Tamara* und Marie* wissen, dass das, was sie vorhaben, strafbar ist, als sie am 2. März das erste Mal in Kontakt treten. Die eine handelt aus Verzweiflung. Die andere aus Überzeugung.(* Namen geändert)
Tamara K., 34, braucht eine Abtreibung, schreibt sie an diesem Tag in einer Mail. Schnell und unkompliziert sollte es gehen, wird sie später erzählen. Der Ex-Mann habe sie wieder bedroht. Neun Mal habe sie ihn seit der Trennung vor acht Monaten schon angezeigt. Die Verletzungen der letzten Übergriffe habe sie sich im Krankenhaus attestieren lassen, sagt sie. Jetzt warte sie auf ein Verfahren. Mit dem Wochenende in Hamburg wollte sie sich ablenken, erzählt sie. Den Kopf frei kriegen. Den Mann, mit dem sie dort die Nacht verbrachte, kennt sie nicht gut. Das Kondom riss. Ein drittes Kind kommt für die Altenpflegerin nicht in Frage. Eine Abtreibung auf legalem Weg, wie sie in Deutschland möglich ist, erscheint ihr in ihrer Lage auch keine Option. Sie sagt, sie fühle sich vom Ex-Partner beobachtet, habe Angst, er könne sie auf dem Weg zum Beratungstermin oder ins Krankenhaus verfolgen. Im Internet stößt sie auf die Seite einer Organisation, die Abtreibungspillen online verschickt. Gegen Spende, anonym und ohne die gesetzlich vorgeschriebene Beratung. Tamara zögert keinen Moment. Sie füllt einen Fragebogen aus.
Nervös überprüft sie an diesem Tag immer wieder ihr Mailpostfach. Von der ungewollten Schwangerschaft hat sie niemandem erzählt. Nur ihr Frauenarzt weiß, dass sie in der vierten Woche schwanger ist. Sie hat ihm gesagt, dass sie das Kind nicht behalten möchte. Dass sie die Abtreibung nicht in einem Krankenhaus, sondern zu Hause und ohne ärztliche Betreuung vornehmen will, weiß er nicht.
Wenn eine Frau in Deutschland ihre Schwangerschaft beenden möchten, ist dies unter bestimmten Voraussetzung straffrei und sicher möglich. Aber es gibt offenbar ungewollt Schwangere, die diese Möglichkeit für sich nicht sehen.
Tamaras Mail ist eine von rund einem Dutzend Anfragen, die Marie an diesem Tag erreichen. In ihrer Antwort listet Marie offizielle Hilfsangebote und Beratungsstellen auf und schreibt:
„Wir möchten Sie mit dieser Email über die derzeitige rechtliche Situation in Deutschland informieren und darüber, wo Sie Hilfe und Info erhalten, um in Deutschland eine legale Abtreibung durchführen zu können. (…) Wenn Sie der Meinung sind, dass Sie in Deutschland keinen Zugang zu Abtreibungsdiensten haben, würden wir Sie bitten, uns mehr über die Gründe dafür zu mitzuteilen. Eine Ärztin oder Arzt wird Ihre Hilfsanfrage prüfen und wir werden Sie so schnell wie möglich darüber informieren, ob wir Ihnen irgendwie helfen können. Bitte senden Sie uns, falls vorhanden, auch eine Kopie Ihres Ultraschallbildes mit Datum, Namen sowie Scaninformation oder einen ärztlichen Befundbericht. (...)“
„Hallo, ja danke für die Mail. Ja, das weiss ich alles. Meine Situation ist einfach nicht die beste. Trennung und Morddrohung und Stalking vom Ex und nun war ich ein Wochenende aus und es passierte: das Kondom platzte. Ich habe keinen Kopf, um mich mit dem Ganzen auch noch auseinander zu setzen und möchte das für mich alleine machen.“
Der ewige Streit um den Schwangerschaftsabbruch
