Manchmal, sagt Omar Mansoor in Eisenhüttenstadt, wäre es einfacher gewesen, aufzugeben. Er schiebt seine dicke Brille über die Nasenhöcker und blickt auf. "Wie konnte ich die Geduld haben, so lange in Griechenland zu bleiben?" Der 29-jährige Sudanese kann sich nicht mehr genau erinnern, wir lange er in einem Zelt im Lager von Moria lebte, Monate müssten es gewesen sein, sagt er. Laut seinem Asylbescheid waren es knapp zwei Jahre. "Jeder Tag war eine Qual", sagt Mansoor und seine Worte hallen leise in den Ecken des fast leeren Gemeindezimmers nach. Dann lächelt er - wie so oft, wenn seine Gedanken drohen, in eine Sackgasse zu laufen.
Es ist ein regnerischer Sommertag in Eisenhüttenstadt, der alten Planstadt in Brandenburg, die noch bis in die Sechzigerjahre Stalinstadt hieß. Zwei Zugstunden von Berlin entfernt, am Stadtbahnhof neben dem spitztürmigen Bahnhofshäuschen steht auf einer Wand: "Ich bin kein Rassist, ich hasse euch alle." Es ist der Refrain aus dem Lied Dagegen der Rechtsrock-Band Bierpatrioten, die es nicht mehr gibt.
Als Mansoor im April zum ersten Mal in die Erstaufnahmestelle nach Eisenhüttenstadt fuhr, sah er solche Dinge gar nicht. Nach drei Tagen in einer kalten Bushaltestelle in Berlin, nach sieben Monaten in den Straßen von Thessaloniki und nach zwei Jahren auf dem Zeltboden im Fluchtlager Moria war er nur froh, endlich in ein Bett fallen zu können.
Mansoor hat vor drei Jahren Folter im überlebt, er gehört zu einer politisch verfolgten Minderheit. Er konnte entkommen, floh zunächst nach Ägypten, dann in die Türkei und setzte von dort im Sommer 2018 mit einem Schlauchboot auf die griechische Insel Lesbos über. Heute, drei Jahre später, ist Mansoor in Brandenburg angekommen. Aber ob er nun in Deutschland Schutz finden kann, ist ungewiss.
Nicht nach Griechenland rückführbar
Mansoor ist einer von mehr 17.000 Geflüchteten, die seit vergangenem Juli beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) einen Asylantrag gestellt haben, obwohl sie in Griechenland bereits einen positiven Asylbescheid erhalten hatten. Allein von Anfang Mai bis Ende Juni dieses Jahres sind laut Bamf knapp 4.000 Geflüchtete hinzugekommen, die bereits in Griechenland anerkannt waren. Damit ist Griechenland im Moment das Land in Europa, aus dem die meisten Geflüchteten in Deutschland erneut um Asyl bitten.
Eigentlich besteht laut der Dublin-Verordnung keine Möglichkeit, innerhalb der EU zum zweiten Mal zu beantragen, wenn der Schutzstatus in einem anderen EU-Land anerkannt wurde. Doch die deutschen Behörden stehen vor einem Dilemma, denn sie können diese Menschen nicht einfach wieder nach Griechenland schicken. Grund ist ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen. Das Gericht lehnte im Januar eine Rückführung nach Griechenland ab, da den Geflüchteten dort "die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung" drohe.
Ein Sommerkinderzelt
Auch Mansoor blieb trotz anerkanntem Asylstatus nicht in Griechenland und machte sich abermals auf den Weg in die Unsicherheit. An vieles aus seiner Zeit in Griechenland kann er sich nicht mehr erinnern, aber die erste Nacht dort steht ihm noch vor Augen. Als er vom Schlauchboot kam, konnte er sich kaum auf den Beinen halten, erzählt er. Die Wunden an seinen Oberschenkeln brannten, auch die Risse auf seinem Rücken. Infolge der Folter, vor der er nur wenige Wochen zuvor aus einem Gefängnis im Sudan geflohen war, knickten seine Knie immer wieder weg.
Eigentlich hätte er einen Rollstuhl und sofortige medizinische Betreuung gebraucht. Aber stattdessen drückte ihm ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation am Eingang von Moria ein Kindersommerzelt in die Hände. Etwa einen Meter war es lang, sagt Mansoor. Kurz darauf stand er in einem Olivenhain, ohne Schaufel oder Schnüre, um das Zelt aufzubauen.
Kein Platz für SchutzbedürftigeZwei Jahre später war er noch immer dort. Im selben zu kleinen Zelt, am äußersten Rand des Geländes. Weil er nicht gut gehen konnte, brauchte er jedes Mal zwei bis drei Stunden allein zum Duschen: Hinweg, Schlange stehen, Rückweg. Um Essen zu bekommen, gab er seine Marken den irakischen Zeltnachbarn mit, die manchmal schon im Morgengrauen für eine Flasche Wasser und ein eingepacktes Croissant anstanden. Immer wieder wurde Mansoor ohnmächtig, konnte nicht weitergehen oder lag tagelang regungslos in seinem Zelt. Brach eine Schlägerei in der Nähe seines Zeltes aus, erzählt er, stellten sich die Nachbarn schützend vor seinen Eingang.
Zu einer Physiotherapie, die seine Beine dringend gebraucht hätten, konnte er auf der Insel nicht. Auch für seine Augen bekam er keine Behandlung, seine Sehkraft wurde immer schwächer. Heute ist Mansoor fast erblindet. Erst vor wenigen Wochen bekam er in Eisenhüttenstadt durch den Einsatz einer zivilgesellschaftlichen Organisation eine Brille mit 14 Dioptrien. Damit versucht er weiterzulesen und herauszufinden, was er gegen den Sehverlust tun kann.
Im Frühling letzten Jahres brach zum wiederholten Male Feuer in Moria aus. Mansoor hatte kurz zuvor eine Antwort der Behörden bekommen: anerkannter Schutzstatus. So war es auch der irakischen Familie im Nachbarzelt ergangen. Es war die Erlaubnis, die Insel zu verlassen. An diesem Tag schulterte der irakische Familienvater auch Mansoors kleine Reisetasche, gemeinsam verließen sie das schlammige Gelände, die Familie besorgte Fährtickets. "Ohne sie wäre ich heute nicht hier", betont Mansoor.