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Auf dem Schlachtfeld der Kreml-Propaganda

Das russische Massaker an ukrainischen Zivilisten in Butscha erschütterte 2022 die Welt. Die Propagandamedien des Kreml leugnen das Verbrechen bis heute – und deuten es um als Tat von Ukrainern an Ukrainern. © SOPA Images via ZUMA Press Wire

Der russische Krieg gegen die Ukraine wird auch in den Medien geführt. Mit Hetze und Desinformation kämpft das Putin-Regime gegen Feinde und die eigene Bevölkerung.

von Felix Schilk

Haben Sie schon einmal vom gekreuzigten Jungen aus Slowjansk gehört? Im Juli 2014 sendeten die Abendnachrichten des russischen Ersten Kanals ein Interview mit einer Frau aus der Ostukraine, die schilderte, wie ukrainische Soldaten einen dreijährigen Jungen gefoltert und rituell hingerichtet hätten. Zu dem Zeitpunkt waren ukrainische Kräfte gerade dabei, die Kontrolle über die Städte im Donbass zurückzugewinnen. Russland reagierte darauf nicht nur mit der Entsendung gepanzerter Fahrzeuge und dem Einsatz schwerer Artillerie, sondern auch mit einer Medienoffensive.

Die erfundene Geschichte war allerdings derart abstrus, dass sie sogar von kremlnahen Medien kritisiert wurde. Niemand in Slowjansk konnte die Berichte bestätigen, die angebliche Augenzeugin wurde später als russische Schauspielerin enttarnt. Dennoch verfestigte sich im Nachgang das von der staatlichen Propaganda gewünschte Bild, dass Russland der ostukrainischen Bevölkerung zu Hilfe eilen müsse. In Wirklichkeit floh der Großteil der Menschen vor der Willkür und Gewalt der von Russland initiierten Separatistenaufstände.

Von insgesamt 2,5 Millionen Flüchtlingen gingen anderthalb Millionen dauerhaft in die von der Ukraine kontrollierten Gebiete und eine Million nach Russland. In den drei Jahren unmittelbar vor der russischen Vollinvasion im Februar 2022 hatte sich die Lage allerdings weitgehend beruhigt. Laut Angaben der Vereinten Nationen kamen in dem Zeitraum insgesamt 78 Zivilisten ums Leben, die Hälfte davon durch Minen. Allein in den ersten Wochen der Vollinvasion tötete die russische Armee dann mehr Zivilisten als dort seit 2014 zu Tode gekommen waren.

Neben Schauergeschichten über die Situation in der Ostukraine gehört die Behauptung einer Bedrohung durch NATO und USA zu den Evergreens der russischen Propaganda. Letzteres knüpft an den sogenannten „Dulles Plan“ an, eine populäre Verschwörungstheorie aus den 1990er Jahren, der zufolge der CIA-Direktor Allen Dulles die Sowjetunion durch die gezielte Verbreitung westlicher Kultur zu Fall gebracht hätte. Statt Ursachen für Krisen im Versagen des eigenen politischen und ökonomischen Systems zu suchen, werden der „kollektive Westen“ oder diffuse „ausländische Agenten“ verantwortlich gemacht.

Die russische Propaganda arbeitet vor allem mit Narrativen. Darunter verstehen Sozialwissenschaftler einfache Geschichten mit klar verteilten Rollen, die sich durch permanente Wiederholung im Gedächtnis einnisten. Der Westen sei an allem schuld, die Ukraine nur seine Marionette, Russland wolle Frieden – das ist der Blick auf die Weltpolitik in den russischen Staatsmedien. Im Kontrast dazu wird permanent die Stärke und Einheit Russlands hervorgehoben. Seit 2010 ist dieser „Informationskrieg“ auch in der russischen Militärdoktrin verankert.

Wichtige Akteure im russischen Informationskrieg sind die halbstaatlichen Fernsehsender Erster Kanal, Rossija 1 und NTW. Nach der Vollinvasion in der Ukraine wurde dort der Anteil von Nachrichten und politischen Talkshows massiv erhöht. So hetzt beispielsweise der einflussreiche Fernsehpropagandist Wladimir Solowjow in seiner Abendsendung regelmäßig gegen politische Gegner und droht europäischen Staaten mit russischen Atomschlägen.

Die russische Präsidialadministration formuliert außerdem Leitfäden für die Medien, in denen Schwerpunkte der Berichterstattung und konforme Argumentationsmuster vorgegeben werden. Oppositionsmedien wurden im März 2022 ebenso verboten wie Facebook und Instagram, das Internet schon in den Jahren zuvor massiv reguliert.

Bereits seit 2017 steht in Russland die Nutzung von VPN-Netzwerken, mit deren Hilfe gesperrte Websites aufgerufen werden können, unter Strafe. Für Blogs mit mehr als 3000 Abonnenten besteht eine Klarnamenpflicht. 2019 wurde das Souveränes Internet-Gesetz verabschiedet, das der staatlichen Medien- und Zensurbehörde Roskomnadsor die Kontrolle über alle nationalen Server ermöglicht. Mittlerweile sind auch die Verbreitung von „Falschinformationen“ und die „Diskreditierung der Armee“ verboten. Wer etwa die „Spezialoperation“ in der Ukraine als Krieg bezeichnet, macht sich strafbar und muss mit drakonischen Strafen rechnen.