In den 1970er Jahren feierte die Frauenbewegung die Abtreibungsdebatte als Errungenschaft. Bis heute beschäftigen die Paragraphen 218 und 219 den Bundestag und die Gerichte. Zuletzt im Streit darüber, ob Ärztinnen auf ihrer Website darauf hinweisen dürfen, welche Formen des Abbruchs in ihren Praxen möglich sind. Das Amtsgericht Berlin entschied: Sie dürfen nicht. Jede Änderung der Gesetzesgrundlage von 1871 ist umkämpft. Die Frage, wann das Leben anfängt und wer darüber entscheiden darf, birgt ein spalterisches Potenzial wie kaum eine andere politische Debatte. (§§ 218, 219, siehe Textende)
Seit einer Gesetzesreform von 1976 ist ein Schwangerschaftsabbruch in Deutschland zwar weiterhin grundsätzlich strafbar, unter bestimmten Voraussetzungen aber möglich: Die Schwangerschaft darf die 14. Woche nicht überschreiten, die Frau muss den Abbruch explizit erfragen und hierfür eine Konfliktberatungsstelle aufsuchen. Dort muss sie darlegen, warum eine ungewollte Schwangerschaft sie in eine soziale oder psychische Notsituation bringen würde. Bei Vergewaltigungen oder gesundheitlichen Risiken wird dieser Schritt übersprungen. Drei Tage Bedenkzeit müssen vergehen, bevor die Frau mit einem von der Beratungsstelle ausgestellten Schein den Abbruch durchführen lassen kann. Vornehmen darf ihn nur ein Arzt oder eine Ärztin.
100.893 Frauen haben sich im vergangenen Jahr in Deutschland nach offiziellen Angaben für einen Abbruch entschieden. Hinzu kommen jedoch Frauen, die auf anderem Wege abtreiben. So nehmen etwa einzelne österreichische Gynäkologen nach eigenen Angaben Schwangerschaftsabbrüche bei deutschen Frauen in Österreich vor, die nicht in die Statistik eingehen. Dort sind die Hürden etwas niedriger. Und dann gibt es Frauen, die sich gar keinem Arzt, keiner Ärztin anvertrauen, sondern im Verborgenen selbst abtreiben. Ihre Zahl lässt sich nicht erfassen. Allein über das Portal, auf das Tamara bei ihrer Suche stößt, hätten im vergangenen Jahr rund 200 Frauen aus Deutschland die illegalen Pillen bestellt, sagt Marie.
Warum wollen Frauen illegal abtreiben?
Ein Blick in das Mailpostfach der 28-Jährigen, an einem Mittwoch im März. Die Corona-Pandemie hat in Deutschland gerade ihren ersten Höhepunkt erreicht. Geschäfte, Schulen und Kindergärten sind geschlossen, Deutschland befindet sich im Ausnahmezustand. Nachts arbeitet Marie im Krankenhaus, morgens schaut sie zuerst in ihr E-Mail-Postfach. 13 Anfragen sind es heute. “Durchschnitt”, sagt die Aktivistin, den Laptop auf dem Schoss und die Beine auf dem gestreiften Sofa ausgestreckt. Seit einem Jahr arbeitet die Medizinstudentin für die Organisation, die eine Ärztin in den Niederlanden gegründet hat und die sich nach eigenen Angaben den “sicheren Zugang zu Abtreibungen für Frauen auf der ganzen Welt” zur Aufgabe gemacht hat.
Freiwillige verschicken die Abtreibungspillen vorwiegend in Länder, in denen ein Schwangerschaftsabbruch illegal ist. Nach Malta, Polen, Südkorea, Venezuela sowie einige andere südamerikanische Länder und Nordafrika. Aber eben auch nach Deutschland. Was bewegt Frauen in Deutschland dazu, diesen Weg zu gehen? Sich strafbar zu machen, illegal abzutreiben, die eigene Gesundheitheit in Gefahr zu bringen, statt eine Beratungsstelle und eine Ärztin aufzusuchen? Die Mails, die Marie an diesem Mittwoch im März erhält, vermitteln eine Ahnung davon.
