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"QAnon" - der Aufstieg einer gefährlichen Verschwörungstheorie

Foto: picture alliance/AP Photo

Berlin. In Krisenzeiten haben Verschwörungstheorien Hochkonjunktur. Das war schon im Mittelalter so: Als die Pestepidemie im 14. Jahrhundert Europa heimsuchte und Millionen Menschen das Leben kostete, wurden bald Juden beschuldigt, Brunnen zu vergiften. Diese Lüge entfachte Pogrome, die ganze jüdische Gemeinden auslöschten. Und sie ist bis heute die Grundlage zahlreicher judenfeindlicher Erzählungen.

Auch in Zeiten der Corona-Pandemie werden Verschwörungstheorien populärer und bedrohlicher. Eine besonders wilde Erzählung hat in den vergangenen Jahren ihren Weg vom Narrensaum des Internets hinein in die Republikanische Partei der USA gefunden und gewinnt auch in Deutschland in einem alarmierenden Tempo neue Anhänger.

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Einer von ihnen ist Xavier Naidoo. Ein Video aus der vergangenen Woche zeigt den Sänger weinend und sichtlich um Worte ringend. Naidoo filmt sich selbst, spricht davon, dass "in diesen Momenten in verschiedenen Ländern der Erde Kinder aus den Händen pädophiler Netzwerke befreit" werden. Anschließend ruft er seine Fans dazu auf, im Internet nach dem Begriff "Adrenochrom" zu suchen.

Was für Außenstehende vor allem verwirrt erscheint, ist das offene Bekenntnis zu einer Verschwörungstheorie, die von radikalen Anhängern des US-Präsidenten Donald Trump verbreitet wird und an die offenbar auch Tobias R. glaubte, der im Februar zehn Menschen im hessischen Hanau ermordete.

Die Erzählung vom Insider im Weißen Haus

Das Geburtsdatum dieser Verschwörungstheorie liegt im Oktober 2017. Donald Trump ist gerade neun Monate im Amt, als sich im Onlineforum "4chan" ein anonymer Nutzer zu Wort meldet. Die Seite ist ein Treffpunkt verschiedener Internetsubkulturen und war schon mehrfach der Ausgangspunkt rechtsextremer Trollaktionen und Hasskampagnen.

In seinem ersten Post gibt sich der Nutzer als hochrangiger Informant aus dem engsten Kreis um Donald Trump aus und kündigt die angeblich bevorstehende Verhaftung der demokratischen Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton an. Obwohl diese Verhaftung nie eintritt, scheren sich rasch Anhänger um den angeblichen Informanten und seine von da an regelmäßigen Veröffentlichungen. Sie nennen ihn "Q", in Anlehnung an die "Q Clearance", die höchste Freigabestufe für geheime Informationen des US-Energieministeriums, die der anonyme Poster angeblich besitzt. Und weil Nutzer von "4chan" statt eines individuellen Nutzernamens lediglich die Bezeichnung "Anonymous" haben, nennt sich die Gefolgschaft des vermeintlichen Insiders fortan "QAnon".

Aus den angeblichen Informationen aus dem Weißen Haus entspinnt sich, zunächst auf "4chan" und dann auf dessen radikalerem Ableger "8chan", eine wilde Verschwörungserzählung. Darin kämpft Donald Trump gegen einen "Tiefen Staat", der die Geschicke der USA bis dato heimlich bestimmt habe. Teil der Verschwörung ist demnach ein weltweites Netzwerk aus pädophilen Politikern, Bankern und Hollywoodstars, die Kinder entführen und in unterirdischen Lagern foltern und ermorden, um ein Lebenselixier aus ihnen zu gewinnen: Adrenochrom.

Diese Chemikalie, von der nun auch Xavier Naidoo spricht, gibt es tatsächlich. Sie ist ein Stoffwechselprodukt des Adrenalin, kommt im menschlichen Körper vor und kann auch künstlich hergestellt werden. Ein "Verjüngungsmittel" ist sie jedoch nicht, diese angebliche Eigenschaft ist frei erfunden. Auch für die angebliche Verschwörung gibt es keinerlei Beweise.

