Es ist kein Grau, was sich ins Auge drängt. Es ist Grün, das heutzutage jede unbebaute Ecke an der Dietrich-Bonhoeffer-Straße in der Brückenhof-Siedlung ausfüllt. Zumindest im Juni. Die Fenster der Wohnung im obersten Stock des Blocks, in der Familie Ruckel lange gewohnt hat, sind von der Straße aus nicht ohne Weiteres zu sehen. Ein riesiger Baum versperrt den Blick, den man etwa vom Bolzplatz auf der gegenüberliegenden Straßenseite hätte. Einen Blick, den Jörg Ruckel früher oft warf, vom Bolzplatz zu seinem Kinderzimmer. Meist aber wohl umgekehrt.
Ruckel, heute 49 Jahre alt, war ein einjähriges Kleinkind, als die Familie 1968 in die Brückenhof-Siedlung zog. Bis 1980 blieben die Ruckels in der Dreizimmerwohnung an der Dietrich-Bonhoeffer-Straße 21 wohnen. Seine ganze Kindheit verbrachte Jörg Ruckel in der Siedlung - Mehr als ein Jahrzehnt mit vielen schönen Momenten. Die älteste Erinnerung, die Ruckel heute noch an die Wohnung hat, ist, wie er als Kleinkind auf der Arbeitsplatte in der Küche sitzt und aus dem Fenster guckt. "Man konnte richtig weit schauen", erinnert er sich an den Ausblick aus dem fünften Stock. Eine andere Erinnerung: "Wir hatten einen sehr langen Flur in der Wohnung. Dort habe ich manchmal mit meinem Vater Fußball gespielt. Die Eingangstür war das eine Tor und die Badtür das andere." Vier oder fünf Jahre muss er damals gewesen sein. Diese Erinnerungen sind nach wie vor präsent.
48 Jahre sind vergangen, seitdem Familie Ruckel im Brückenhof eingezogen ist. 36 seit dem Auszug. Wir treffen Jörg Ruckel und seine Mutter Monika (68) an der Dietrich-Bonhoeffer-Straße 21, ihrer früheren Anschrift (im oberen Bild das blaue Kästchen). Es ist sonnig, ruhig, menschenleer. Viel Vogelgezwitscher. Hin und wieder geht ein Senior die Straße entlang. Autos fahren selten vorbei. Wenn, dann sind es nur Anwohner. Das war auch früher so, erinnert sich Monika Ruckel, nur dass es Ende der 1960er-Jahre noch sehr viel weniger Verkehr gab. Dafür umso mehr Kinder. „Man konnte sie rausschicken, ohne sie zu beaufsichtigen", erinnert sich Monika Ruckel im Hinblick auf die wenigen Autos.
Ruckels Kinderzimmer war nicht besonders groß. Einfache Einrichtung. Bett, Schreibtisch, Kleiderschrank. Und ganz viel Lego. Die Freizeit von ihm und den anderen Kindern in der Nachbarschaft spielte sich jedoch meist draußen ab.
„Ich bin raus gegangen, habe hier und da geklingelt und hatte sofort zehn Freunde da, mit denen ich spielen konnte", erinnert sich Jörg Ruckel heute. Für Kinder sei die Siedlung ein Traum gewesen. Sowohl in seinem Block als auch in den anderen Häusern habe es viele Gleichaltrige gegeben, mit denen er sich gut verstand. Und Möglichkeiten, als Kind Spaß zu haben, gab es zuhauf. Nicht nur waren gegenüber dem Haus ein Bolzplatz und ein Federballplatz - direkt neben dem Gebäude war auch ein riesiger Spielplatz mit mehreren großen Rutschen. Alle paar Häuser weiter gab es den nächsten Spielplatz.
Übrig geblieben von dem Spielplatz ist fast nichts. Lediglich eine Schaukel in Form eines Elefanten steht noch, gezeichnet von Wind und Wetter. Ein Weg aus Betonsteinen mitten auf der Wiese lässt ahnen, dass hier mal deutlich mehr war. Im kräftigen Grün des Rasens wirkt der Weg verloren und unauffällig.
Alte Fotos verdeutlichen, wie stark sich das Grün in den vergangenen Jahrzehnten in den Vordergrund gedrängt hat. Das springt auch den Ruckels sofort ins Auge. „Als wir eingezogen sind, waren die Bäume gerade erst gepflanzt worden", erinnert sich Monika Ruckel. Nun verdecken sie teilweise Häuserteile. Die Blocksiedlung hat im Sommer etwas von einem Park. Leben im Grünen. Trotz Betonwüste.
Dennoch: Beton bleibt das zweite allgegenwärtige Element im Brückenhof. Nicht nur wegen der Blockfassaden. Direkt hinter dem Bolzplatz, auf den der junge Jörg Ruckel aus seinem Kinderzimmerfenster schauen konnte, erhebt sich die riesige Mauer einer Industrieanlage. Sie gehört zum Betonwerk Nordshausen, in dem das Material für den Brückenhof und viele ähnliche Siedlungen hergestellt worden war. Die mächtige, hohe, graue Mauer ist das hässliche Gegengewicht zum beschaulichen Grün, das heute die Dietrich-Bonhoeffer-Straße färbt.
