Eine Punktlandung, zumindest was die Zahlen angeht – Heiko
Bielinski ist zufrieden mit seiner Bilanz. Das erste Jahr ohne eigenes Auto ist
fast vorbei und es hätte kaum besser sein können. Knapp 3000 Kilometer mehr als
geplant ist der Münchner im vergangenen Jahr gefahren, ein zweiwöchiger Trip
nach Schweden war eigentlich nicht einkalkuliert. Dass er trotzdem nicht
draufgezahlt hat, mache vor allem der Mobilitätsmix möglich, sagt der
Familienvater. Kommt jetzt nichts Unerwartetes dazwischen, hat er fürs
Carsharing, Fernbus- und Bahntickets in zwölf Monaten insgesamt nur rund 4083
Euro ausgegeben – sein Auto hätte ihn mit Versicherung, Steuer, Benzin- und
Werkstattkosten sowie dem Wertverlust rund 4170 Euro gekostet. Doch nicht nur
finanziell war der Wechsel lukrativ: Keine Reifenwechsel mehr, keine Besuche in
der Werkstatt, kein Wagen putzen. Es sind auch Zeit und Nerven, die Bielinski
seit dem Umstieg spart. Das überzeugt nicht nur in selbst, sondern auch seine
Frau.
Die Plattformen, die das Leben ohne eigenes Auto möglich machen, heißen Autonetzer, Car2go oder stadtmobil – und boomen. Anfang 2014 ermittelte der Bundesverband Carsharing rund 750.000 registrierte Mitglieder bei insgesamt mehr als 150 Carsharing-Anbietern in Deutschland – im Vergleich zum Vorjahr ein Plus von zwei Dritteln. Heiko Bielinski hat sich auf seinem Blog bielinski.de gründlich mit den Marktanbietern auseinandergesetzt, bevor er den Familienkombi verkaufte. Mit den Preisrechnern auf den Webseiten der verschiedenen Anbietern kalkulierte er großzügig: Wann lohnt sich welches Modell? Wie viel kostet der Kleinwagen zum Einkaufen – und wie viel der große Wagen für den Familienurlaub?
Tim Zander aus Stuttgart hat sich genau für die
entgegengesetzte Variante entschieden: Der 37-jährige Testingenieur teilt sein
eigenes Auto, einen geräumigen Citroen Berlingo, über eine private
Carsharing-Plattform. Überzeugt hat ihn vor allem eine Statistik, wonach
deutsche PKWs im Schnitt 23 Stunden am Tag unbenutzt herumstehen. Seit Mai
können sich darum andere Menschen über Autonetzer.de Zanders Wagen ausleihen,
ein gewisser Prozentteil der Gebühr geht an das Unternehmen, er als Besitzer
bekommt ungefähr 20 Euro in der Stunde. Autonetzer ist nach eigenen Angaben die
größte Plattform für privates Carsharing in Deutschland und ist professionellen
Anbietern ein Dorn im Auge. Nach einer Studie der Unternehmensberatung Roland
Berger wäre jeder zweite Autobesitzer aus den Industriestaaten bereit, sein Auto
mit anderen zu teilen. Tim Zander hat sein Auto bislang 13-mal vermietet und
rund 400 Euro dabei verdient. Gerne wird sein Wagen für kurze Zeiträume wie
etwa Umzüge gemietet. Auf ein Auto, das jederzeit verfügbar vor seiner Tür
steht, will Zander vor allem wegen seines Hobbys nicht verzichten. Als
begeisterter Triathlet transportiert er beispielsweise häufig Fahrräder. Durch
die private Autovermietung holt er zumindest einen Teil seiner Fixkosten wieder
rein. Ein bisschen nervt ihn bislang nur die Verleih-Prozedur: Während
professionelle Anbieter in der Regel komplett über Smartphones und Kundenkarten
funktionieren, muss er jedes Mal ein Übergabeprotokoll ausdrucken handschriftlich
ausfüllen. Dafür schätzt er, dass das regelmäßige Vermieten bei ihm selbst auch
ein Umdenken bewirkt: Während er anfangs seinen Wagen wegen des Wocheneinkaufs
am Samstagmorgen nicht zur Verfügung stellen wollte, nimmt er dafür jetzt
selbst auch das Rad, wenn eine Anfrage kommt.