Da ist Luise, die schreibt, sie lebe in einer streng katholischen Familie. Eltern und Ehemann würden einer Abtreibung niemals zustimmen, das Haus könne sie aufgrund der Kontaktbeschränkungen während der Pandemie nicht unbemerkt verlassen.
Carmen schreibt, sie sei nicht krankenversichert, komme aus einer Sinti-Familie und habe keine Papiere. Ihr Mann würde sie zwingen, das Kind zu bekommen, wüsste er von der Schwangerschaft. Eine Cousine hätte bereits gute Erfahrungen mit den Pillen gemacht. Lisa lebt noch bei ihren Eltern und müsse die Schwangerschaft geheim halten. Die ganze Familie bleibe coronabedingt zu Hause, unbemerkt das Haus zu verlassen sei unmöglich. Lena dagegen hatte vor einem halben Jahr bereits eine Abtreibung und schäme sich, erneut die Beratungsstelle aufzusuchen. Christiane schreibt, sie müsse sich die Treppe herunterstürzen, wenn sie die Pillen nicht bekäme. Julia schreibt aus der Corona-Quarantäne. Sie könne momentan nicht aus dem Haus.
Manuel schreibt, seine Frau brauche dringend eine Abtreibung.
Karolin fragt, ob sie sich strafbar mache, wenn sie die Tabletten online bestellt. Maike schreibt, im Ort kenne sie jeder, weshalb ihre Anonymität bei Arzt und Beratungsstellen nicht gesichert sei. (Alle Namen geändert)
Gewalttätige Beziehungssituationen, fehlende Kinderbetreuung, Zwang in der Familie oder Vergewaltigungen sind häufige Gründe, die Frauen bei Marie angeben. Ob diese Angaben den Tatsachen entsprechen, kann die Studentin nicht überprüfen. Dieser Mittwoch zeige einen Querschnitt, der die Anfragen gut repräsentiere, sagt sie. Mal sind es drei, mal 20 Anfragen am Tag.
Die Hürden auf dem Land
Marie liest und beantwortet die Mails zwischen Uni-Vorlesungen, im Urlaub oder nach einer Nachtschicht im Krankenhaus. Sie ist die einzige Person bei der Organisation, die Fragen auf Deutsch beantwortet. Binnen 24 Stunden bekommen die Frauen eine Rückmeldung, heißt es auf der Homepage. Das Projekt liege ihr am Herzen, sagt Marie, “obwohl es manchmal ziemlich belastend ist, Frauen in so verzweifelten Situationen beizustehen. Einen persönlichen Kontakt werde ich nie ersetzen können”. Marie sieht ihr Angebot nicht als Alternative zu legalen Schwangerschaftsabbrüchen, sondern als Ergänzung: “Wir haben nicht den Anspruch, die Aufgabe des Staates zu übernehmen”, sagt sie mit Blick auf die staatlich zertifizierten Anlaufstellen, die es gibt. “Wir füllen eine Lücke, wo der Zugang zu sicheren Abtreibungen noch nicht gegeben ist.“ Und dazu zählt sie auch Deutschland.
“Theoretisch ist der Zugang hier möglich. Praktisch erfahre ich jeden Tag das Gegenteil”, sagt Marie. In manchen Gegenden Deutschlands, wie etwa in Niederbayern und vor allem in ländlichen Regionen, müssen Frauen weit fahren bis zur nächsten Beratungsstelle, manchmal sogar bis zu 200 Kilometer, wie die Beratungsstelle pro familia beklagt. “Ortsnah” müsse ein Eingriff gesichert sein, heißt es im Gesetzestext. Was das genau bedeutet, ist nicht definiert. In der Corona-Pandemie hätten sich die regionalen Unterschiede verschärft und die Hürden für eine legale Abtreibung noch erhöht, bestätigt pro familia. Verbände wie “Doctors for Choice Deutschland” warnten schon zu Beginn der Pandemie vor einem Anstieg ungewollter Schwangerschaften aufgrund wachsender sexualisierter Gewalt im Familienumfeld.
