Das protestantische Christentum boomt im Süden der koreanischen Halbinsel. Doch auch bei den Anfängen Nordkoreas spielten Missionare eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Bei der Yoido Full Gospel Church gleicht jeder Sonntag einer kleinen Völkerwanderung. Dutzende von Freiwilligen regeln an diesem Herbstvormittag in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul den ankommenden Verkehr von sperrigen Geländewagen. Aus Linienbussen strömen Senioren in dunklen Anzügen, Jugendliche in Skinny-Jeans und ältere Damen mit grossen Sonnenschirmen auf den Vorplatz der Kirche. Deren Dimensionen erinnern eher an ein Fussballstadion als an einen Gebetsraum, insgesamt 12 000 Sitzplätze sind vorhanden. Die Predigt, sieben wird es insgesamt an diesem Sonntag geben, wird auf zwei riesige Leinwände projiziert und in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Gegen Ende der Andacht geht es auch um Nordkorea. Mit einem Gebet wendet sich der Pastor gegen die dortigen Atomsprengköpfe.
Längst gilt der christliche Glaube in Südkorea als Exportschlager. Das Land am Han-Fluss beheimatet mit der Yoido Full Gospel Church, die 780 000 registrierte Mitglieder für sich beansprucht, die grösste Kirchengemeinde der Welt. Wie kaum ein anderer Ort wird Seouls Stadtbild von Abertausenden von Kirchen geprägt. Mit ihren rot leuchtenden Kreuzen dominieren sie das nächtliche Panorama. In den Fussgängerzonen im Zentrum verkünden fanatische Gläubige mit Megafonen die Heilsversprechungen Jesu. Viele der renommierten Universitäten und Krankenhäuser des Landes wurden von protestantischen Missionaren gegründet. Das moderne Südkorea wäre ohne Luthers Geist ein fundamental anderes Land.
Missionar statt DolmetscherDabei verliefen die Anfänge des Protestantismus auf der koreanischen Halbinsel ausserordentlich blutig. Am 16. August 1866 legte der Waliser Missionar Robert Jermain Thomas mit dem amerikanischen Raddampfer "General Sherman" auf der Yanggak-Insel im Daedong-Fluss an, mitten im Stadtzentrum von Pjongjang. Thomas hatte sich offiziell als Dolmetscher ausgegeben, doch anstatt das abgeschottete Land für den Handel zu öffnen, plante der 27-Jährige, heimlich die Lehre Christi zu verbreiten. Bereits im Vorjahr besuchte er für zweieinhalb Monate den bis dato weissen Fleck auf der missionarischen Landkarte. Nach dem deutschen Lutheraner Karl Gützlaff (1803-1851) war er der zweite Protestant, der koreanischen Boden betrat.
Damals notierte Thomas in sein Tagebuch: "Die Koreaner sind in ihrer Gesamtheit zwar feindlich gegenüber Ausländern gestimmt, aber nach einem kleinen Gespräch in ihrer Landessprache konnte ich sie dazu überreden, ein paar Bücher Gottes anzunehmen. Da auf deren Besitz Enthauptung steht, können wir davon ausgehen, dass die neuen Besitzer ihre Bibeln auch tatsächlich lesen wollen." Rückblickend wirkt diese unerschrockene Art geradezu naiv. Der herrschende Regent Daewon-gun betrieb damals schliesslich eine strikte Abschottungspolitik gegenüber westlichen Kolonialmächten. Besonders paranoid ging er gegen Christen vor, mit massenhaften Hinrichtungen. Daewon-gun und seine Vorgänger, die Herrscher der Joseon-Dynastie, lehnten das Christentum vor allem ab, weil es seinen Anhängern die in der konfuzianischen Kultur integrale Ahnenverehrung verbietet. Zudem wurden die egalitären Ideen des Glaubens als Gefahr für die soziale Ordnung betrachtet, die von einem durch die Geburt bestimmten Kastensystem geformt wurde.