Doch so hoch die Mauer auch erscheint, aus den Fenstern im fünften Stock war ein noch weiterer Blick möglich. Die Dönche, heute Naturschutzgebiet und damals Truppenübungsplatz, war in guter Sichtweite der Siedlung. Jörg Ruckel erinnert sich:
Ende der 1960er-Jahre war die Brückenhof-Siedlung zwischen Nordshausen und Oberzwehren eines der größten Bauprojekte Kassels. 1967 zogen die ersten Mieter ein. Das mit 44 Metern höchste Gebäude bot auf 16 Stockwerken Platz für 60 Wohnungen. Die neue Siedlung mit einigen der höchsten Häuser der Stadt bot einen Wohnkomfort, der in der übrigen Stadt längst noch nicht selbstverständlich war.
Dorthin zu ziehen, war eine gut überlegte Entscheidung gewesen, erinnert sich Monika Ruckel. Die junge Familie hatte schon in dem Jahr zuvor die Möglichkeit gehabt, eine ähnliche Wohnung in der Wohnstadt Waldau zu beziehen. Aber Waldau habe damals bereits einen schlechten Ruf gehabt und so haben die Ruckels erstmal abgewartet.
"Als wir in die Brückenhof-Siedlung zogen, war Wohnungsnot kein vorrangiges Thema mehr in Kassel", erinnert sich Monika Ruckel. Nach dem Krieg, als Sechs- bis Zehnjährigige, habe sie die Ruinen noch gesehen. Danach sei aber vieles schnell neu gebaut worden. "Als ich 20 war, war nichts mehr von dem zu sehen, was ich aus der Kindheit kannte. Wohnungsnot hat uns nicht zum Brückenhof gebracht. Eher die Entscheidung, keinem privaten Vermieter mehr trauen zu wollen." Mit einem solchen Vermieter bzw. dessen Erben hatte sie zuvor in ihrer ersten Wohnung schlechte Erfahrungen gemacht. Also musste eine Alternative her. „Damals hatten die Wohnungsbaugesellschaften einen guten Ruf."
Doch auch der Komfort der Wohnungen in der Brückenhof-Siedlung spielte bei der Entscheidung eine wichtige Rolle. „Ich war damals verheiratet mit einem Mann aus Frankfurt, der nur Zentralheizung kannte. In unserer ersten Wohnung war ich die einzige, die mit einem Ofen umgehen konnte", sagt Monika Ruckel und lacht. An der Dietrich-Bonhoeffer-Straße hatte die Familie auch Heizung und Warmwasser. Anfangs habe sie mehrfach das Warmwasser aufdrehen müssen. Ohne Grund, einfach so, weil es so toll war, erinnert sich die 68-Jährige. Ausgestattet war die Wohnung zudem mit einer eingebauten Küche mit Spüle, Herd und Arbeitsplatte - jene Arbeitsplatte, die sich ihrem Sohn so eingeprägt hat. Auch eine Essecke war vorhanden.
72 Quadratmeter für einen Preis von 270 Mark. Die Wohnung zuvor hatte lediglich 110 Mark gekostet. „Ich habe nächtelang geträumt, dass wir die Miete nicht bezahlen können werden", erinnert sich Ruckel. Letztendlich ging es doch gut. Die Miete war schon relativ hoch, aber noch erschwinglich. In den ersten Jahren der Siedlung kamen deren Bewohner größtenteils aus der Mittelschicht, sagt Monika Ruckel. Aber auch Mitglieder besser gestellter Schichten hatten dort ihre Wohnungen. „Meine 68er-Freunde aus dem Vorderen Westen haben mich anfangs manchmal schief angeguckt, als ich sagte, wir ziehen in die Brückenhof-Siedlung", sagt Ruckel schmunzelnd. All zu hohes Ansehen hatte das Quartier dann doch nicht. Für die Kinder war es aber ideal.
Aber auch für sie als Mutter gab es viele Vorteile: Ruckel arbeitete zuerst als Sekretärin, dann als Sachbearbeiterin später als Studienberaterin an der Uni Kassel. Der Universitätsstandort in Oberzwehren war direkt in der Nähe. Die Grundschule Brückenhof, auf die Jörg ging, ebenfalls. Ein Einkaufszentrum mit Edeka, Drogerie und Sparkasse war ebenfalls direkt um die Ecke. Ein Lokal mit einer Kegelbahn gab es auch. Die Nachbarschaft hat die 68-Jährige als sehr gesellig in Erinnerung, mit mehreren Leuten aus dem Haus und der Nachbarschaft war sie befreundet. Bis 1980 ging das so. Dann zog Familie Ruckel weg.
Das neue Zuhause lag am Philosophenweg in Kassels Mitte. "Ich war damals schon in einem Alter, in dem die Stadt für einen Menschen interessanter wird", erinnert sich Jörg Ruckel. Diese Nähe zum Zentrum habe den Umzug leicht gemacht. Ruckel war bereits vom Brückenhof aus regelmäßig zum Judo-Training in die Schule am Wall im Stadtteil Wesertor gefahren, kannte die Kasseler Innenstadt also schon. Außerdem waren 1980 bereits einige seiner Freunde aus der Brückenhof-Siedlung ausgezogen, was den Abschied zusätzlich erleichterte. So schön wie in seiner Kindheit war der Alltag im Brückenhof ohnehin nicht mehr.
Text: Eugen Maier und Thomas Siemon Bilder: Ruckel/HNA-Archiv/Baron/Maier/Siemon