330 Praxen und Krankenhäuser, in denen Abtreibungen durchgeführt werden, listet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung auf. In Großstädten wie Hamburg oder Berlin seien Beratung und Durchführung nach Einschätzung von pro familia weiterhin problemlos möglich. Im Raum Passau dagegen schloss der letzte Arzt, der in der Region Abbrüche vornimmt, im Frühjahr seine Praxis, da er altersbedingt zur Corona-Risikogruppe zählt. Eine dramatische Situation in Zeiten, in denen häusliche Gewalt und der Druck auf Frauen zugenommen haben. Seit Beginn des Corona-Lockdown hätten Marie drei Mal so viele Anfragen wie gewöhnlich erreicht, berichtet sie bei dem Gespräch im März.
Marie sah sich anfangs nicht als Aktivistin. Sie sei da “so reingerutscht”. Einen Schwangerschaftsabbruch hatte sie selbst nicht. Ein Film brachte sie dazu, sich mehr mit dem Thema zu beschäftigen. “Abtreibung ist noch immer ein Tabu in Deutschland. Auch in der Medizin. Im Studium lernen wir nicht, wie Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden, obwohl das ein häufiger Eingriff ist”, sagt sie.
Die Risiken des Abbruchs
Die Medikamente, die Frauen wie Tamara von der Organisation bekommen, enthalten Wirkstoffe, die auch bei legalen medikamentösen Schwangerschaftsabbrüchen eingesetzt werden. Vorgeschrieben ist allerdings, dass nur Ärzte und Ärztinnen diese Medikamente ausgeben dürfen und dass sie den Abbruch überwachen. Denn das Verfahren birgt Risiken. Manchmal kann ein medikamentöser Abbruch Sturzblutungen oder Infektionen nach sich ziehen. In wenigen Fällen ist der Schwangerschaftsabbruch nicht vollständig und muss doch ärztlich zu Ende gebracht werden.
Auf Anfrage von ZEIT ONLINE verweist die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe auf die Warnhinweise der Firma Nordic Pharma, deren Medikamente in deutschen Kliniken zum Schwangerschaftsabbruch eingesetzt werden und deren Wirkstoffe auch in den Pillen enthalten sind, die die Organisation im Netz verschickt. Die Firma warnt, dass ein Misserfolg in bis zu sieben Prozent der Fälle eintreten könne, weshalb ein späterer ärztlicher Kontrolltermin unverzichtbar sei. Starke anhaltende, die Frau gefährdende Blutungen können bei etwa einem Prozent der Fälle auftreten. Auch auf das Risiko schwerer Infektionen sowie mögliche Gefahren für die Herzgesundheit weist der Hersteller hin. “Während der Einnahme sowie drei Stunden danach müssen die Patientinnen in der Klinik (...) überwacht werden”, heißt es in dem Informationsblatt.
Für manche Frauen ist die Einnahme der Pillen von vornherein riskant. Kaiserschnitte und bestimmte Vorerkrankungen erhöhen das Risiko für Komplikationen. Frauen mit schwerem Asthma, chronischen Nieren- oder Lebererkrankungen dürfen die Mittel nicht nehmen. Auch bei einer Eileiterschwangerschaft oder einem erhöhten Blutungsrisiko dürfen sie nicht eingesetzt werden.