Die Mission der "Sherman" endete in einem Desaster. Nachdem sich die Koreaner nachhaltig verweigert hatten, mit den ausländischen Besuchern Geschäfte zu machen, kam es zu einem tagelangen Kampf. Schliesslich wurde das Schiff von den Koreanern in Brand gesteckt. Vor diesem Hintergrund ist es verwunderlich, dass man den Namen von Robert Jermain Thomas überhaupt noch kennt. In Südkorea erzählt man sich noch 150 Jahre später, wie der walisische Lutheraner vom brennenden Boot sprang und von feindlichen Truppen geborgen wurde. Kniend soll er seinem Mörder begegnet sein und ihm vor seinem Tod noch eine Bibel gereicht haben. Später soll ebenjener Koreaner zum christlichen Glauben übergetreten sein und sein Haus zur Kirche ausgerufen haben.
Dass die Zahl der Protestanten danach wuchs, hat tatsächlich weniger mit dem Waliser Missionar zu tun als mit dem 1882 von den Amerikanern ausgehandelten Handels- und Freundschaftsvertrag, der eine Schutzklausel für christliche Missionare vorsah. Wenig später wurde Pjongjang bereits im Westen voll Bewunderung das "Jerusalem Ostasiens" genannt - mit mehreren hundert protestantischen Gemeinden. Eine bittere Ironie der Geschichte ist es, dass die christliche Vergangenheit Pjongjangs fast in Vergessenheit geraten ist. Schliesslich trug der Protestantismus in Nordkorea sein eigenes Todesurteil in sich. Die Missionare kümmerten sich vor allem um Schulen und die medizinische Versorgung, da das aktive Bekehren erst allmählich von den Behörden geduldet wurde. Damit prägten sie eine christliche Bildungselite und setzten innerhalb der damaligen Joseon-Dynastie einen gesellschaftlichen Wandlungsprozess in Gang. Sie brachten die Differenzialrechnung, die Newtonsche Physik, aber auch Impulse für repräsentative Regierungsformen ins Land.
Marx und die MissionareDie ideologischen Grossväter des nordkoreanischen Regimes, also die ersten koreanischen Kommunisten, konnten sich nur der marxistischen Lehre widmen, weil sie zuvor - vermittelt durch die christlichen Missionare - einen modernen Bildungshintergrund hatten. "Praktisch alle von ihnen waren in ihrer Jugend Bibelschüler", sagt der renommierte Nordkorea-Experte Andrei Lankov von der Kookmin-Universität in Seoul.
Auch die Mutter von Nordkoreas Staatsgründer Kim Il Sung war nachweislich eine leidenschaftliche Protestantin. Später sollte ihr Sohn beim Gründungsmythos Nordkoreas sowie beim "göttlichen" Personenkult um die Kim-Familie aus der biblischen Symbolik schöpfen. Gleichzeitig unterdrückte Kim Il Sung jedoch wie kein Zweiter die Christen im 1948 gegründeten Staat. Dies vor allem auf Anweisung Stalins, der Nordkorea zu Beginn vor allem als sowjetischen Vasallenstaat betrachtete. Missionare galten nun in der offiziellen Propaganda als blutrünstige amerikanische Spione, die während des Koreakriegs (1950-1953) unschuldige Kinder mit Giftspritzen töteten. Die Lage ist nicht besser geworden. Die Hilfsorganisation "Open Doors" sieht Nordkorea seit 16 Jahren an der Spitze der Länder, in denen Christen weltweit am schlimmsten verfolgt werden.
