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Der Reiz des Vergänglichen

erschienen in: Stuttgarter Zeitung, 21.5.2016


Die App Snapchat gilt als soziales Netzwerk der Stunde. Sie löscht verschickte Bilder innerhalb weniger Sekunden wieder und persifliert damit ein Paradox der Fotografie. 



Ein Foto erscheint auf dem Handy, wir haben wenige Sekunden Zeit, es anzuschauen – und schon ist es wieder verschwunden. Möglich ist das mit der Anwendung Snapchat. Facebook war gestern, bei Jugendlichen ist diese App längst das beliebteste Medium. Sie schicken einander laufend Fotos, die sich auf dem Gerät des Empfängers innerhalb von höchstens zehn Sekunden selbst „zerstören“. Mehr als 130 Millionen Menschen weltweit nutzen die App täglich, auch Unternehmen sind eingestiegen, viele Prominente sind schon Profis. Bei der Internetkonferenz re:publica in Berlin stieß die Veranstaltung „Snapchat für Erwachsene“ jüngst auf gigantisches Interesse.

Die Nutzer fotografieren mit Snapchat vor allem sich selbst, können diese Bilder verfremden, Gesichter vertauschen und verzerren und alles an andere verschicken. Während bei Facebook eher die großen Ereignisse des Lebens geteilt werden, konzentriert sich Snapchat auf die kleinen Dinge, das „echte Leben“, das man online wiedergeben will. Der Snapchat-Gründer Evan Spiegel erklärte 2014 auf einer Konferenz: „Wir leben und kommunizieren einfach zur selben Zeit.“

Jugendliche feiern genau das: Sie verschicken Bilder aus jeder alltäglichen Situation, reagieren mit ihren Aufnahmen auf die Fotos anderer, bauen Zeichnungen, Smileys und Schriftzeichen ein, tauschen sich damit unentwegt aus. Scheinbar werden so alle Erlebnisse des Alltags festgehalten und geteilt. Freunde, die gerade nicht nebeneinander sitzen, geben einander das Gefühl, eigentlich genau das zu tun, inszenieren sich als omnipräsentes Gegenüber.

Snapchat ist eine Verkürzung der großen Erzählungen, die über Facebook laufen, es treibt die Schnelllebigkeit der sozialen Netzwerke auf die Spitze. Im Wettlauf um die Simultanität von Leben und digitaler Abbildung liegt es damit ganz vorne. Besonders spannend erscheinen die gesendeten Aufnahmen gerade durch ihre kurze Lebenszeit, kein Wunder also, dass die App so viele Anhänger findet.

Snapchat persifliert mit seiner Löschfunktion eine faszinierende Eigenschaft der Fotografie, wenn es die Vergänglichkeit so aufdringlich ins Blickfeld rückt. Müsste man sagen, was die Fotografie ausmacht, so wäre es der Versuch, einen Moment festzuhalten und mit demselben Handgriff die Unmöglichkeit dieses Unterfangens heraus zu stellen.

Fotografien zeigen das Paradox der Abwesenheit in der Anwesenheit. Wir blicken in die Augen eines Menschen zu einem Zeitpunkt, der bereits vergangen ist, seit einer Sekunde oder seit Jahrzehnten. Den Fotografierten gibt es so nicht mehr, wie er genau in dieser Sekunde gewesen ist und sich verhalten hat.

Das Dargestellte ist zugleich wahr und eine Lüge. Wir sehen kein Gemälde, sondern etwas, das genau wie abgebildet stattgefunden hat. Wir glauben an die Echtheit dieses Augenblicks und scheinen uns direkt darin zu befinden. Und doch ist er verstrichen und vorbei, die fotografierte Person festgehalten im Zweidimensionalen wie in einem Gefängnis. Sie ist sie selbst und zugleich ein anderer. Sie kann sich im Bild in die Augen blicken, erkennt sich wieder und ist sich zeitgleich fremd, steht sich gegenüber wie einem anderen. „Der einzige ,Gedanke’, zu dem ich fähig bin, ist der, dass am Grunde dieses ersten Todes mein eigener Tod eingeschrieben ist.“ Dramatisch beschreibt der Philosoph Roland Barthes die Empfindungen des Betrachters beim Anblick eines Fotos von einem geliebten Menschen. Und doch hat er recht: Wenn wir die Vergänglichkeit des Fotografierten vor Augen geführt bekommen, wird uns bewusst, dass auch unsere Zeit verstreicht. Auch uns zerrinnt jede Sekunde zwischen den Fingern wie warme Butter. Auch von uns werden nur Abbilder und Andenken übrig bleiben.

Die Fotografie ist imstande, auf diesen Aspekt der Endlichkeit stets hinzuweisen, was im Übrigen erklärt, weshalb seit jeher Fotografien, die einen Menschen kurz vor seinem Tod zeigen, eine besondere Faszination ausüben. Etwa jenes bekannte Bild von Robert Capa aus dem spanischen Bürgerkrieg, das einen „Falling Soldier“ zeigt, einen Soldaten, der getroffen zu Boden fällt. Oder die schockierenden Fotografien von Menschen, die am 11. September 2001 aus den beschädigten Türmen des World Trade Centers stürzen. Sie fliegen durch die Luft, gerade noch am Leben, und doch wissen wir, zum Zeitpunkt unserer Betrachtung müssen sie tot sein.

