Die Zahl der Flüchtlingskinder in den Schulen steigt. Das stellt die Pädagogen vor eine Herausforderung: Wie damit umgehen?
Von Maria Caroline Wölfle, Eva Casper und Sebastian Grosser
Frau P., eine junge Lehrerin an einer ostbayerischen Grundschule, wählt stets einen solch spielerischen Zugang, wenn es um schwierige Themen geht - also beispielsweise darum, wie das Auge funktioniert. Die Lehrerin, die ihren Namen hier lieber nicht nennen möchte, unterrichtet eine Übergangsklasse. Zehn Schüler betreut sie. Sechs Mädchen und vier Jungen mit unterschiedlichen Biographien, unterschiedlicher Sprachfertigkeit, unterschiedlicher Herkunft. Sie kommen aus Kriegsgebieten wie etwa Syrien. Deutsch können sie meist nicht. Trotzdem spricht Frau P. mit ihnen immer Deutsch. Auch dann, wenn die Kinder von ihren Erfahrungen berichten.
Mancher Schüler schweigt auch. So wie Ivo. Der blasse Junge lacht nicht. Seine Gesichtszüge bleiben streng. Nach kurzer Zeit vergräbt er sein Gesicht wieder in den auf dem Tisch verschränkten Armen. Frau P. blickt ihn an, stellt aber keine Frage. Sie kennt seine Geschichte von einer Kindheit im Kriegsgebiet Tschetschenien.
Die Klasse von Frau P. ist eine von 470 Übergangsklassen in Bayern, die bis zum Schuljahresbeginn 2015/2016 aufgebaut worden sind. Allein im letzten Jahr nahmen laut Kultusministerium 30 000 schulpflichtige Flüchtlingskinder am Unterricht teil: 6100 in den Übergangsklassen an den Grund- und Mittelschulen, 4500 an den Berufsschulen. Angesichts der höchsten Flüchtlingszahlen seit 1992 sind Bayerns Lehrer gefordert: Wie soll man Kinder nach langer Flucht und schlimmen Erlebnissen unterrichten?
Kultusminister Ludwig Spaenle beton, zum Schulstart gut gerüstet zu sein. So sollen die Kinder zunächst in den Übergangsklassen unterrichtet werden. Die Idee: Die Lehrer orientieren sich am Leistungsstand des Schülers und fördern individuell das Deutschlernen. Können sie die Sprache gut genug, wechseln sie in die Regelklasse. Dafür plant das Kultusministeriums zusätzliche Lehrer ein; insbesondere solche, die Deutsch als Zweitsprache studiert haben. Soweit zumindest die Idee.
„Die Lehrer sind erschöpft", sagt Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnen Verbandes (BLLV). Für sie greifen die Maßnahmen zu kurz. Eine Vielzahl der Kinder kommt aus Krisengebieten. Wie Ivo sind viele traumatisiert, weil sie miterleben mussten, wie Eltern und Geschwister sterben oder wie Häuser durch Bomben zusammenfallen. Aber nur wenige Lehrer und Schulpsychologen verfügen über eine traumapädagogische Ausbildung. Für externe Kräfte fehlt den Schulen das nötige Geld.
Der BLLV fordert daher vom Staat, eine Soforthilfe von zehn Millionen Euro bereitzustellen. Runtergerechnet würde jede Schule damit über ein zusätzliches Budget von 2000 Euro verfügen, womit Psychologen, Sozialpädagogen und Übersetzer bei akuten Notfällen bezahlt werden könnten. „Die Probleme vor Ort müssen vor Ort gelöst werden", sagt Fleischmann. Fortbildungen seien dabei nicht ausreichend. Langfristig müsse der Staat mehr Übergangsklassen schaffen und mehr Lehrer einstellen, zumal auch andere Vorhaben Spaenles wie Inklusion, Lehrplan Plus oder Ganztagesschule erfüllt werden müssten.
Ein Mehr an Lehrern löst nicht alle Probleme. „Vor allem braucht es viel Verständnis für die Situation der Kinder", sagt die Schulleiterin einer ostbayerischen Grundschule. Die meisten Kinder kommen aus einem fremden Kulturkreis, haben das Trauma des Krieges hinter sich und in den Wirren der Flucht ihre Eltern verloren. Sie sind unbegleitete Minderjährige. 10 000 sollen es bis Jahresende sein. Zum Vergleich: 2013 waren es 547.
In die Schule bringen sie ihre Erfahrungen von Tod und Gewalt mit. Zum Beispiel beim Umgang mit Konflikten. „Wenn sie sich schlagen, dann schlagen sie ums Überleben." Oft müssen sich dann die Lehrer rechtfertigen, warum sie eine solche Eskalation nicht verhindern konnten.
BLLV-Präsidentin Fleischmann appelliert daher an die Fürsorgepflicht des Staates. „Wir Lehrer sind keine Jammerlappen." Man nehme die Herausforderung gerne an. „Aber wir haben ein Schulsystem auf dünnem Eis, das einbricht, wenn es nicht entsprechend gestützt wird." Ein großes Problem für Schüler, Eltern und Lehrer bleibt die sprachliche Barriere. Professor Jörg Roche vom Institut für Deutsch als Fremdsprache an der Ludwig-Maximilian-Universität München bietet zahlreiche Fortbildungen für Lehrer an, um sich auf das Unterrichten von Einwanderern vorzubereiten. „Lehrer haben häufig eine völlig falsche Vorstellung davon, was Sprache ist und wie man sie lernt." Sie setzen auf Grammatik-Pauken, Nachsprechen von Sätzen und starres Auswendiglernen. „Kein Mensch lernt so eine Sprache." Viel wichtiger sieht Roche die praktische Anwendung im Alltag.
In einem Projekt sollten Einwandererkinder daher ein Rezept nachkochen. Die Kinder mussten selbstständig die Zutaten besorgen und zubereiten. So lernten sie spielerisch die Namen der Nahrungsmittel. Ein solches Lernen ist motivierender und wesentlich schneller: „Es gibt eigentlich keinen Grund, warum ein Kind mit einer anderen Familiensprache innerhalb eines Jahres nicht genauso gut Deutsch sprechen können sollte, wie ein gleichaltriges, einheimisches Kind", sagt Roche.
Lehrer wie Frau P., die Deutsch als Zweitsprache studiert haben, sind noch die Ausnahme. „Ich bin hier mit offenen Armen empfangen worden", sagt sie.. Neben ihrer Ausbildung zeichnet die Lehrerin aus, dass sie einen persönlichen Bezug zu den Flüchtlingskindern hat: Im Ausland geboren, kam sie als Kind mit ihrer Familie nach Deutschland. In der Schule lernte sie schnell Deutsch und übernahm Verantwortung: Sie machte Botengänge und begleitete die Eltern aufs Amt oder zum Arzt. Wie die meisten Kinder, die sie jetzt unterrichtet, übersetzte sie für ihre Eltern, die kein Deutsch sprachen. Die Umstände, mit denen die Flüchtlingskinder zu kämpfen haben, sind ihr sehr vertraut.
„Wer kann mir sagen, warum wir unsere Augen schließen?", will Frau P. von ihren Schülern wissen. Während Ivo schweigt, findet seine Mitschülerin eine Antwort: Wir schließen unsere Augen aus Angst.