Der Sharing-Gedanke, Gebrauchsgegenstände nicht mehr unbedingt selbst besitzen zu können, fasziniert ihn immer mehr. Zuletzt hat er sich Aufkleber für seinen Briefkasten bestellt, anhand derer Nachbarn sehen können, was er alles kostenlos teilen kann: eine Bohrmaschine, eine Leiter, eine Gugelhupfform und eine Kabeltrommel. Er hofft, dass andere Menschen in der Umgebung darauf einsteigen und selbst ihren Besitz zum Teilen anbieten, damit das Angebot auch auf Gegenseitigkeit beruht.
Etwas für die Gemeinschaft leisten will auch Luka Alagiyawanna. Der 24-jährigen Studentin und Fotografin geht es vor allem darum, Ressourcen nicht zu verschwenden. Darum ist sie als „Foodsaverin“ aktiv. Die Foodsaver organisieren sich übers Internet, freiwillig und flexibel holen sie übriggebliebene Lebensmittel auf Märkten, bei kleinen Unternehmen und Bäckereien ab. Dabei geht es nicht nur darum, sich selbst zu versorgen – über sogenannte „Fairteiler“, feste Versorgungsstellen oder öffentliche Kühlschränke, wird das Essen an andere Menschen weitergegeben. Weil gerade Gemüse und Obst schon bei kleinen Mängeln aus dem regulären Handel fällt, sammeln die Foodsaver oft mehr Lebensmittel, als weiterverteilt werden können. Luka Alagiyawanna versorgt in ihrer Heimat Berlin auch Nachbarn mit den geretteten Lebensmitteln und lädt regelmäßig Freunde zum Essen ein – etwas, dass sie sich sonst nicht leisten könnte. Sie findet es toll, wie sie auf diese Weise Menschen kennenlernt und ihnen eine Freude machen kann.
Dass das Teilen Menschen zusammenbringt ist auch für die Berlinerin Zaki Omar und ihre Familie der Grund, Besitz zu teilen. Sie nutzen nicht nur Carsharing, sondern lassen es zu, dass Fremde einige Tage oder Wochen mit ihnen in ihrer Wohnung im Prenzlauer Berg leben. Die private Wohnungsvermittlungsplattform Airbnb stammt ursprünglich aus den USA, ist jedoch längst global aktiv. Weltweit vermieten Menschen darüber Unterkünfte – leerstehende Räume im eigenen Haus, weil die Kinder ausgezogen sind, Gästezimmer oder Ferienwohnungen. In Deutschland gibt es bereits 35.000 Unterkünfte, allein 15.000 in Berlin. Airbnb kassiert bei Vermietungen einen Gebühr, dafür können Vermieter ihre Wohnung beispielsweise professionell fotografieren lassen. Die Einnahmen der Vermieter sind einkommenssteuerpflichtig und die Vermietungen mit vergleichsweise viel Aufwand verbunden. Dennoch schätzen viele Gäste das private Ambiente oder dass ihnen wie bei Gastgeberin Zaki Omar auch eine richtige Küche und eine Waschmaschine zur Verfügung stehen. Ihre Gäste können sich die Omars vor allem in den touristenstarken Sommermonaten aussuchen, Leute, die nicht zu ihnen passen, lehnen sie ab. Besonders gern nehmen sie wegen ihrer eigenen Tochter Gäste mit Kindern auf.
Egal, ob das Sharing im professionellen oder im privaten Bereich stattfindet: Es verändert den Alltag. Als Heiko Bielinski mit seiner Familie beschloss, auf den eigenen Wagen zu verzichten, machten sich vor allem Freunde Sorgen. Sie zweifelten: Seid ihr dann überhaupt noch flexibel? Könnt ihr noch spontan zu IKEA? Aus Spaß hat Bielinski am Anfang regelmäßig nachgesehen - ein Auto wäre jedes Mal frei gewesen. Er genießt es, sich für jede Unternehmung das passende Fahrzeug auswählen zu können. Das Experiment ist geglückt: Solange sie weiterhin in einer gut erschlossenen Stadt wie München wohnen, wollen die Bielinskis auf ein eigenes Auto verzichten. Nicht, weil sie es sich nicht leisten könnten, sondern weil der Verzicht eben auch Luxus sein kann.
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