Sally Perel wurde 1925 in Peine als Sohn eines Rabbiners geboren. Als er zehn Jahre alt war, verwüsteten Nazis das Schuhgeschäft der Familie, die nach Polen floh. Nachdem die Wehrmacht 1939 in Polen einmarschiert war, schickten Sallys Eltern ihn Richtung Sowjetunion. Bei Minsk wurde Perel von deutschen Soldaten festgenommen. "Mir war klar, wenn ich die Wahrheit sage, werde ich erschossen", sagt Perel. Er gab sich als Volksdeutscher aus und nannte sich Josef Perjell. "Und ich weiß nicht wieso", sagt er heute, "aber der Soldat hat mir geglaubt. Allen anderen wurden die Hosen runtergezogen. Wer beschnitten war, wurde getötet." Er arbeitete danach zwei Jahre für die Wehrmacht, als Dolmetscher für die Deutschen. Sein Hauptmann wollte Perel adoptieren und schickte ihn 1943 auf eine Akademie der Hitlerjugend in Braunschweig: Als Hitlerjunge "Jupp" überlebte der Jude Salomon "Sally" Perel den Holocaust. Seine Geschichte wurde unter dem Titel "Ich war Hitlerjunge Salomon" veröffentlicht. Heute ist Perel 93, lebt in Israel und reist immer wieder nach Deutschland, um in Schulen junge Leute über die Nazi-Zeit aufzuklären.
SPIEGEL ONLINE: Herr Perel, fühlen Sie sich heute wohl, wenn Sie in Deutschland sind?
Perel: Ja, Deutschland blieb doch immer mein Mutterland, trotz Hitler, trotz Auschwitz. Hier bin ich geboren, hier habe ich die Kindheit erlebt. Ich komme gerne nach Deutschland, und mein Hauptinteresse sind bei diesen Besuchen die jungen Leute. An die wende ich mich mit meiner Geschichte.
SPIEGEL ONLINE: Verändern der Aufstieg der AfD und die fremdenfeindlichen Proteste etwas an Ihrem Deutschlandbild?
Perel: Im Gegenteil, das spornt mich an. Ich habe Ähnliches als Kind in der Weimarer Republik erlebt, und das fängt genauso wieder an. Da ich überlebt habe, habe ich mit meiner Geschichte und meinen Erfahrungen etwas beizutragen, das die Jugend vielleicht widerstandsfähiger macht gegen den aufkeimenden Neonazismus. Ich fühle mich wie ein Wächter, der warnt, wie gefährlich es ist, wenn man wieder gleichgültig bleibt. Man muss wachsam sein und etwas dagegen tun. Nicht mit Gewalt - ich glaube, mit Gewalt erreicht man immer das Gegenteil. Aber wenn die sagen, "Wir sind das Volk". Dann muss man sagen: "Nein. Wir sind das Volk".
SPIEGEL ONLINE: Sie ziehen Parallelen zwischen der Nazi-Zeit und der Situation heute.
Perel: Das hat ja damals auch so angefangen. Eine kleine Gruppe, die ersten Wahlen, die kriegen ein paar Prozent und dann wurde es immer mehr. Jetzt hat die AfD auch hier 13 Prozent. Und wenn ich sehe, was in Chemnitz geschieht, da muss man fragen: Deutschland, wohin geht das? Das hat dasselbe Potential. Dieses völkische Denken - damals waren es die Juden, heute geht es gegen alles, was nicht "deutsch" ist. Als ich damals in der Hitlerjugend war, wir wurden auch zum Hass erzogen. Alles, was nicht "deutsch" ist, fängst du an zu hassen. Uns wurde sogar verboten, uns auch nur in der Nähe von Ausländern aufzuhalten. Und wohin führte das? Deutschland lag in Trümmern. Ich habe ja selbst jahrelang diese Indoktrinierung mitgemacht.
SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie damit?