Die üblichen "Q"-Veröffentlichungen sind kryptisch und lassen den "QAnon"-Anhängern viel Spielraum für Interpretationen. © Quelle: Screenshot: RND.de

Unterstützung aus der Partei des Präsidenten

Viele Erzählungen der "QAnon"-Verschwörungstheoretiker klingen, als entstammten sie dem Drehbuch eines Hollywood-Actionthrillers. Wer hinter den offensichtlich frei erfundenen Veröffentlichungen steckt, ist bis heute unklar. Trotzdem gewann "Q" in den vergangenen Jahren immer mehr Anhänger. Ein Viertel der US-amerikanischen Bevölkerung habe einer aktuellen Umfrage zufolge schon von "QAnon" gehört, erklärt Mike Rothschild. Der Autor und Journalist aus Kalifornien ist Experte für Verschwörungstheorien in den USA.

Die "QAnon"-Verschwörungstheorie sei zwar immer noch ein Randphänomen, in den vergangenen Monaten jedoch ein Stück weiter in den Mainstream gerückt. Der progressive US-Thinktank "Media Matters for America" zählt 34 aktuelle oder ehemalige Kandidaten für den US-Kongress, die "QAnon"-Inhalte verbreitet oder sich offen zu der Verschwörungstheorie bekannt haben. Fast alle von ihnen sind Mitglieder der Republikanischen Partei.

US-Präsident Donald Trump verbreitete in der Vergangenheit Tweets von Anhängern der "QAnon"-Verschwörungstheorie. Auf Trumps Wahlkampfveranstaltungen sind regelmäßig vielsagende Schilder mit einem großen "Q" in der Menge zu sehen. Der Präsident selbst habe sich bislang nicht zu "QAnon" geäußert, sagt Rothschild. Wichtige ehemalige Mitarbeiter der Trump-Regierung, wie Sarah Huckabee Sanders und Sebastian Gorka, hätten die Verschwörungstheorie allerdings für falsch erklärt und verurteilt. Das sei auch die offizielle Linie der Republikaner.

Die Corona-Pandemie als Brandbeschleuniger für Verschwörungstheorien

Mit der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus Sars-Cov-2 gewinnen die "QAnon"-Erzählungen jedoch sowohl in den USA als auch in Deutschland an neuer Popularität. Viele der Verschwörungsgläubigen sehen in der Pandemie ein Ablenkungsmanöver, gesteuert vom US-Präsidenten und seinen Mitstreitern.

Die Schutzmaßnahmen - Grenzschließungen und Ausgangsbeschränkungen - seien eingeführt worden, um die bevorstehende Befreiung missbrauchter Kinder aus den Fängen der Verschwörer nicht zu gefährden. Statt als inkompetenter Präsident, der die Schwere der Lage in der Corona-Krise lange verkannt hat, steht Donald Trump in den Augen einiger seiner Anhänger deshalb als großes Genie da, als Mastermind im Kampf gegen eine satanisch-pädophile Weltverschwörung.

Ein "Q"-Schild bei einer Trump-Wahlkampfveranstaltung in Tamp, Florida, im Jahr 2018. © Quelle: picture alliance / NurPhoto

Auch in Deutschland hat die "QAnon"-Verschwörungstheorie in den vergangenen Wochen rasant schnell neue Anhänger gefunden. Die Szene kommuniziert hierzulande vor allem in Gruppen und Kanälen der Messenger-App Telegram, außerdem auf Facebook und Youtube. Einer der populärsten deutschen "QAnon"-Telegram-Kanäle hat allein in den letzten Wochen mehrere Zehntausend neue Abonnenten hinzugewonnen.

Neben Xavier Naidoo, der sich erst kürzlich ganz offen dazu bekannt hat, ist der ehemalige Journalist Oliver Janich der populärste Verbreiter von "QAnon"-Erzählungen in Deutschland. Janich arbeitete einst für das Magazin "Focus Money", heute schreibt er von den Philippinen aus für rechte und rechtsextreme Postillen, dreht Youtube-Videos und bedient seine Anhängerschaft auf Telegram mit rechten Verschwörungstheorien.

Allein in der Messenger-App folgen ihm mehr als 73.000 Menschen, bei Youtube sind es sogar 121.000. Ein Video Janichs, in dem er die Verschwörungstheorie über den Massenmissbrauch von Kindern und deren anstehende Befreiung verbreitet, wurde innerhalb von vier Tagen fast eine halbe Million Mal angesehen.

