Das Edersee-Atlantis hat auch in diesem Jahr unzählige Besucher in seinen Bann gezogen. Die Überreste der Dörfer Asel, Berich und Bringhausen zeugen vom einstigen Leben dort, wo jetzt Wasser ist - meistens jedenfalls. Die HNA hat vielfach über den Tiefwassserstand, der die Aseler Brücke und andere Ruinen freilegte, berichtet. Doch wie das oft so ist: Meldungen kommen und gehen. Die Faszination der alten Gemäuer aber bleibt. Also haben wir in unser Archiv geschaut und diesen Beitrag erstellt. Er vereint mehrere Artikel und dokumentiert die Zeit, als die Menschen die drei Dörfer verließen, deren Überbleibsel heute noch bei Niedrigwasser aus dem Edersee auftauchen.
Zwischen 1908 und 1914 wird die Edertalsperre errichtet. Mit dem Bau der Sperrmauer ist auch das Ende der Dörfer Bringhausen, Berich und Asel sowie des zu Berich gehörenden Guts Vornhagen und der südlich davon gelegenen Stollmühle besiegelt.
In dem beschaulichen Wald- und Wiesental unterhalb der Burg Waldeck ahnt Ende des 19. Jahrhunderts kaum jemand, was auf die 600 Einwohner in Asel, Berich und Bringhausen in naher Zukunft zukommen wird. Ihren Lebensunterhalt bestreiten die Menschen vornehmlich mit Ackerbau und Viehzucht oder als Waldarbeiter. Die Eder spielt für sie seit jeher eine besondere Rolle. Sie ist Lebensader und Bedrohung zugleich. Im Winter zeigt der Fluss oft sein unberechenbares Gesicht. Eistrieb und Hochwasser bedrohen oder zerstören mitunter gar das Hab und Gut vieler Menschen. Nach dem Beschluss für den Bau der „Waldecker Talsperre" stehen dem rund 27 Kilometer langen und fruchtbaren Tal zwischen Hemfurth und Herzhausen und seinen Bewohnern tiefgreifende Veränderungen bevor.
Im 19. Jahrhundert spielen schiffbare Flüsse für den Transport, Import und Export von Waren eine besondere Rolle. Mit der beginnenden Industrialisierung wird auch eine Ost-West-Wasserstraße für den Transport von Stahl, Kohle, Erz und Eisen benötigt. Ein neuer Kanal soll die Industriegebiete an Rhein und Ruhr mit denen im Osten verbinden.
Um 1890 wird im preußischen Abgeordnetenhaus mehrfach der Bau eines verzweigten Kanalsystems diskutiert. Die Hansestadt Bremen ist von der wirtschaftlichen Bedeutung einer Ost-West-Wasserstraße überzeugt. Der Stadtstaat schließt bereits 1899 einen Staatsvertrag mit Preußen, in dem sich Bremen verpflichtet, den Bau und die Finanzierung eines mit 43 Millionen Goldmark veranschlagten Kanals zu übernehmen, der die Hansestadt mit Minden an der Weser verbindet. In Minden soll ein Wasserstraßenkreuz für die Weser und den neuen Kanal entstehen, der den Schiffen eine schleusenfreie Durchfahrt ermöglicht.
Am 1. April 1905 wird ein Wasserstraßengesetz beschlossen. Es beinhaltet den Neu- und Ausbau mehrer Kanäle. Das Wasser für die künstlichen Wasserstraßen soll unter anderem aus Stauseen stammen. Der geplanten Edertalsperre kommt dabei eine Schlüsselrolle zu.
Das Dorf Bringhausen muss - wie Berich und Asel - dem Stausee weichen. Seinen Namen verdankt der Ort der Burg Bring. Bringhausen lag am Fuß des Burgberges, der auch heute noch zu sehen ist. Von der Burg selbst sind lediglich wenige Reste erhalten, die bei Niedrigwasser des Edersees auftauchen. Im Sommer 1905 kündigt der Besuch von Beamten aus Hannover und Berlin das Ende von Altbringhausen an. 1907 verlassen die ersten Familien das Dorf.
