Während der Widerstand der Kurden in Kobane gegen den Islamischen Staat die Welt in Atem hält, scheint der verzweifelte Überlebenskampf der Jesiden in Sindschar weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein. Als der IS im August das Gebiet um die nordirakische Stadt eroberte, war der drohende Völkermord an fast 20.000 wehrlosen Menschen einer der Haupt-Auslöser der US-amerikanischen Bombenkampagne gewesen. Aber obwohl die Luftunterstützung den irakisch-kurdischen Peschmerga half, den Flüchtlingen einen Korridor nach Syrien freizukämpfen, war die Schlacht um Sindschar noch lange nicht geschlagen.
Während sowohl Weltöffentlichkeit und US-Bomber sich seitdem mit Syrien beschäftigen, hat der IS Mitte Oktober erneut eine schwere Offensive gegen Sindschar gestartet, in deren Verlauf der Korridor abgeschnitten und wieder an die 7.000 Menschen in dem Gebirge einschloss; von denen manche gerade erst in ihre Heimat zurückgekehrt waren. Wieder leisten die Verteidiger verzweifelten Widerstand. Dazu gehören neben den Peshmerga und Kämpfern der syrischen YPG auch eine jesidische Verteidigungseinheit, die seit Monaten erfolgreich einen Jesiden-Schrein in Sherfedin gegen den IS verteidigt. Angeführt wird die Truppe von einem Deutschen, Kasim Shesho.
Kasim Shesho kommt zwar ursprünglich aus Shingal,
hat aber die letzten Jahrzehnte in Deutschland verbracht und arbeitet
eigentlich als Gärtner in Bad Oeynhausen. In Shingal kämpft er zusammen
mit seinen drei Söhnen. Deutsche Jesiden verehren ihn dafür als Helden,
nennen ihn „Den Löwen von Sindschar". Auch in den deutschen Medien
wurde schon öfter über der ungewöhnlichen Lebenswandel des Gärtners
berichtet.
Wir haben mit seinem Sohn Haydar Kasim Shesho über die Situation der Jesiden im Sindschar-Gebirge gesprochen. Der Restaurantmanager und studierte Politikwissenschaftler ist nach seinem Vater der zweite Mann in der Kommandostruktur der jesidischen Kämpfer. Er wurde im Irak geboren, lebt aber seit 1989 in Deutschland und ist seit 1997 deutscher Staatsbürger.
Gestern morgen hat der IS die Pilgerstätte Sherfedin angegriffen. Was ist passiert, und geht es dir gut?
Haydar
Kasim Shesho: Heute morgen um 5:30 Uhr sind ISIS-Truppen mit vier
Panzerwagen und Humvees in unsere Richtung gekommen. Sie waren zwei
Kilometer von uns entfernt und haben mit Raketen auf Sherfedin
geschossen. Sie haben versucht mit schweren Waffen zu uns durchzukommen.
Wir haben eine halbe Stunde gekämpft und die jesidischen Kämpfer
konnten zwei der Humvees zerstören. Unseren Kämpfern ist heute zum Glück
nichts passiert. Wir haben keine Verletzten und keine Toten auf
jesidischer Seite. Auf der anderen Seite wurden sechs ISIS-Kämpfer
getötet. Leider hat die ISIS starke Waffen und wir haben keine richtige
Hilfe von der irakischen Regierung, Amerika oder anderen bekommen. Darum
ist es sehr, sehr schwer hier zu leben. Wir sind hier von allen vier
Seiten eingeschlossen und können nicht weg. Auch auf Unterstützung durch
Flugzeuge müssen wir immer warten. Die kurdische Armee, die Peshmerga,
nehmen zwar teilweise Verletzte und Kranke von hier mit, aber Hilfe
durch Essen, Trinken und Waffen gibt es leider viel, viel zu wenig.
Wie sieht die Hilfe durch die kurdischen Peschmerga in Shingal sonst aus?
Nicht
gut. Die Peschmerga stehen in Rabiaa, 50 bis 60 Kilometer von Shingal
[Sindschar] entfernt. Dort stehen mehrere tausend Peschmerga-Soldaten
mit schweren Waffen seit einem Monat. Sie sind bisher nicht weiter nach
Shingal gekommen. In vielen arabischen Dörfern in der Gegend ist ISIS
sehr stark und hat viele Waffen. Wir haben viele Male gefragt, wie es
sein kann, dass die Peschmerga immer noch in Rabiaa stehen und nicht bis
Shingal kommen. Leider haben wir bislang keine starke Antwort bekommen.
