Das Leben nach dem Überleben
Der Charlie-Hebdo-Journalist Philippe Lançon überlebte den Anschlag nur knapp. Nun erinnert er sich
Philippe Lançon hat einiges hinter sich. 282 Tage in fünf
Krankenhauszimmern. 17 Operationen durch seine Chirurgin Chloé.
Vermutlich lebenslange Panikattacken.
Philippe Lançon ist ein Terroropfer. Und erfahrener Journalist. Bevor
sein Leben innerhalb weniger Minuten aus den Fugen geriet, arbeitete er
als Literaturkritiker und Kolumnist für die französische Tageszeitung
Libération und für die satirische Wochenzeitschrift Charlie Hebdo. Am 7.
Jänner 2015 saß er in der Redaktionskonferenz, als die beiden Brüder
Chérif und Saïd Kouachi die Redaktion stürmten und auf jeden schossen,
den sie vorfanden.
Lançon überlebte schwer verletzt. Das untere Drittel seines Gesichts
wurde durch einen Treffer entstellt, was ihn zu einer jahrelangen
Rehabilitation zwang. In seinem als Roman untertitelten Buch „Der
Fetzen“ beschreibt er in brillanter Prosa sein Leben vor und nach dem
Attentat. Es ist ein intensiver, ein berührender und aufrichtiger Text,
der sich viel Zeit für die Schilderung des Anschlags und die belastende
Zeit der Genesung nimmt.
Vor dem schicksalhaften Vormittag sieht es gerade ziemlich rosig aus im
Leben des Best Ager. Er hat eine spannende journalistische Karriere
hinter sich, die ihn seit 30 Jahren erfüllt. Gerade hat er eine
Einladung erhalten, um an der Eliteuniversität Princeton ein Seminar
über lateinamerikanische Literatur zu halten. Er freut sich auf die
Aussicht, die nächsten Monate mit seiner Freundin in New York zu
verbringen.
Am Abend des 6. Jänner 2015 geht er mit einer Bekannten ins Theater, er
sieht Shakespeares „Was ihr wollt“. Am 7. Jänner verfolgt er in der Früh
ein Radiointerview mit Michel Houellebecq anlässlich des Erscheinens
von dessen umstrittenen Roman „Unterwerfung“. Darin wird eine düstere,
nahe Zukunft ausgemalt, in der sich die französische Wählerschaft vor
die Entscheidung gestellt sieht, rechtsextrem oder einen gemäßigt
auftretenden Muslim zu wählen, der nach seiner Wahl zum Präsidenten ein
islamistisches Regime installiert. Lançon hat den Roman bereits vor dem
Erscheinen gelesen und für die Libération rezensiert, er will
Houellebecq in wenigen Tagen zum Interview treffen. Doch dazu wird es
nicht mehr kommen. In seinem langsamen Herantasten an das Geschehen
spart Lançon nicht mit Vorwegnahmen und Parallelisierungen.
„Die Mörder trafen also ihre Vorbereitungen, während er (Houellebecq)
mit scheinbar schläfriger Stimme über die Republik und den Islam
dozierte. Sie überprüften ihre Waffen, während er in gedämpftem Tonfall
seine Provokationen nuschelte. Zwei Stunden später sollte seine Fiktion
von dem Auswuchs eines von ihr beschworenen Phänomens eingeholt werden.
Die Entwicklung der Krankheiten, die man diagnostiziert, auslöst oder
wachhält, lässt sich nie kontrollieren. Die Welt, in der Houellebecq
lebte, hatte noch mehr Fantasie als die, die er beschrieb.“
Es ist ein seltsamer Text, den Lançon hier auf über 500 Seiten
ausbreitet. Die Geschichte ist natürlich außergewöhnlich und
erzählenswert. Der Entschluss, den Bericht mit allerhand Abschweifungen
über geführte Interviews, Reportererlebnisse, Lektüren und verflossene
Beziehungen anzureichern und sie auf diese Weise ins Literarische zu
hieven, ist freilich missglückt. An keiner Stelle wird „Der Fetzen“ zum
Roman, nirgends findet eine Perspektivierung statt, die die referierten
Begebenheiten transzendieren würde. Sieht man davon ab, bleibt
nichtsdestotrotz ein Text, der die Lektüre lohnt. Es sind die geschulten
Beobachtungen eines Mannes, der unverschuldet zum Opfer einer
gesellschaftlichen Dynamik wird, in der dessen relativ bequeme Position
ihn auf einmal zur Zielscheibe macht.
Philipp Lançon selbst hat, wie er schreibt, Charlie Hebdo bereits als
Heranwachsender gelesen. Als er Jahre später dort anheuert, beschreibt
er die Redakteure, die dort verblieben sind, als „Gruppe mehr oder
weniger enger Freunde in einer mittlerweile völlig ruinierten Zeitung,
die praktisch am Ende war. Wir wussten es, aber wir waren frei. Wir
waren da, um Spaß zu haben, uns anzuschnauzen und eine trostlose Welt
nicht ernst zu nehmen.“
Genau diese Haltung isolierte Charlie Hebdo auch innerhalb der Linken.
Bereits 2011 hatte Lançon miterlebt, dass ein Anschlag mit
Molotowcocktails auf die Redaktion verübt wurde. Sein Bericht darüber
bezeugt, was die zunehmende gesellschaftliche Spannung in Teilen des
liberalen Spektrums auslöst: Zweifel, Angst, ein Wegbrechen von
Gewissheiten.
Es ist die große persönliche Leistung Lançons, trotz seiner
traumatischen Erfahrungen nicht den Blick für diese Verhältnisse zu
verlieren: „Die extremste Form der Kritik konnten nur Unwissende oder
Ungebildete üben, das lag in der Natur der Dinge und entsprach exakt
dem, was gerade passiert war: Wir waren den effizientesten Zensoren zum
Opfer gefallen, denen, die alles ausradieren, ohne eine einzige Zeile
gelesen zu haben.“
Auf dem langen Weg zur Genesung erlebt Lançon unvorhergesehene
Bekundungen von Solidarität. Er zitiert viele E-Mails von Fremden, die
ihm geschrieben haben, um ihm von ihren eigenen Erfahrungen zu erzählen
und ihm Mut zuzusprechen. Darunter sind auch andere Anschlagsopfer. „Der
Fetzen“ erweist sich am Ende doch noch als ein Buch, das eine
geschickte Konstruktion aufweist.
Nach seinen endlosen Tagen in diversen Krankenzimmern kämpft sich der
Autor schreibend und reflektierend ins Leben zurück. Im November 2015
wird er von der University of Princeton zu einer Diskussion mit dem
Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa eingeladen. Ein Teil des guten
Lebens scheint zurückzukommen. Während seines USA-Aufenthalts ereignen
sich in Paris weitere Anschläge. Nur wenige Kilometer von der Charlie
Hebdo-Redaktion entfernt wird im Bataclan-Theater ein Massaker verübt.
Die Spirale der Gewalt dreht sich weiter, es ist kein Ende in Sicht.
Philippe Lançon schildert mit Verve und starken Formulierungen die
persönlichen und gesellschaftlichen Kosten des Terrors.
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