Aus diesen Gründen folgt auch Marie bei jeder Anfrage einem festgelegten Protokoll, bevor sie die Pillen verschickt: Zuerst leitet sie den medizinischen Fragebogen, den Frauen bei der Kontaktaufnahme ausfüllen müssen, an eine Ärztin weiter. Die Medizinerin stand in den 1970er-Jahren selbst für das Recht auf Abtreibung auf der Straße. Heute ist sie im Ruhestand und prüft ehrenamtlich, ob medizinische Bedenken vorliegen, ob die Frau bereits einen Kaiserschnitt hatte oder bestimmte Erkrankungen hat. Eine zu weit fortgeschrittene Schwangerschaft ist ein Ausschlusskriterium – Marie verschickt die Pillen nur an Frauen, die höchstens in der neunten Woche schwanger sind. Dabei muss sich die Organisation auf die Aussagen der Frauen verlassen. Wenn Angaben widersprüchlich wirken, verlangt die Ärztin einen Nachweis in Form ärztlicher Befunde oder Ultraschallbilder.
Ziel sei es immer, die Frauen zuerst an offizielle Stellen zu vermitteln, beteuert Marie. Bei einem Drittel aller Anfragen gelinge das. Oft wüssten die Frauen beispielsweise nicht, dass der legale Eingriff unter einer Einkommensgrenze von 1.258 Euro von den Krankenkassen übernommen werden kann, oder wo die nächste Beratungsstelle zu finden ist. Erst wenn alle Vermittlungsversuche fehlschlagen oder Frauen triftige Gründe liefern, warum sie sich nicht frei bewegen können, leite Marie den Versand der Pillen gegen eine Spende an die Organisation ein.
“Vielen Dank für Deine Email und Dein Vertrauen in uns. Ein Arzt wird Deine Hilfsanfrage überprüfen und wir werden Dich so schnell wie möglich darüber informieren, ob wir Dir irgendwie helfen können. Bitte schreibe uns auch auf jeden Fall, wenn Du die Ergebnisse von Deinem Arzt erhalten hast. Wir geben keine Deiner persönlichen Informationen weiter. Wir verurteilen Deine Situation nicht, wir möchten sicherstellen, dass Deine Gesundheit gewährleistet ist und Du die bestmögliche Behandlung in Deiner Situation erhältst.”
“Vielen lieben Dank, ich werde mich am Donnerstag sofort melden! Ich habe ja meinem Arzt das auch gesagt, dass ich es nicht behalten werde. Aber aufgrund meiner Situation, die Trennung vom Ex-Mann und sein Terror und meiner Kinder würde ich es im Falle gerne zu Hause medikamentös machen. Ja, Kliniken sind schnell zu erreichen bei uns. LG und danke“
Tamara wohnt in einer mittelgroßen Kleinstadt. Hier gibt es eine Beratungsstelle in ihrer Nähe. Trotzdem erscheint es ihr unmöglich, dorthin zu gehen: “Ich hätte keine Kinderbetreuung gefunden, ohne jemandem erzählen zu müssen, wo ich hingehe. Die offiziellen Termine wären ein enormer Aufwand gewesen, der in meinem Leben gerade nicht möglich ist”, erzählt sie später.
Vor 15 Jahren hatte sie bereits eine Abtreibung. Der Abbruch erfolgte in einem Krankenhaus. Ambulante Ausschabung. “Ich habe damals sehr unter dem Eingriff gelitten. Ich wollte es deshalb dieses Mal unbedingt mit Tabletten versuchen”, sagt sie.
