Sie wollen die Lügen des Militärrats aufdecken und haben das Video als Waffe entdeckt. Ägyptische Revolutionäre stellen Leinwände auf öffentliche Plätze und zeigen schockierende Aufnahmen von brutalen Armee-Einsätzen. Eine spektakuläre Aktion - und nicht ohne Risiko.
Abdallah hat wenig Zeit. Er hetzt an diesem Abend über den Marktplatz seines Viertels Ard el-Lewa, trotzdem bleibt er stehen: wegen der Videos. Er will sehen, was passiert, wenn die 20 jungen Aktivisten Leinwand, Generator und Beamer aufbauen, inmitten der Orangen- und Brotberge, die sich auf hölzernen Karren stapeln. Der junge Mann hält sich etwas abseits, will "nur gucken", spielt nervös an seinen Mantelärmeln. Immer mehr Menschen bleiben stehen, blicken neugierig auf die Leinwand." Kazeboon", auf Deutsch "Lügner", steht dort in blutroter Schrift.
Es folgt ein Zusammenschnitt selbstgedrehter Videos und offizieller TV-Beiträge: prügelnde Soldaten, verletzte Frauen und Kinder, Pressekonferenzen der Militärrats. "Wir wollen den Leuten die Möglichkeit geben zu sehen, was wirklich passiert. Die Generäle sind Lügner", sagt Wahel Mohammad, der 25-jährige Organisator der Aktion und Vertreter der Initiative "Kazeboon". Die von rund 30 Parteien und Jugendgruppen unterstützte Initiative sorgt in Großstädten wie Kairo, Alexandria und Assiout für immer mehr Aufmerksamkeit.
Wahel Mohammad ist unzufrieden mit der Situation seines Landes, sehr unzufrieden. Vor allem mit den ägyptischen Medien, von denen ein Großteil vom Militärrat kontrolliert werde. "Die meisten Menschen glauben den staatlichen Fernsehsendern, die die Revolutionäre als Schläger und Gegner der Demokratie darstellen."
Es dauert nicht lange, bis sich die ersten wütenden Anwohner unter die rund 150 Menschen mischen, die die Aktion angelockt hat: "Haut ab!", brüllt eine verhüllte Frau und hebt energisch den Zeigefinger. Ihr folgt eine Gruppe älterer Männer, die wütend ihre Fäuste ballen: "Die Armee lügt nicht, ihr seid die Lügner!", schreien sie. Wahel Mohammed und sein Team bleiben ruhig, sie wollen mit den Männern diskutieren, ihnen ihr Anliegen erklären, trotz der aggressiven Stimmung.
Wahel zuckt die Schultern. "Ich wusste, dass es so werden würde. Aber wenn ich davor Angst hätte, würde ich zu Hause auf meiner Couch bleiben." Erst vorige Woche wurde eine "Kazeboon"-Projektion im reichen Kairoer Viertel Zamalek schon nach wenigen Minuten abgebrochen. Eine Gruppe schnurrbärtiger Männer war auf die Aktivisten losgestürzt, hatte die Leinwand umgetreten und die Versammlung von der Straße verscheucht. Die Aktivisten vermuten dahinter von der Armee angeheuerte Schläger.
Kairo hat 20 Millionen Einwohner, ganz Ägypten viermal so viel. Für den Großteil unter ihnen ist es schwer, den Umsturz zu begreifen, den der Arabische Frühling gebracht hat. "Für die gebildete, gut vernetzte Jugend ist es einfach, das 'Richtige' zu glauben", sagt Lokal-Journalist Achmed el-Lozy, der die Video-Aktion dokumentiert. Doch die meisten Ägypter haben weder Twitter-Account noch einen Studienabschluss. Sie halten am Militärrat fest, der als Ordnungshüter und Heilsbringer auftritt.
Auch Fernsehbilder könnten diese Menschen nicht umstimmen, so Lozy. Er macht sich viele Gedanken, wie man den Leuten beibringen kann, dass sie dem Militär nicht vertrauen können. Für seine Recherche trifft er sich mit Psychologen und Sozialforschern. "Für viele Ägypter ist das Verhältnis zum Staat wie das eines Sohnes zu seinem Vater", erklärt der Journalist. "Er erwischt ihn beim Ehebruch, doch er sagt sich: Nein, mein Vater tut so etwas nicht."
Lozy hat seine Zweifel, ob die Projektionen auf der Straße wirklich ihren Zweck erfüllen oder nur für Trubel sorgen. Vor allem in den reicheren Bezirken hätten die Leute Angst, sich den Events zu nähern und sich als "Revolutionäre" zu outen. Um auch diese Leute zu erreichen, brennen "Kazeboon"-Aktivisten die Videos auf DVDs und verteilen sie in den Cafés und Restaurants der schicken Einkaufsstraßen. Ihre Idee ist, so nahe an den Leuten dran zu sein wie möglich.
Der eigene Nachbar ist glaubwürdiger als die anonymen Bilder im Fernsehen, so die Hoffnung der Aktivisten.
Mayar Hassam* hat zwar eine solche DVD zu Hause, wird sie sich aber nicht ansehen. "Ich weiß, dass der Militärrat schlimme Dinge tut. Aber wir haben keine Alternative, ohne ihn wäre doch überall Chaos", sagt die 40-jährige Geschäftsfrau, die einen Kosmetikladen in Zamalek führt. Für sie ist politische und wirtschaftliche Stabilität die einzige Lösung der Probleme Ägyptens. Der andauernde Streit und die Ausschreitungen seien schlecht für das Land, im Jahr 2011 ist zum Beispiel fast die Hälfte der Touristen weggeblieben. "Der Rat hat versprochen, Wahlen zu organisieren, das hat er getan. Warum sollte er die Macht im Juni nicht abgeben?"
Am 25. Januar ist der erste Jahrestag der Revolution. Armee und das Volk sollen dann den "Tag der Revolution" feiern, natürlich auf dem Tahrir-Platz. Blutige Auseinandersetzungen zwischen Revolutionären und Militärs sind programmiert, damit rechnen zumindest die Aktivisten. "Kazeboon" will die Menschen auf diesen Tag vorbereiten. "Wenn wir schon von den Militärs verkloppt werden, dann sollen uns wenigstens die Bürger nicht für Kriminelle halten", twittert eine Aktivistin.
"Wenn heute Abend auch nur eine Person ihre Meinung über den Militärrat geändert hat, dann haben wir schon etwas erreicht", sagt Wahel Mohammad auf dem Marktplatz in Ard el-Lewa und packt das Equipment zusammen. Verkäufer Abdallah zumindest hat ein Flugblatt mitgenommen.
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