Im südlichen Teil der Halbinsel florierte der Protestantismus hingegen nach dem Koreakrieg wie in keinem anderen asiatischen Land. Mittlerweile gibt es laut der jüngsten Volkszählung von 2015 knapp 21 Prozent Protestanten und 8 Prozent Katholiken. Der rasante Anstieg hat vor allem damit zu tun, dass die europäischen und amerikanischen Missionare als historisch nicht vorbelastet galten. Während der japanischen Kolonialzeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts standen sie zumeist auf der Seite der koreanischen Unabhängigkeitsbewegung. Der Protestantismus stillte zudem die Sehnsucht der Koreaner nach Moderne, Wohlstand und Egalität. Als durch die rasante Industrialisierung schliesslich Millionen in die Ballungsräume kamen, suchten viele von ihnen Orientierung und Halt, aber auch berufliche Netzwerke in den rasch wachsenden protestantischen Gemeinden. Allein die Hauptstadt Seoul beheimatet 17 Megakirchen mit über 2000 Gottesdienstbesuchern jede Woche.
Nähe zu MilitärregimenDies mag auf den ersten Blick wie eine Erfolgsgeschichte klingen. Für Malte Rhinow, einen gebürtigen Bayern, der seit den neunziger Jahren Theologiestudenten in Südkorea unterrichtet, fällt das Résumé allerdings wesentlich ambivalenter aus. Er sieht in seiner Wahlheimat eine zunehmende Entfremdung vom Geiste Luthers. "Die Kirchen müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, sich zu sehr der Gesellschaft angepasst zu haben", sagt Rhinow. Viele Pfarrer hätten sich unter den autokratischen Militärregierungen zu sehr auf die Seite der Herrschenden geschlagen.
Tatsächlich fanden sie mit den damaligen Regierungen auch Verbündete. Das dominierende Wohlstandsevangelium - Geld und Erfolg als Beweis dafür, in der Gunst Gottes zu stehen - passte perfekt zur exportorientierten Planwirtschaft des koreanischen Übervaters Park Chung Hee, der während seiner Amtszeit (1960-1979) Südkorea mit eiserner Hand zur modernen Industrienation transformierte. Auch der fanatische Antikommunismus, den die Kirchenvertreter durch die Christenverfolgung in Nordkorea hegten, teilten die beiden Seiten. So blieb es vor allem an der katholischen Kirche, sich während des Kalten Krieges für die studentischen Demokratieaktivisten einzusetzen.
Nun ein KatholikDer politische Einfluss der konservativen Protestanten kulminierte schliesslich unter Präsident Lee Myung Bak (2008-2013), der selber Anhänger der Somang-Megakirche ist. Damals sagte die Historikerin Yun Sang Hyeon von der renommierten Seouler Nationaluniversität: "Unter Professoren gibt es ein stillschweigendes Abkommen: Forsche nie über das Christentum, wenn du deine Arbeit behalten willst."
Die mächtigsten Pastoren führten ihre Kirchen oftmals wie familieneigene Mischkonzerne. In jüngster Zeit gerieten sie immer wieder durch Korruptionsskandale und Zwist um Erbfolgen in die Schlagzeilen. Besonders junge Südkoreaner, misstrauisch gegen Institutionen und Hierarchien, wenden sich seit einigen Jahren vermehrt von den Grossgemeinden ab. Damit spiegeln sich die politischen Umbrüche des Landes auch in der Religion wider.
Im vergangenen Jahr wurde Südkorea vom bisher grössten Korruptionsskandal rund um die damalige konservative Präsidentin Park Geun Hye erschüttert. Ihre konservative Stammwählerschaft speiste sich vor allem aus dem Protestantismus. Die wichtigen Pfarrer des Landes mischten sich nicht selten in die Parteipolitik ein. Die Jugend des Landes hingegen demonstrierte über Monate auf der anderen Seite. Zum Erstaunen der etablierten Medien setzte sich die "Grassroots"-Bewegung gegen das politische Establishment durch.
Bei den Neuwahlen im Mai entschied sich das Volk mit einem Erdrutschsieg nicht nur für einen Nachfolger aus der linksliberalen Oppositionspartei. Es ist überdies kein Zufall, dass Südkoreas neuer Präsident Moon Jae In praktizierender Katholik ist.