immer wieder - du gehst und gehst. Mit den Wochen gehst du in der Natur auf. Und siehst plötzlich Details. Anfangs schien der Schnee einfach weiß. Später entdeckst du plötzlich Unterschiede, hier etwas blauer, da etwas gelber, grüner, sogar pinkfarbener Schnee. Das Weiß hat viele Schattierungen. Du wirst ein Teil der Natur, ganz existentiell gesehen." Immer wieder wird er gefragt, was das Schwierigste gewesen sei auf der Tour zum Südpol. „Es war das Ankommen. Ein Entdecker will vor allem unterwegs sein, nicht den geographischen Punkt erreichen."

In Oslo arbeitet Kagge als Anwalt. Daneben plant er den großen Coup: Mit dem Mount Everest, auch dritter Pol der Erde genannt, hätte er als Erster die Drei-Pole-Challenge im Rucksack, eine der schwierigsten Herausforderungen jener Zeit. Mit den Bergsteigern Rob Hall und Scott Fischer macht Kagge sich an das Wagnis, zwei Jahre bevor Hall und Fischer beim Everest-Unglück im Mai 1996 umkommen. Auch diese Expedition gelingt: 1994 steht Kagge auf dem Gipfel, wieder ohne Fremdhilfe. „Diesen Berg zu besteigen, das hieß für mich, meine Schwächen zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen. Es war phantastisch, oben zu stehen. Gleichzeitig fragte ich mich: Wie zur Hölle komme ich hier runter?"

Dass es nicht die pure Schönheit der Natur war, die ihn auf den höchsten Berg des Planeten trieb, gibt er zu. „Klar, der Everest ist eine Trophäe, auch wenn manche gern andere Gründe vorschieben, die Rettung der Umwelt oder so. Auf diesen Berg geht man vor allem für sich selbst, erst dann für andere Ziele. Aber es freut mich, wenn ich andere motivieren kann. Dazu, sich eigene Ziele zu setzen und diese zu erreichen. Jeder kann seinen Südpol finden!" Das ist so etwas wie sein Lebensmotto: „Ich finde, man sollte dort über den Zaun springen, wo er am höchsten ist. Wo es am schwierigsten ist und wo es wirklich eine Herausforderung bedeutet." Mit 32 Jahren hat es Kagge geschafft, als erster Mensch auf den drei Polen gewesen zu sein. Und nun? „Expeditionen wie diese bringen viel Aufwand mit. Ich brauchte eine Pause." Nach den Ausflügen an die entferntesten Punkte der Erde geht Kagge jetzt in die Gegenrichtung - ganz nach innen. Er nimmt sich ein Sabbatical und studiert drei Semester Philosophie. „Ich wollte mehr über mich und die Welt herausfinden. Vor allem über mich." Sein Favorit ist der niederländische Philosoph Spinoza - „weil er am schwierigsten zu verstehen ist. Als ich ihn ein zweites Mal las, habe ich noch weniger kapiert als beim ersten Mal. Aber ich mag auch Heidegger und Wittgenstein und ihre Texte über die Stille." Nebenbei hat er längst eine weitere Terra incognita für sich entdeckt, wieder einmal unwägbares, schwieriges Neuland: Er sammelt moderne Kunst, Avantgarde und Konzeptkunst. Warum gerade das? Was für eine Frage! „Weil es das schwierigste Gebiet innerhalb der Kunst ist, viel schwerer als Alte Meister", sagt er. Etwa sechshundert bis siebenhundert Werke besitzt er inzwischen, seine Sammlung gehört zu den größten Skandinaviens. Unbeeindruckt vom Snobismus des Kunstbetriebs, kauft Kagge, was ihm gefällt - oder mal gefallen könnte: „Man muss dem eigenen Geschmack immer voraus sein." Um den hochdynamischen Kunstmarkt zu überblicken, braucht es Neugier, Instinkt, Passion und Ausdauer - Eigenschaften, die Kagge als Extremsportler lange trainierte. Berauscht von sich selbst ist er dabei nicht. „Ich wach ja nicht morgens auf und fühl mich wie ein großer Kunstsammler. Ich mach mir einfach Frühstück, dasselbe wie auf dem Eis."

