Der NSU hat jahrelang in Deutschland gemordet,
Bombenanschläge verübt und Banken ausgeraubt. Aber obwohl immer wieder
Hinweise auftauchen, dass Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe
sich dabei auf ein größeres Netzwerk stützten, ziehen die deutschen
Behörden es vor, das „Trio" als unabhängig agierende Psychopathen
abzutun. Gebetsmühlenartig weisen Geheimdienstler und Innenpolitiker
darauf hin, wie hoch die von „radikalisierten Einzeltätern" ausgehende
Gefahr sei. Dabei verschweigen sie die zahlreichen Hinweise, dass der
NSU sich in ganz Deutschland auf Zellen rechtsextremer Terrornetzwerke
stützen konnte, die ihnen Wohnungen anmieteten, Waffen besorgten und
sogar Ziele identifizierten. Ein besonders aktives Netzwerk gab es bis
2006 in Dortmund unter dem Namen „Combat 18".
Dortmund kann eine erschreckend lange Liste rechter Gewalttaten und Morde aufweisen: 2000 erschoss der Neonazi Michael Berger erst drei Polizisten und dann sich selbst, 2005 erstach Sven Kahlin, ein Mitglied der berüchtigten Skinheadfront, den Punk Thomas Schulz. Ein Jahr später wurde Mehmet Kubaşık vom NSU ermordet. Trotzdem blieb die nach dem Vorbild der europaweit agierenden Combat 18-Gruppen aufgebaute Terrorzelle, die Dortmunder Nazis zwischen 2003 und 2006 aufbauten, lange unbeachtet.
Combat 18—die 18
steht für Adolf Hitler—ist ein europäisches Neonazi-Netzwerk, dass sich
den "führerlosen Widerstand" auf die Fahnen geschrieben hat. Neben einem
ausgesprochenen Faible für schlechten Rechtsrock, eint die Mitglieder
des Anfang der 90er Jahre von englischen Nazis gegründeten Netzwerks
ihre Affinität zu Waffen und ihr Hass auf Migranten, Schwarze, Juden und
Homosexuelle. In England erstellten Combat 18-Gruppen öffentliche
Listen von Antifas und anderen politischen Gegnern und legten vermutlich
Bomben in migrantischen Vierteln, durch die drei Menschen getötet und
160 verletzt wurden. Die Mitglieder rekrutieren sich meist aus der
rechten Musikszene, die innerhalb des „Blood and Honour"-Netzwerkes
europaweit Rechtsrockkonzerte veranstaltet.
Eine
dieser Combat 18-Bands ist Oidoxie aus Dortmund. Die Band rund um den
Dortmunder Neonazi Marko Gottschalk gibt es schon seit 1995, sie ist
verantwortlich für Plattentitel wie „Kann denn Glatze Sünde sein", „Weiß
& Rein" und „Straftat - Hail C18". Vor allem Oidoxie-Sänger Marko
Gottschalk ist alles andere als ein unbeschriebenes Blatt: Neben
der Szenegröße Siegfried „SS-Siggi" Borchardt galt er lange Zeit als
eine der wichtigen Figuren der Dortmunder Naziszene. Seine Band spielte
auf „Blood and Honour"-Konzerten in ganz Europa und gilt als fester
Bestandteil des Netzwerkes. Im Umfeld der Band wurde 2003 auch
die „Oidoxie-Streetfighting-Crew" gegründet, eine Schlägertruppe, die
bewaffnet für den Schutz von Konzerten sorgen sollte.
Ebenfalls
ab 2003 hat Marko Gottschalk auch angefangen, eine Combat 18-Zelle
aufzubauen, die sich statt mit Rechtsrock nun auch mit Waffen und
Mordfantasien auseinandersetzte. Dabei könnten ihm die guten
Verbindungen zu belgischen Neonazis geholfen haben. Bei belgischen
Mitgliedern einer Gruppe namens „Blut und Boden" wurden bei einer Razzia
2006 zahlreiche vollautomatische Kriegswaffen und Sprengstoff gefunden.
Ein Dortmunder Neonazi erklärte gegenüber Ermittlern, „in Belgien sei
es ohne große Schwierigkeiten möglich an scharfe Waffen zu kommen."
Bis
2006 soll die Gruppe sieben Mitglieder gehabt haben, ihre ideologische
Grundlage fanden sie in den „ Turner-Tagebüchern". Der Roman des
amerikanischen Nazis William L. Pierce besteht aus den fiktiven
Tagebüchern eines Aktivisten, der erst im Untergrund gegen das „jüdisch
kontrollierte System", später offen im „internationalen
Rassenkrieg" gegen alle Nicht-Weißen kämpft—gespickt mit nuklearen
Actionfantasien. Obwohl der Roman literarisch nicht besonders
anspruchsvoll ist, bietet er den perfekten Leitfaden für durchgedrehte,
militante Nazis. Schon den "Oklahoma-Bomber" Timothy McVeigh soll das
Buch inspiriert haben, und auch beim NSU sieht das Bundeskriminalamt
Parallelen zu den „Turner-Tagebüchern".
