10 subscriptions and 5 subscribers
Article

Ein Jahr verlängert: Eva Werner über ihr Studium in London / 8.11.1999

In diesem Beitrag berichtet Eva Werner über ihre Studienerfahrungen in London. Die Augsburger Anglistik-Studentin hat sich 1997 entschlossen, im Rahmen des ERASMUS-Programms ein Jahr lang in der britischen Hauptstadt zu studieren. Warum daraus nun zwei Jahre geworden sind und warum sie wieder nach London gehen wird, schilderte sie in einem Artikel für die Nürnberger Zeitung vom 17. März 1999. 



Es war in einer Novembernacht: Eigentlich wollte ich nur ein Jahr in London studieren. In dieser einen Novembernacht diskutierte ich aber stundenlang mit anderen Studenten auf einem Balkon in London. Wir haben uns damals gestritten - über die hässliche Häusergegend. Wir haben uns gestritten, ob sie Freiheit oder Macht ausdrückt. Mir fiel die Antwort einfach: Für mich bedeutete mein erstes Jahr an der Uni in London Freiheit. Ganz allein auf mich gestellt zu sein, mich in einer fremden Stadt zurechtzufinden und dafür alleine verantwortlich zu sein, was ich mache - das gab mir unheimlichen Auftrieb, noch ein Jahr dranzuhängen.


Spontan entschloss ich mich deshalb: Ich will länger bleiben. In diesem Jahr schrieb ich mich als reguläre Studentin an der University of London ein. Im Mai mache ich hier meinen Abschluss. Anschließend erst - ein Jahr später als vorgesehen - kehre ich nach Deutschland zurück, um dort an der Uni Augsburg weiter zu studieren.


Viel persönlicher als in Deutschland

Die Dozenten haben mir sehr geholfen, damit ich mich schnell integrieren konnte. Sie standen mir von Anfang an mit Rat und Tat zur Seite und halfen mir sehr dabei, Formalitäten zu bewältigen. Das Verhältnis zwischen Dozenten und Studenten ist viel persönlicher als in Deutschland: Die Dozenten kennen alle Seminarteilnehmer mit Vornamen. Es ist gar keine Seltenheit, dass Dozenten den Studenten vor Prüfungen ihre Privattelefonnummer geben, um bei Fragen jederzeit erreichbar zu sein. Auch von den englischen Studenten wurde ich herzlich aufgenommen und bekam viele Tipps von ihnen: Sie zeigten mir zum Beispiel alte Hausarbeiten, an denen ich mich orientieren konnte. In Deutschland muss ich für eine Hausarbeit etwa doppelt so viel lesen wie in London - dafür nicht jede Woche. Das Studienjahr in England besteht aus zwei "terms": aus einem von Oktober bis Dezember sowie einem von Januar bis April. Pro "term" sind genau acht Semesterwochenstunden vorgeschrieben. Anwesenheit ist Pflicht und wird auch kontrolliert. Vorlesungen gibt es keine, nur gelegentlich finden Gastvorträge statt. Im Mai ist ein "exam term": Die Studenten müssen Prüfungen zu den Seminaren der zwei vorhergegangenen Semester ablegen.

Fast in jeder Woche eine deadline

Während der Semester fällt viel Arbeit an. In fast jeder Woche liegt eine "deadline", das heißt, es ist Abgabeschluss für eine Hausarbeit. Der Umfang dieser Essays beträgt je nach Seminar zwischen 2500 und 5000 Wörtern (das sind etwa fünf oder zehn Schreibmaschinenseiten). Die Literatur für diese Essays wird von den Dozenten angegeben, eigene Ergänzungen sind erwünscht. Die Arbeiten sollen einen Einblick in die verschiedenen Forschungsmeinungen zu einem bestimmten Thema geben, dazu eine Stellungnahme des Studenten. Der Zeitdruck macht es allerdings unmöglich, so umfangreich in die Materie einzusteigen, wie es in Deutschland bei Hausarbeiten erwartet wird. Durch die große Anzahl von Essays eignet man sich jedoch schnell ein breitgefächertes Wissen innerhalb eines Themengebietes an. Dies ist genauso wichtig wie das detaillierte Erforschen eines eng umgrenzten Wissensgebietes, worauf in Deutschland so hoher Wert gelegt wird.

Das Kursangebot bleibt im wesentlichen jedes Jahr gleich, die Dozenten sind mit der Thematik seit Jahren vertraut. Das Angebot ist jedoch so breit gefächert, dass auch nach mehrjährigem Studium sicher noch interessante Seminare übrig bleiben. Besonders gereizt hätte mich ein Kurs, in dem man lernt, Filme zu analysieren. Leider habe ich das aber zeitlich nicht mehr auf die Reihe gekriegt.


Freunde aus allen Nationen

Neben dem britischen Uni-System fasziniert mich an London vor allem die multikulturelle Mischung der Studenten. Der Anteil ausländischer Studenten ist extrem hoch, dazu kommen viele schwarze und asiatische Kommilitonen, deren Familien schon seit Jahren in London leben. Auch mein Freundeskreis setzt sich mittlerweile aus den verschiedensten Nationen zusammen.


Das hat dazu beigetragen, mein Wissen über andere Kulturen zu erweitern: Jennifer aus Malaysia hat mir zum Beispiel von der dortigen Wirtschaftskrise erzählt; von Roberto aus Kenia habe ich erfahren, in welchen Gebieten seines Landes Malaria gefährlich werden kann; und dass er zunächst einen Kulturschock erlebte, als er nach London kam.

Kurz und gut, die Vielseitigkeit des Londoner Studentenlebens hat auch nach fast zwei Jahren nichts an ihrem Reiz für mich verloren, und ganz nebenbei habe ich mir dabei auch noch fließendes Englisch angeeignet. Auf keinen Fall möchte ich die Erfahrungen hier missen. Ob ich wieder nach London gehen werde? Klar, die Freiheit, etwas Neues aufzubauen, hat mich wahnsinnig fasziniert.

Original