Unsere einzige Möglichkeit ist, bis zum Ende zu kämpfen. Wir müssen
kämpfen, solange wir leben. Es braucht Druck auf die kurdische Regierung
und die Regierung in Baghdad, damit sie uns helfen. Wir und die mehr
als elftausend Zivilisten in Shingal wurden ohne Hilfe alleine gelassen.
Es ist vor allem für Kinder und alte Menschen sehr schwer, hier in den
Bergen zu leben. Es fehlt an Essen und Trinken, wir haben seit
mindestens einer Woche keine Hilfslieferungen bekommen. Ohne Hilfe
wiederholt sich das, was am dritten August passiert ist!
Warum hilft die kurdische Regierung den Jesiden nicht aktiver?
Natürlich haben wir die gleiche Sprache, aber wir sind Jesiden,
die sind Muslime. Die kurdische Regierung hat uns nicht so geholfen wie
in Kobane. Kobane hat Hilfe bekommen, sie haben Peschmerga und Waffen
geschickt bekommen. Dabei ist das in Syrien. Wir als kurdisches Gebiet
im Irak haben doch noch mehr Recht auf Hilfe! Aber 90 Prozent der
Menschen und 100 Prozent der Kämpfer hier sind Jesiden. Die muslimische
Bevölkerung hier in Shingal hat ISIS nicht bekämpft, viele von denen
haben ISIS sogar geholfen.
Welche internationale Hilfe fordert ihr?
Wir brauchen natürlich bessere Waffen. Ich frage gar nicht nach
Panzern, die bekommen wir eh nicht. Aber ganz normale, funktionierende
Waffen. ISIS hat Panzer, wir haben nur einfache Waffen, das macht es
sehr schwer. Wir werden mit Raketen beschossen und haben selber fast nur
Kalaschnikows. Wir brauchen dringend Raketen. Von den Waffen, die
Deutschland an die Peschmerga geliefert hat, haben wir keine einzige
bekommen. Wir warten immer noch. Sie sagen, sie schicken heute oder
morgen Waffen, es kommt aber nichts an.
Wie kam es dazu, dass du nach Shingal gegangen bist?
Ich bin jetzt seit vier Monaten hier im Nordirak. Ich war 20
Tage bei Bekannten und Verwandten, bevor ISIS am dritten August Shingal
angegriffen hat. Da hab' ich beschlossen, bei meinen Leuten in Shingal
zu bleiben und gegen ISIS zu kämpfen.
Du bist
erst seit August in Shingal. Wie hast du das Kämpfen gelernt? Als
Manager eines Restaurants weiß man ja nicht, wie man mit einer
Kalashnikov umgeht.
Das ist ganz einfach. Wenn mehr als tausend Frauen und Kinder
deiner Religion getötet oder verschleppt werden, lernt man das schnell
genug. Das kannst du an einem Tag lernen!
Was ist das schlimmste, das du in Shingal gesehen und erlebt hast?
Wir
haben mehr als hundert Kinder zwischen sechs Monaten und zehn Jahren
gesehen, die in den Bergen getötet wurden oder durch den Hunger
gestorben sind und einfach zurückgelassen wurden. Und was man
mitbekommt, von jesidischen Frauen, die vom IS wie Tiere für ein paar
hundert Dollar auf dem Basar verkauft werden; das werde ich nie
vergessen können. Und solange das vor meinen Augen ist, muss ich hier
bleiben und kämpfen.
Wieviele Jesiden aus Deutschland und anderen Ländern kämpfen in Shingal?
Wir sind jetzt mindestens 15 deutsche Jesiden hier in Shingal.
Im Rest des Nordiraks sind das ungefähr 100. Die Leute werden aber von
der kurdischen Regierung nicht zu uns durchgelassen. Das geht nur mit
Helikoptern, die von der kurdischen Regierung kontrolliert werden. Es
sind auch mehr als 20 Personen aus Schweden hier in Shingal, die mit uns
und in anderen Einheiten kämpfen. Außerdem Leute aus den Niederlanden,
Dänemark und den USA. Insgesamt kämpfen jetzt mehr als 100 Menschen aus
Europa und den USA in Shingal. Insgesamt sind 2.500 bis 3.000 jesidische
Kämpfer in Shingal.
Willst du zurück nach Deutschland?
Ich würde gerne zurück nach Deutschland und zu meiner Familie,
aber solange Shingal von ISIS bedroht ist, kann ich hier nicht weg und
die Leute einfach verlassen. Ich kann aber sagen: Deutschland ist für
mich das erste Land, nicht das zweite. Wir müssen hier bleiben, bis die
Situation sich bessert. Dann möchte ich natürlich zu meiner Familie und
in mein Land zurückkommen. Ich wurde im Irak geboren, aber den besten
Teil meines Lebens hab' ich in Deutschland verbracht.
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