In Indien sind die Pillen frei verkäuflich
Die Organisation, für die Marie arbeitet, verschickt die Pillen in unscheinbaren CD-Hüllen. Meist kommen sie aus Indien, wo sie frei verkäuflich sind. Um nicht aufzufallen, gibt Marie die Pakete in unterschiedlichen Postfilialen ab, sagt sie. Ihre Überzeugung verdrängt die Angst vor einer strafrechtlichen Verfolgung: “Die WHO stuft den sicheren und niedrigschwelligen Zugang zu Abtreibungsmedikamenten als Menschenrecht ein. Solange der auch in Deutschland nicht gegeben ist, sehe ich es als meine Pflicht, als angehende Medizinerin jenen zu helfen, die in Not sind.” Dass sie ihre künftige Approbation als Ärztin aufs Spiel setzt, mache ihr mehr Angst als eine mögliche Gefängnis- oder Geldstrafe. An Tamara schreibt sie:
“Das Paket wird versandt und Du erhältst eine E-mail mit der Sendungsnummer, so dass Du Bescheid weißt, ab wann das Eintreffen des Pakets zu erwarten ist. Bitte sag uns Bescheid, sobald Du das Paket erhalten hast. Bleib in Kontakt mit uns und zögere nicht, uns zu schreiben, wenn Du Fragen haben solltest. Wir sind da, um Dich zu unterstützen.“
Zwei Wochen nachdem Tamara ihre erste Anfrage an Marie geschickt hat, kommt das Paket an. Sie ist aufgeregt. Mittlerweile ist sie in der siebten Woche schwanger. “Ich war morgens schon sehr nervös”, erinnert sie sich. In einem Päckchen, aufgeklebt auf ein Stück Papier, findet sie die Medikamente. Am Freitag nimmt sie die erste Tablette, am Samstag um 14 Uhr die zweite. So steht es in der Anleitung, die ihr per Mail zugeschickt wurde. Dort heißt es auch: Sie solle die Tabletten nur dann einnehmen, wenn ein Krankenhaus in unmittelbarer Nähe sei. Wegen der Nebenwirkungen. Sie könnte ohnmächtig werden vor Schmerz, oder stärkere Blutungen bekommen als erwartet.
Niemand weiß, was Tamara an diesem Nachmittag vorhat. Entgegen der Empfehlung nimmt sie die Pillen alleine ein. Zwei Stunden später kommen die ersten Krämpfe. Dann die Blutungen. “Es fühlte sich an wie Wehen”, sagt Tamara am Telefon. “Um mich von den Schmerzen abzulenken schrieb ich mit Freunden hin und her. Ich spürte, wie es abging. Danach fühlte ich mich erschöpft, aber total befreit.”
Rund zwei Drittel der Frauen, denen Marie die Pillen zugeschickt, füllen danach einen Evaluationsbogen aus. Bei dem verbleibenden Drittel wird die Aktivistin nie erfahren, ob es Komplikationen gab oder nicht.
Ob eine Frau einen Abbruch oder eine Fehlgeburt hatte, kann – falls es zum Notfall kommt – im Krankenhaus nicht festgestellt werden. Marie ist überzeugt: Frauen, die keinen anderen Ausweg sehen, werden immer Wege finden, abzutreiben. Das Risiko eines unbegleiteten Schwangerschaftsabbruchs nehme jede der Frauen eigenverantwortlich in kauf. Sie sorge sich eher um jene Frauen, die mit nicht zugelassenen Medikamenten, sondern mit Hausmitteln oder unter Gewalteinwirkung versuchen abzutreiben.
Ende März meldet sich Tamara bei Marie. Sie schreibt:
„Guten Abend, wollte sagen, dass heute alles in Ordnung war. Keine Schwangerschaft mehr zu sehen. Ich muss nächste Woche zur Blutentnahme und hoffe, dass keine Reste mehr da sind. Ich bedanke mich bei euch von ganzem ganzem Herzen!“
Kurz nach der Abtreibung sei sie bei ihrem Frauenarzt zur Nachuntersuchung gewesen. Sie habe am Wochenende starke Blutungen gehabt, habe sie angegeben. Der Arzt habe nicht weiter nachgefragt und eine Fehlgeburt festgestellt.
Viele Anlaufstellen wie pro familia haben inzwischen auch Online-Beratungen eingeführt, um auf die Corona-Pandemie zu reagieren und den Frauen den Weg zur Beratungsstelle zu ersparen. Weitere Informationen finden sich unter anderem bei pro familia.