1996 gründet er in Oslo seinen Verlag namens Kagge Forlag, heute einer der führenden des Landes. Bis zu sechzig Bücher erscheinen pro Jahr: Krimis, Romane, Dokumentationen und Biographien. Er verfasst selbst sechs Bände, zum Beispiel ein Handbuch über „Friluftsliv" und ein Kochbuch für Campingkocher. Und macht sich parallel dazu auf die Reise zum vierten Pol, wie er sagt - der Vaterschaft: „Kinder zu haben ist eine lebenslange Herausforderung."

Ende Gelände also mit Expeditionen? Nein, denn zwischen den extremsten Orten der Erde liegt noch viel Neuland. 2010 geht er in den Untergrund. Fünf Tage lang durchquert er die Kanalisation von Manhattan, von der Bronx nach Queens, schläft in Schächten, watet mit Stirnlampe durch die Kloake, kriecht auf Händen und Füßen vorwärts. Erlebt den Big Apple von unten wie nie jemand zuvor. Es ist eine Reise durch den Verdauungstrakt eines Molochs, durch eine menschengemachte Wildnis, durch das kollektive Unterbewusstsein der Hauptstadt der Welt. „Ich habe dort eine Art negative Schönheit entdeckt", sagt er. „Dort unten ist es vor allem braun, laut, tot, und es riecht schlecht, nichts ist hergerichtet oder hübsch gemacht. Auch das hat seine Ästhetik, im umgedrehten Sinne." Es ist eine gefährliche Welt, mit plötzlich ansteigenden Fluten und explosiven Gasen. Im Herbst 2015 erschien sein Buch „Under Manhattan". Was sein Motor ist, der Antrieb für all die Expeditionen? „All das ist nicht rational. Es ist absurd. Ich verliebe mich in eine Idee, bereite sie gut vor. Und dann mach ich's einfach. Alle Entdecker haben etwas gemeinsam: dass sie im Grunde nicht erklären können, warum sie tun, was sie tun. Die Dinge in sinnvoll oder sinnlos einzuteilen ist langweilig. So betrachtet, wäre alles ziemlich nutzlos. Man muss an etwas glauben, seine Potentiale ausschöpfen, das ist wirklich wichtig. Dass das nicht schmerzfrei passiert, ist klar. Ich glaube, dass man auf schwierigen Pfaden viel mehr gewinnt als auf dem Weg des geringsten Widerstandes. Die meisten Menschen unterschätzen sich. Und: Ich hab all diese Expeditionen für mich selbst gemacht, nicht für die Leute."

Trotzdem kennen ihn die Menschen, hier in Oslo, in ganz Norwegen, sogar weltweit. Auf Partys sieht man ihn eher selten. Seine Landsleute schätzen, dass er bescheiden geblieben ist, janteloven also, wobei dieser Begriff in der norwegischen Sprache so viele Nuancen hat wie die Schattierungen des Schnees. Vaaghals nennen ihn die einen, Waghals, einen Wagemutigen. Ildsjel wiederum andere, eine Feuerseele. „Ja, zum Büchermachen brauchst du ildsjel, eine Art Begeisterung oder Herzblut, du musst deine Arbeit und deine Aufgabe lieben, dafür leben, auch wenn sie nicht gut bezahlt ist."

Was als Nächstes kommt? Aktuell schreibt Erling Kagge ein neues Buch, ein Plädoyer für die Stille. „Die Stille ist kein Nichts. Die Stille hat Qualität. Sie ist etwas Seltenes, ein Luxus, etwas, das dich auf neue Gedanken bringt. Stille kann dein bester Freund sein. Stille ist im Grunde nur eine Idee, nichts Physisches, sie existiert eigentlich gar nicht. Sogar wenn du den Atem anhältst, hörst du zumindest dein Blut rauschen." Es klingt schlicht, wenn Kagge das sagt, auch wenn in seinen Worten der Weitwanderer, der Philosoph, der Entdecker, der Intellektuelle durchschimmern. „Egal ob du läufst, kletterst, Philosophie studierst oder Kunst sammelst - Gefahr ist immer dabei. Doch je besser du dich vorbereitest, desto weniger begegnest du der Gefahr. Wir alle haben Ideen und Pläne. Man muss es einfach tun!"


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