Die Zeiten, in der die türkische Opposition mit großer Hoffnung nach vorn blickte, sind vorbei. Ein Synonym für diese Hoffnung war Gezi, ein Park im europäischen Zentrum Istanbuls. 2013 sollte er einer Shopping-Mall weichen. Als die Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas anrückte, um gegen ein paar Dutzend Aktivisten vorzugehen, entwickelten sich die Proteste zu einer Massenbewegung. Gezi ist seitdem ein Symbol des Widerstands gegen Erdoğans Autokratie.
Im vergangenen November habe ich Menschen in Istanbul interviewt, die die Gezi-Proteste miterlebt hatten. Ich wollte von ihnen wissen: Was ist geblieben vom rebellischen "Spirit of Gezi"? Das Ergebnis meiner Recherchen war ernüchternd. Kaum einer hatte noch Hoffnung auf einen friedlichen Wandel. Viele blickten mit Ratlosigkeit in die Zukunft. Ein Ereignis zeichnete sich ab: ein Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei.
Erdoğan konnte es für sich entscheiden - mit einem Wahlkampf der ungleichen Chancen und einer Abstimmung voller Unregelmäßigkeiten. Was bedeutet das für die türkische Opposition? Wie geht es den Aktivisten von Gezi? Mit dreien meiner Gesprächspartner vom November 2016 habe ich in diesen Tagen erneut telefoniert. Das sind ihre Geschichten.
Ali Ergin Demirhan (34) Ali ist Journalist und Aktivist. Er arbeitet für das linke und gewerkschaftsnahe Onlineportal sendika.org. Bereits im letzten Jahr wurde gegen ihn ermittelt. Kurz nach dem Referendum wurde Ali festgenommen. Sechs Tage lang war er in einer Polizeizelle eingesperrt.
„Ich wurde frühmorgens in unserem Büro festgenommen. Wir hatten die ganze Nacht durchgearbeitet, haben Demonstrationen verfolgt und die Nachrichten für den Morgen vorbereitet. Um 5.30 Uhr kam die Polizei. Die haben mir meinen Computer, mein Mobiltelefon und meine Festplatte abgenommen und mich in eine Zelle in einer Polizeistation gesteckt. Dort ist es schlimmer als im Gefängnis. Im Gefängnis hast du wenigstens ein Bett. Wir waren zu fünft oder sechst in einer zehn Quadratmeter großen Zelle. Es war eng und dreckig. Ich wurde von den Polizisten nicht angegriffen und auch nicht schlecht behandelt. Ich konnte jeden Tag meinen Anwalt sehen und wurde von Abgeordneten der oppositionellen CHP besucht. Eine längere Zeit in so einer Polizeizelle eingesperrt zu sein, ist aber für sich schon eine Art von Folter.
Am fünften Tag wurde ich von Polizisten verhört. Sie haben mir gesagt, dass ich am nächsten Tag dem Staatsanwalt vorgeführt werde. Doch am sechsten Tag wurde ich ohne Begründung freigelassen. Mein Telefon und meinen Computer werde ich so schnell wohl nicht wieder sehen, und irgendwann werde ich von der Staatsanwaltschaft hören. Der Vorwurf gegen mich lautet, dass ich das Ergebnis des Präsidentschaftsreferendums in einem Artikel als illegitim bezeichnet und zu Protesten aufgerufen habe.
Die Opposition hat das Referendum gewonnen! Erdoğan und die Regierung haben es uns gestohlen. Das können wir nicht akzeptieren, wir müssen weiterhin für Demokratie und Säkularismus einstehen. Solche Äußerungen hat die Regierungspartei jetzt zum Verbrechen erklärt, auch wenn das in keinem Gesetz geschrieben steht. Ich bin auch nicht der einzige, gegen den sie das anwenden. Mit mir zusammen wurden 58 Leute festgenommen. Das sind zum Teil Hayır-Aktivisten, also Aktivisten, die sich für ein Nein beim Referendum eingesetzt hatten, zum Teil aber auch einfach ganz normale Leute. Ich habe keine Ahnung, was uns wegen dieser Vorwürfe nun erwartet. In der Türkei von heute kann niemand mehr wissen, was als nächstes passiert. Nichts ist unmöglich.
Melis wurde durch die Gezi-Proteste politisiert . Sie hat Häuser besetzt und sich in Nachbarschaftsinitiativen engagiert. Und ist weiterhin auf Demonstrationen gegangen, riskierend, dass sie verhaftet wird. Sie hat die Nein-Kampagne in ihrem Istanbuler Stadtteil Kadıköy mitorganisiert und geht auch nach dem Referendum weiter auf die Straße.Auch wenn sie das Referendum durch Betrug gewonnen haben, kann jetzt jeder sehen, dass Erdoğan nicht so stark ist, wie er dachte. Das sehen nicht nur wir, das sieht man auch international und natürlich auch innerhalb der AKP. Er hat es nicht geschafft, die Stärke der kurdischen Partei, der Intellektuellen, der Linken und Säkularisten zu zerstören. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat Nein zu Erdoğan gesagt. Der Kampf wird also weitergehen, genauso wie die Angriffe Erdoğans. Das wird ein harter Kampf dieser beiden politischen Lager. Für uns ist aber klar: Auch wenn sie einige von uns festnehmen, wir werden weiter berichten!"