Transparenzkasten:
Auf dem ersten Höhepunkt der Pandemie im Frühjahr traf die Autorin Marie* in ihrer Wohnung in einer deutschen Großstadt. Im weiteren Verlauf der Recherche kommunizierten die beiden über verschlüsselte Nachrichten. Frauen, die von dieser Organisation Pillen erhalten, können nach dem Schwangerschaftsabbruch in einem Evaluationsbogen angeben, ob sie mit Journalistinnen sprechen würden. Tamara* war eine von ihnen. Da ein Besuch bei ihr nicht möglich war, kommunizierte die Autorin mit ihr am Telefon sowie mit Text- und Sprachnachrichten. Über einen Zeitraum von zwei Wochen traten sie immer wieder in Kontakt.
*Die Namen wurden im Text anonymisiert. Die echten Namen sind der Redaktion bekannt.
INFOBOX 1:
Beratung: Wenn eine Frau in Deutschland einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen möchte, muss sie zunächst einen Termin bei einer staatlich anerkannten Beratungsstelle wahrnehmen. Anlaufstellen zur Beratung finden sich in Deutschland in jedem Landkreis. Dort werden Schwangere vertraulich über ihre Optionen beraten und erhalten einen Beratungsschein, der Voraussetzung ist für den Abbruch in einem Krankenhaus oder bei einer Frauenärztin. Bei der Beratung wird die Schwangere auch über Einrichtungen in ihrer Umgebung informiert, die den Abbruch vornehmen. Eine Liste ohne Anspruch auf Vollständigkeit findet sich auch bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).
Verfahren des Abbruchs: Ein Abbruch mit Medikamenten ist in Deutschland bis zur Vollendung der 9. Schwangerschaftswoche möglich – das heißt bis zum 63. Tag nach dem Beginn der letzten Monatsblutung. Dabei nimmt die Frau unter ärztlicher Aufsicht zunächst ein Medikament ein, das den Abbruch einleitet. Nach zwei Tagen ist ein erneuter ärztlicher Termin notwendig, bei dem ein weiteres Medikament den tatsächlichen Abbruch herbeiführt. Eine alternative zum medikamentösen Verfahren ist der operative Abbruch, der unter örtlicher Betäubung oder Vollnarkose erfolgt. Er kann bis zur 14. Schwangerschaftswoche vorgenommen werden – also bis zur 14. Woche nach dem Beginn der letzten Regelblutung. Das entspricht der 12. Woche ab Empfängnis (Befruchtung). Beide Arten des Schwangerschaftsabbruch müssen in einem Krankenhaus oder in einer dafür zugelassenen Praxis erfolgen. Weitere Informationen zum Schwangerschaftsabbruch gibt es auf den Seiten der BZgA oder bei profamilia – auch dort gibt es eine Übersicht der einzelnen Beratungsstellen vor Ort.
INFOBOX 2:
Paragraf 218: Ein Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland gemäß § 218 Strafgesetzbuch (StGB) grundsätzlich für alle Beteiligten strafbar. Nach § 218a kann ein Abbruch aber bis zur 14. Schwangerschaftswoche (12. Woche nach Empfängnis) straffrei durchgeführt werden, wenn die Frau sich ihre Notlage beim Besuch einer offiziellen Beratungsstelle bescheinigen lässt. Zwischen dem Beratungstermin und dem Eingriff müssen mindestens drei Tage vergehen. Bestehen medizinische Gründe, die einen Schwangerschaftsabbruch rechtfertigen, ist er nicht rechtswidrig und auch noch nach der 14. Schwangerschaftswoche möglich. Auch wenn eine kriminologische Indikation vorliegt, also die Frau oder das Mädchen vergewaltigt wurde, ist der Eingriff nicht rechtswidrig.
Paragraf 219: “Die Beratung dient dem Schutz des geborenen Lebens”, heißt es in §219 StGB. Sie solle vom Bemühen geleitet sein, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr helfen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen. Weiter regelt der Paragraf, dass nur eine anerkannte Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle die Beratung anbieten darf. Er schließt ausdrücklich aus, dass der Arzt oder die Ärztin, der oder die den Abbruch vornimmt, auch die Beratung durchführen darf.
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