Die Informationskontrolle im Innern wird durch umfangreiche Auslandspropaganda ergänzt. Das 2005 auch in Reaktion auf die „Orangene Revolution“ in der Ukraine gegründete Auslandsfernsehen Russia Today (RT) ist laut Chefredakteurin Margarita Simonjan eine „Soft Power im Informationskrieg“ und soll einen „russischen Standpunkt auf internationale Ereignisse“ vermitteln. Wie dieser Standpunkt konkret aussieht, ließ sich exemplarisch während der Coronapandemie beobachten. Während das russische Staatsfernsehen energisch für Impfungen und Schutzmaßnahmen warb, schürte RT systematisch Misstrauen gegen die Coronapolitik anderer Regierungen. Innerhalb Russlands wurden Impfgegner hingegen als vom Westen gesteuerte Bewegung dargestellt.

Nachdem Russland am 1. März 2022 den Zugang zu Oppositionsmedien gesperrt hat, wurden in der EU die Auslandsaktivitäten von RT verboten. Seitdem hat sich die russische Auslandspropaganda stärker auf die sozialen Netzwerke und sogenannte Alternativmedien verlagert. Dort verbreiten Influencerinnen wie Alina Lipp oder Thomas Röper Übersetzungen von russischen Nachrichtenagenturen. Auf Telegram zirkulieren zudem viele Falschmeldungen über vermeintliches Fehlverhalten ukrainischer Flüchtlinge, mit denen gezielt eine flüchtlingsfeindliche Stimmung angeheizt werden soll. Wie die finnische Journalistin Jessikka Aro in ihren Recherchen gezeigt hat, finanziert Russland auch Netzwerke von bezahlten Trollen, die Diskussionen in Online-Foren manipulieren und sich an Einschüchterungskampagnen beteiligen.

Die Entwicklung des russischen Desinformationssystems und der Krieg gegen die Ukraine sind in erster Linie Reaktionen auf innerrussische Dynamiken. Nachdem Putin mit einem Ämtertausch von 2008 bis 2012 die in der russischen Verfassung vorgesehene Begrenzung seiner Amtszeit umgehen wollte, war seine Popularität auf einem historischen Tiefpunkt. Gegen die mutmaßlich gefälschten russischen Parlamentswahlen im Dezember 2011 formierten sich landesweite Massenproteste mit hunderttausenden Teilnehmern.

In den Jahren danach verschärfte der Kreml den Kampf gegen „Feinde im Innern“, etwa durch die Ermordung von Oppositionellen wie Boris Nemzow und immer schärfere Gesetze gegen die LGBTQ-Community und „ausländische Agenten“. Der ab 2011 beginnende Aufstand gegen das Assad-Regime in Syrien und der Kyiver Euromaidan im Dezember 2013 wurden von Putin als Gefahr für sein eigenes Herrschaftssystem interpretiert, weshalb die russische Armee in beiden Fällen gegen die Revolution intervenierte. Im Kampf der Narrative wurde die ukrainische Massenbewegung gegen den korrupten Präsidenten Janukowitsch und seine einstimmige Absetzung durch das ukrainische Parlament am 22. Februar 2014 als von der CIA initiierter Putsch diskreditiert – eine Legende, die sich durch permanente Wiederholung auch in deutschen Alternativmedien verbreitet hat.

Mit der bereits am 20. Februar 2014 begonnenen Annexion der ukrainischen Krym konnte Putin den russischen Nationalismus mobilisieren und seine Zustimmungswerte massiv steigern. Seitdem wird die russische Jugend durch veränderte Lehrpläne und paramilitärische Jugendorganisationen mit extremem Nationalismus indoktriniert und auf den Heldentod für das Vaterland vorbereitet, wie der Historiker Ian Garner in seinem aktuellen Buch „Z Generation“ auf bedrückende Weise zeigt.

Russische Oppositionsmedien wie Doschd, das mittlerweile aus Amsterdam sendet, oder das Internetportal dekoder setzen sich jedoch seit Jahren kritisch mit der russischen Staatspropaganda auseinander. Eine von der russischen Exiljournalistin Mascha Borsunowa moderierte Sendung zu Fake News wird von ARTE in deutscher Übersetzung gezeigt. Die EU hat 2015 eine Taskforce eingerichtet und das Projekt EUvsDisinfo ins Leben gerufen. Auf der zugehörigen Website werden Desinformationen gesammelt und kontextualisiert. Der Bedarf an solcher Aufklärung dürfte bis auf Weiteres nicht abebben. Denn der Informationskrieg, den Putin auch gegen die eigene Bevölkerung führt, wird den Krieg in der Ukraine überdauern.


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