Melis Özbakir (25)
„Wir haben in Kadıköy Nachbarschaftsversammlungen organisiert, wie in den Tagen von Gezi. Plötzlich kamen fast 1000 Leute zu einem Treffen. Das wurde viral und hat sich über ganz Istanbul ausgebreitet. In 30 oder 40 Bezirken gab es eigene Versammlungen. Nicht nur hier, wo eh jeder gegen das Referendum war, sondern auch in konservativen Vierteln.
Wir wollten die Leute darüber informieren, was sich durch das Referendum verändert. Wir haben also Flyer an die Leute verteilt und kleine Visitenkarten mit Infos. Hier in Kadıköy hat jeder einzelne Haushalt solche Flyer bekommen. Der erste war wie eine Nebenkostenabrechnung gestaltet. Darauf stand eine Bilanz der Erdoğan-Regierung seit den Wahlen im Juni 2015: Mit der Wirtschaft geht es bergab, viele Leute wurden festgenommen und so weiter. Das hat richtig viele Menschen erreicht. Am Ende hat auch in konservativen Stadtteilen wie Üsküdar oder Fatih die Mehrheit mit Nein gestimmt. Das war ein großer Erfolg. Normalerweise sind das nämlich die Bezirke, in denen Erdoğan die meisten Stimmen bekommt.
Ich war mir vor dem Referendum sicher, dass wir gewinnen würden. Und das haben wir ja auch. Alles was die Regierung nach dem Referendum verkündet hat, ist gelogen. Die haben bis zu zweieinhalb Millionen Stimmen gestohlen. Den Großteil davon in den kurdischen Gebieten. Die Leute wurden von dort vertrieben, bei der Wahl standen bewaffnete Soldaten an den Wahlkabinen. Jetzt sagen sie, dass die Kurden für ein Ja gestimmt haben. Das ist Bullshit!
Darum sind wir nach der Wahlauszählung direkt auf die Straße gegangen. Wir haben das mit ein paar hundert Leuten gemeinsam verfolgt. Und als klar war, dass die Regierung die Wahl durch Betrug gewonnen hat, haben wir alle aufgerufen zu demonstrieren. Wir dachten uns: Das ist unsere Chance. Während wir durch Kadıköy liefen, wurden wir immer mehr. Insgesamt waren an dem Abend in Istanbul bestimmt 20.000 Menschen auf der Straße. Auch in der Woche danach haben wir jeden Abend protestiert. Jetzt hat die Wahlkommission verkündet, dass das Referendumsergebnis gültig ist. Damit ist die Zeit der Proteste vorbei. Wir müssen uns jetzt wieder darauf konzentrieren, uns in den Nachbarschaften zu treffen und die Opposition zu organisieren.
Ayser arbeitet als Literaturagentin, sie steht für die moderne, intellektuelle Seite der Türkei. Die Gezi-Proteste waren für sie ein Lichtblick. Bis vor kurzem hat sie in Cihangir gelebt, einem modernen und hippen Stadtteil Istanbuls. Als auch dieses Viertel immer konservativer wurde, ist sie im Februar 2017 ausgewandert. Ihre Nein-Stimme hat sie in der türkischen Botschaft in London abgegeben.Das Referendum macht mir tatsächlich trotz des Ergebnisses Hoffnung. Alle wissen, dass die Wahl gestohlen wurde. Und die Opposition wurde endlich wieder zusammengeschweißt. Das gibt Grund zu hoffen. Außerdem habe ich überhaupt keine andere Option als weiter zu kämpfen."
Ayser Ali (38)
„In der Türkei zu sein, löst in mir ein Gefühl der Hilflosigkeit aus. Darum habe ich im Februar meine Wohnung gekündigt, mein Hab und Gut verkauft und das Land verlassen. Ich habe zum Glück auch einen bulgarischen Pass und spreche Englisch. Außerdem muss ich für meinen Job sowieso viel reisen. Momentan verbinde ich meine Termine auf Buchmessen in der ganzen Welt damit, herumzureisen. Ich war auf einer Buchmesse in London und bin jetzt erstmal in England. Im Mai bin ich dann in Turin, Belgien und Sofia. Irgendwann werde ich mich an einem Ort niederlassen, ich weiß nur noch nicht wo. Auf keinen Fall gehe ich zurück nach Istanbul. Ich habe nur ein Leben. Das will ich nicht damit verbringen, gegen die Verrücktheit dort anzukämpfen.
Das Leben in Cihangir hat sich in den letzten Monaten nicht drastisch verändert. Das war ein schleichender Prozess. Leute ziehen weg, Bars und Clubs schließen, die Nachbarschaft verändert sich. Es gibt nichts mehr, was mich dort hält.
Ich bin von Anfang an davon ausgegangen, dass Erdoğan das Referendum gewinnen wird - durch Betrug. So ist es ja auch gekommen. Das war das einzige, was zu 100 Prozent sicher war. Auch wenn das Nein eigentlich gewonnen hat, gibt es keinen Weg, an dem offiziellen Ergebnis etwas zu verändern. Die Proteste nach dem Referendum waren nicht groß genug, um irgendetwas zu beeinflussen. Die Menschen konnten demonstrieren, weil die Regierung das für kurze Zeit zugelassen hat. Das ist, wie wenn du ein Ventil öffnest, um Druck abzulassen. Die Proteste werden sich im Sande verlaufen und die Leute werden sehen, dass das zu nichts führt.
Dieses politische System wird jetzt an der Macht bleiben. Aber irgendwann wird es wirtschaftlich zusammenbrechen. Daran wird die Regierung scheitern, sie sind zu dumm, um das Land wirtschaftlich am Laufen zu halten. Daran wird auch eine dritte Bosporusbrücke nichts ändern."