Ein Mitglied
der Dortmunder Zelle war Sebastian Seemann, ein Freund des Dortmunder
Polizistenmörders Michael Berger, mit dem er früher schon zusammen an
Schießübungen teilgenommen hat. Das erste Mal in der großen
Öffentlichkeit stand Seemann 2007, als aufflog, dass er als V-Mann für
den Verfassungsschutz gespitzelt hat. Jahrelang hatte er vorher
regelmäßig Rechtsrock-Konzerte organisiert, unter anderem bei den schwer
bewaffneten Kameraden in Belgien. Das Geld daraus soll unter anderem in
die Dortmunder Zelle geflossen sein. Sein privates Geld hat Seemann
jahrelang mit Waffen- und Drogenhandel verdient - 2007 konnte er auf
mehr als 20 Vorstrafen zurückblicken.
Seine
Spitzeltätigkeiten für den Verfassungsschutz flogen während eines
Gerichtsverfahrens gegen seinen ehemaligen Freund und Kameraden Robin
Schmiemann auf, der auch Teil der Dortmunder Combat 18-Gruppe war und
letztes Jahr als Gefängnis-Brieffreund Beat Zschäpes bekannt wurde. Nach
einem geplatzten Drogendeal hatte Sebastian Seemann ihn angestiftet,
einen Supermarkt auszurauben und ihm eine Waffe besorgt. Dabei schoss
Schmiemann einen tunesischen Kunden des Geschäfts nieder und verletzte
ihn schwer.
Vor Gericht tauchten dann Akten der
Bielefelder Polizei auf, die Seemanns Telefon überwacht hat. Mit
aufgezeichnet wurde dabei auch ein Gespräch von Seemann mit seinem
V-Mann-Führer beim Geheimdienst, in dem der ihn vor Ermittlungen der
Polizei warnt.
Darauf folgte ein großer Verfassungsschutzskandal in Nordrhein-Westfalen
und eine Anzeige wegen Geheimnisverrats. Aus der Anzeige wurde am Ende
allerdings nichts —das Innenministerium hielt den Namen des
V-Mann-Führers geheim.
Danach war Seemann natürlich
Persona non grata bei seinen ehemaligen Kameraden—und saß außerdem in
einem Bielefelder Knast. Hier holten ihn Dortmunder Polizisten wenige
Wochen nach dem Auffliegen des NSU im November 2011 ab, um sich bei
einem nahegelegenen McDonalds mit ihm zu unterhalten. Die Aktenvermerke
von dieser und anderen Unterhaltungen mit Seemann wurden uns anonym
zugespielt.
Er verrät darin nicht nur die Existenz der Dortmunder Combat 18-Zelle, er gibt auch zahlreiche Details preis. Dass sie die „Turner-Tagebücher" gelesen hätten zum Beispiel, welche ausgezeichneten Kontakte Marko Gottschalk zu Nazis in Ostdeutschland, Belgien und Skandinavien gehabt hätte und wie einfach es gewesen sei, an Waffen aus Belgien zu kommen. „Auf dortigen Märkten frage niemand nach, wenn Schusswaffen gekauft werden. Die Belgier (B&H) [Blood and Honour, Anm. des Autors] seien möglicherweise mit Schusswaffen nach Deutschland gekommen, um diese hier zu verteilen. Im Gegenzug haben diese sich hier mit Pfefferspray versorgt, da dieses in Belgien verboten war", notierten die Polizisten bei einem zweiten Treffen mit Seemann.
Dieser glaubte sogar, zwei der Tatwaffen des NSU identifizieren zu
können. Die Polizisten notierten nach einem Telefonat mit Seemann:
„Vorraussetzung ist, dass die Waffen umgebaut worden sind. Insbesondere
zur TT 33 glaubt er sich in der Lage, die Angaben machen zu können." Die
Pistole Tokarew TT 33 ist eine von zwei möglichen Tatwaffen im NSU-Mord
an der Polizistin Michele Kiesewetter in Heilbronn. Seemann gab den
Polizisten sogar den Hinweis auf einen Dortmunder Nazi, der für den
Umbau der Waffe infrage käme: Ein älterer „Kamerad", der gerade wegen
Totschlags im Gefängnis saß, nachdem er im Vollrausch jemanden
erschossen hatte.
Merkwürdigerweise ist die Polizei
auf das Angebot Seemanns danach nicht mehr zurück gekommen. Diese Spur
zur möglichen Herkunft zweier vom NSU benutzter Waffen scheint nicht
weiter verfolgt worden zu sein. Darum haben die Nebenklageanwälte der
Familie des Dortmunder NSU-Opfers Mehmet Kubaşık im NSU-Prozess in
München nun beantragt, neben Marko Gottschalk auch Sebastian Seemann als
Zeugen zu laden. Ihnen geht es nicht nur darum, die ungeklärten Fragen
der Hinterbliebenen beantworten zu können. Es geht auch darum zu klären,
welche weiteren rechten Terrornetzwerke es gegeben hat—oder sogar noch
gibt.
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