Diese Bilder stehen im Rückblick oft für ein ganzes Ereignis, sie sprechen den Betrachter emotional an und geben zum einen vor, den Tod immer wieder aufs Neue verzögern zu können, zum anderen bedeutet die Darstellung des Sterbenden den Blick in eine vollendete Zukunft: Jemand ist tot und wird sterben, im Bild lebt er, zum Zeitpunkt meiner Betrachtung nicht mehr. Somit wird das Gegenteil der Vergänglichkeit genutzt, um diese selbst sichtbar zu machen. Snapchat spielt gerade auf dieses faszinierende Paradox der Fotografie an, festhalten zu wollen und zugleich zu zeigen wie unmöglich das ist.

Denn immer, wenn wir etwas fotografieren, gießen wir es in Zement und töten es gleichzeitig ab, halten es für immer fest und gefangen im Bild und berauben es seiner Lebendigkeit und Lebensechtheit, führen damit zugleich seine Vergänglichkeit vor. Snapchat nimmt genau diese Zerstörung vorweg und vernichtet nach zehn Sekunden wiederum die Kopie eines Moments, das Foto, sein Abbild.

Die bevorstehende Zerstörung macht den Reiz aus, denn in der Endlichkeit der Augenblicke liegt das Wertvolle verborgen. Nur, was nicht ewig währt, ist besonders. Nur, was einzigartig ist, weckt unsere Aufmerksamkeit und Bewunderung. Weshalb gerade jene über Snapchat versendeten Bilder vermeintlich außergewöhnlich sind und die App so interessant machen.

Bei diesen Aufnahmen handelt es sich nicht um zeithistorisch wertvolle Bilder, sondern um Schnappschüsse. Dahinter steht die Absicht, Darstellung und Leben in einem Augenblick zu vereinen. Die Jugendlichen wollen sich nicht in die Geschichte einschreiben, sondern im Moment sein, digital protokollieren und kommunizieren. US-Forscher haben zudem heraus gefunden, dass die Nutzer sich bei Snapchat emotional stärker angesprochen fühlen als bei anderen sozialen Netzwerken. Sie müssten sich angeblich nicht so viele Gedanken darüber machen, ob sie auf dem Foto gut aussehen und wie sie wirken.

Bisher waren viele Mediennutzer es gewohnt, eine lustige Mitteilung am Handy zu lesen, zu schmunzeln und ihre Erheiterung dann in Worte und Zeichen zu übersetzen: in eine Kurzmitteilung. Bei Snapchat ist es nun möglich, den Weg dieser Übersetzung scheinbar zu umgehen und unsere physische, erste Reaktion direkt zu fotografieren und sofort zu versenden.

Bei Überlegungen zur Authentizität solcher Aufnahmen gelangt man allerdings schnell an Grenzen. Denn selbst wenn die Antwort innerhalb weniger Sekunden verfasst und nicht in Worte übersetzt wird, ist sie gerade nicht unmittelbar, sondern genau wie eine SMS eine Übersetzungsleistung und damit eine Inszenierung. Wir stellen uns selbst dar, wie wir überrascht, geschockt, erheitert sind, fertigen also weiterhin im Bild nur eine Kopie unserer selbst an.

Die digitale Avantgarde bewegt sich mit Snapchat im Spannungsfeld zwischen jenem vom Gründer formulierten vagen Authentizitätsanspruch und dem Bereich der Selbstinszenierung, der alle sozialen Netzwerke auszeichnet. Die App perfektioniert folglich etwas, das seit jeher nicht nur Heranwachsende fasziniert, nämlich selbst der Regisseur unserer Lebensgeschichte zu sein, über deren Endlichkeit wir uns stets bewusst sind. Genau das können wir mit Snapchat abgeklärt herausstellen: Lebe im Moment, alles hat ein Ende, geht so schnell vorbei wie ein Wimpernschlag über Lena Meyer-Landruts drolligen Kulleraugen.

Wie wir unsere Welt mit den gegebenen Mitteln darstellen, ist nicht so authentisch wie die Digital Natives gerne behaupten. Es ist aber ein Akt der Selbstermächtigung, vielleicht sogar eine Form von Kunst, bei der wir wie Pippi Langstrumpf alles, was wir nicht sehen wollen, ausblenden und uns – zumindest für kurze Zeit – eine bessere, spannendere, coolere Welt erschaffen können. Etwas, das gerade Jugendliche sich oft herbei sehnen.

Und das ist im Übrigen nichts, was erst mit den neuen Medien begonnen hat, wie viele oft behaupten, die sich von der Selbstinszenierung in sozialen Netzwerken befremdet fühlen. Oskar Matzerath, der Held in Günter Grass’ 1959 erschienenem Roman „Die Blechtrommel“, beschreibt eine bei ihm und seinem Freund beliebte Praxis, in ein Fotostudio zu gehen, um Passbilder anfertigen zu lassen.

Die beiden betreiben diesen Freizeitspaß in regelmäßigen Abständen, die Bilder tragen sie danach in eine Kneipe, zerschneiden sie, fügen sie neu zusammen und geben sie weiter. Das sind Freunde, die ihre selbst inszenierten Fotografien mit anderen teilen, wie heute auf Facebook, Snapchat und Instagram: „Wir konnten mit uns beliebig umgehen. Wir knickten, falteten, zerschnitten mit Scheren, die wir eigens zu diesem Zweck immer bei uns trugen, die Bildchen. Wir setzen ältere und neue Konterfeie zusammen, gaben uns einäugig, dreiäugig, beohrten uns mit Nasen, sprachen oder schwiegen mit dem rechten Ohr und boten dem Kinn die Stirn. Es gelang uns neue, und wie wir hofften, glücklichere Geschöpfe zu erschaffen. Dann und wann verschenkten wir ein Foto.“