Expertin: Verschwörungstheorien betreffen alle gesellschaftlichen Gruppen

Dass Verschwörungstheorien ausgerechnet in Zeiten einer globalen Gesundheits- und Wirtschaftskrise Aufwind erhalten, ist nicht ungewöhnlich. "Die aktuelle Situation ist ein Paradebeispiel für Kontrollverlust", erklärt die Psychologin Pia Lamberty. "In Momenten, in denen Menschen objektiv nicht in der Lage sind, Kontrolle herzustellen, tun sie das subjektiv", sagt sie. Eine psychische Reaktion auf diesen Kontrollverlust sei es, Muster an Stellen zu sehen, wo vermutlich keine sind - genau das tun auch Verschwörungstheorien. Wer hinter allem einen Plan sieht, dem mag die Welt zwar bedrohlich erscheinen, immerhin jedoch geordnet.

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Gemeinsam mit Katharina Nocun hat Lamberty das Buch "Fake Facts - Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen" geschrieben, das am 29. Mai im Quadriga-Verlag erscheint. Verschwörungstheorien, sagt die Psychologin, seien kein Phänomen einer kleinen Minderheit, sondern beträfen alle gesellschaftlichen Gruppen. "Das zeigen auch die letzten Studien: Laut einer YouGov-Studie glauben in Deutschland knapp 20 Prozent, dass es einen geheimen Plan gibt, dass Muslime nach Deutschland einwandern."

18 Prozent der Deutschen glaubten außerdem, "dass es einen Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus gibt", sagt Pia Lamberty. Eine Falschbehauptung, die vielfach widerlegt wurde und die doch weiterhin als Kernstück vieler Verschwörungstheorien über die Pharmaindustrie fungiert. Laut der Studie "Verlorene Mitte", an der auch Lamberty mitgearbeitet hat, glauben ganze 33 Prozent der Deutschen, dass Politiker und andere Führungspersönlichkeiten nur "Marionetten der dahinterstehenden Mächte" sind.

Verschwörungstheorien und rechtsextreme Anschläge

"Die Bekämpfung von Verschwörungsmythen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die lange nicht ernst genommen wurde", sagt Lamberty. "Das ändert sich jetzt langsam, auch vor dem Hintergrund der Anschläge von Halle und Hanau und jetzt der Corona-Pandemie." Stephan B., der im Oktober 2019 versuchte, in die Synagoge von Halle einzudringen, und anschließend zwei Menschen erschoss, glaubte offenbar an eine "jüdische Weltverschwörung". In einem während der Tat live gestreamten Video bezeichnete er Juden als die Wurzel aller vermeintlichen Probleme.

Tobias R., der am 19. Februar zehn Menschen in Hanau ermordete, äußerte sich in mehreren vor der Tat hochgeladenen Videos und Dokumenten nicht nur zutiefst rassistisch. In einem englischsprachigen Video gab er auch genau jene Verschwörungstheorie wieder, die prägend für die "QAnon"-Erzählungen ist: dass in unterirdischen Basen Kinder missbraucht, gefoltert und getötet würden.

Eine Demonstration im Gedenken an die Opfer des rassistischen Anschlags von Hanau. © Quelle: picture alliance/dpa

In den USA haben "QAnon"-Anhänger bereits eine ganze Reihe an teilweise gewalttätigen Straftaten begangen. Im März 2019 soll ein 24-Jähriger in New York den Mafiaboss Frank Cali erschossen haben, weil er davon überzeugt war, dieser sei ein Agent des "Tiefen Staates". Die US-Bundespolizei FBI warnte im selben Monat vor einer Terrorgefahr durch "QAnon" und andere Verschwörungstheorien in den USA. Mike Rothschild befürchtet, dass es im Zuge der Verschwörungserzählungen rund um die Corona-Pandemie zu weiteren Gewalttaten kommen könnte. Schließlich gebe es weder die entführten Kinder noch entsprechende Rettungsaktionen.

Wenn den "Q"-Anhängern das Ausbleiben dieser Rettungsaktionen bewusst wird, fürchtet er, "dass einer oder mehrere von ihnen die Sache selbst in die Hand nehmen und versuchen, die Kinder aus einem Krankenhaus zu 'retten'." Auch Pia Lamberty warnt vor einer solchen Gefahr. "Wenn man wirklich glaubt, dass es ein Netzwerk an Pädophilen gibt, die Menschen opfern, dann ist Gewalt natürlich die letzte Konsequenz", sagt sie. Generell seien Menschen mit einer stark ausgeprägten Verschwörungsmentalität eher bereit, Gewalt anzuwenden.

Um gegen diese Gefahr vorzugehen, fordert die Psychologin "eine intensive Auseinandersetzung, die über bloße Gesetze hinausgeht. Es braucht eine stärkere Förderung von zivilgesellschaftlichen Initiativen, Beratungsangebote für Einzelpersonen, Schulen und die Politik."

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