Perel: Sogar ich als Jude bin Opfer des völkischen Denkens geworden. Diese Ideologie war so überzeugend. Als ich damals in der Klasse mit den anderen Jugendlichen saß, fing ich an, daran zu glauben. Ich wurde mein Feind. Das hat sich so stark in meinem Unterbewusstsein verankert, dass ich es bis heute nicht loswerde. Ich reagiere manchmal als Nationalsozialist. Wenn in einem Film eine Hakenkreuzfahne erscheint und die Soldaten marschieren, da kommt bei mir - beim Hitlerjungen Jupp, der ich mal war - eine warme Nostalgie hoch. Ich marschiere mit. Und erst nachher kommt der Sally, der auch Teil von mir ist, und sagt: "Nein, da mache ich nicht mit."
SPIEGEL ONLINE: Sie besuchen häufig Schulen in Deutschland. Was sagen Sie den Kindern?
Perel: Das deutsche Schulwesen tut sehr viel. Da ist der Holocaust Thema, die Jugendlichen fahren nach Auschwitz und Dachau. Dadurch werden sie geimpft gegen den Einfluss der Neonazis. Manchmal kommen Schüler mit Tränen und bitten bei mir um Verzeihung. Da fange ich auch an zu weinen. Aber ich habe der deutschen Jugend nichts zu verzeihen. Schuld erbt man nicht. Ich will nicht Schuldgefühle wecken, sondern mit der Wahrheit den Verstand erleuchten.
SPIEGEL ONLINE: Was ist mit denen, die schon gegen Ausländer protestieren? Sollen wir auch mit denen reden?
Perel: Da hilft nur Aufklärung. Jedenfalls versuchen müssen wir das - durch Presse, Radio, Fernsehen. Die Demokratie ist ein sehr feines Gewebe, ohne Respekt und Toleranz zerbricht sie. Und das wollen wir in Deutschland nicht wieder. Aber irgendwie habe ich doch Zuversicht, dass die Demokratie hier stark genug ist, dass sie sich nicht durch den neuen Nazismus gefährden lässt.
SPIEGEL ONLINE: Teile der Bevölkerung in Deutschland vertrauen der Presse gar nicht mehr - wie soll da Aufklärung funktionieren?
Perel: Ja, das ist Faschismus, zumindest sein Anfang: Die freie Presse wird als Feind gesehen. Das war damals so. Und das wollen die auch heute wieder. In Amerika passiert das ebenso. Aber ich glaube, die Presse ist stark genug, um sich damit auseinanderzusetzen.
SPIEGEL ONLINE: Muss man den Rechtsruck nicht national, sondern global betrachten?
Perel: Ja, der ähnelt sich, auch hier in Israel findet er ja statt. Ich gehöre schon lange zur israelischen Friedensbewegung. Leider sind wir eine kleine Minderheit, aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass Palästinenser und Israelis gemeinsam den Weg finden werden. Und das bedeutet als Lösung: Zwei Länder für zwei Völker, ein palästinensischer Staat mit Ost- Jerusalem als Hauptstadt. Ohne das wird es keinen Frieden geben.
SPIEGEL ONLINE: Eine Lösung, die nicht unbedingt in greifbarer Nähe liegt.
Perel: Ich bin gegen die Besatzungsideologie in Israel. Ja: Durch den Siedlungsbau ist die Zwei-Staaten-Lösung kaum mehr realistisch, es gibt kaum freies Land, wo ein Palästinenserstaat entstehen könnte. Israel müsste also einen großen Preis zahlen mit der Räumung einiger Siedlungen - und manche Siedler sind sehr fanatisch und gut bewaffnet. Aber trotzdem hoffe ich, dass Palästinenser und Israelis einen Weg zum gerechten Frieden finden werden, gerecht für beide Seiten. Das ist für mich eine logische Folge meines Holocaust-Überlebens: die Achtung des Menschen als Mensch.