Am 10. Juli 1910 feiern die noch verbliebenen Einwohner ein Abschiedsfest. Gegen 14 Uhr setzt sich ein Zug durch den Ort in Bewegung, bestehend aus Mitgliedern des Krieger- und Gesangvereins, jungen Mädchen und Schulkindern. Pfarrer Brandt hält eine Ansprache, in der er an den Bau der nun schon überfluteten Ederbrücke erinnert und an die Waldstraße, die vom Dorf nach Gellershausen führt. „Durch diese Verkehrsverbesserung ist das Dorf den Bewohnern noch lieber geworden", stellt Brandt zurückblickend fest. Der örtliche Gesangverein singt etwas später ein Abschiedslied. Nur ungern verlassen die Menschen ihre Heimat.
Im August 1912 ist der Neuaufbau von Bringhausen nahe dem Daudenberg, am Südufer des Edersees, beschlossene Sache. Die Trinkwasserversorgung im neuen Dorf ist im Oktober 1912 sichergestellt, die Ausschachtungsarbeiten für die Häuser beginnen im Februar 1913. Beim Abriss der alten Häuser werden noch halbwegs brauchbare Steine, Dachziegel und Eichenbalken aussortiert und später beim Bau der neuen Häuser verwendet, in die die 16 Familien einziehen werden. Die im alten Dorf abgebauten Häuser der Familien Seibel, Maurer und Fuchs werden im neuen Dorf wieder aufgebaut. Im September 1913 erfolgt die Rohbauabnahme. Bringhäuser Bauern wird unterdessen die Herbstaussaat auf ihren alten Feldern und Äckern im September 1913 staatlicherseits untersagt, weil die Erstflutung des Edersees im nächsten Jahr bevorsteht.
„Meine Großeltern waren der festen Überzeugung, dass sie in ihrem 1903 neu erbauten Haus wohnen bleiben konnten", erzählt Magdalene Wenzel aus Bringhausen. Karl Witte, ebenfalls ein Bringhäuser, ergänzt: „Aus Gesprächen und Erzählungen meiner Vorfahren weiß ich, dass die Leute vom Staat wirklich gut mit Geld abgefunden wurden, wenngleich nur für ein Fünftel der alten Bürger Platz im neuen Bringhausen war." Zehn Familien zogen infolgedessen nach Neu-Berich, jeweils fünf nach Höringhausen und Ober-Waroldern. „Wie die meisten alten Häuser wurden auch die Steine, viele Balken und das Inventar unserer Dorfkirche auf Kuh- und Pferdegespanne verladen, auf den Daudenberg gebracht, und dort wieder neu aufgebaut", berichtet Friedrich Höhle.
Das Haus Nummer zwei im Riegelsweg in Wabern-Zennern verbindet, wie vier weitere Häuser im Dorf, eine besondere Beziehung mit dem versunkenen Bringhausen. „Unser Haus stand einst in Alt-Bringhausen. Es wurde dort vor der Erstflutung des Sees abgebaut und in Zennern wieder aufgebaut", erzählt Erich Neuhaus. Sein Großonkel Bernhard Neuhaus kaufte einst das Gebäude für 350 Mark.
Schieben Sie den weißen Regler nach links oder rechts, um zu sehen, wie das Haus sich im Lauf der Zeit verändert hat.Ein Vertrag, abgeschlossen zwischen dem Grunderwerbskommissar für das Waldecker Sammelbecken und Zimmermann Johannes Bauer vom 18. August 1913, besiegelte den Besitzerwechsel. Zuvor gehörte das Gebäude dem Bringhäuser Heinrich Drebes, genannt Hauber. „Wie einige andere Dorfbewohner wollte er das Fachwerkhaus wohl nicht mehr haben. Nachdem das Gebäude in den Besitz des Staates übergegangen war, wurde es, wie einige andere Häuser, unter anderem am Bau der Sperrmauer beschäftigten Arbeitern zum Kauf angeboten. Dazu zählte mein Großonkel Bernhard", berichtete Erich Neuhaus.
Aus Erzählungen weiß er, dass sein Verwandter den täglich rund 30 Kilometer langen Weg bis an die Sperrmauer-Großbaustelle als Passagier von Kuh- oder Pferdegespannen zurücklegte. „Nach Feierabend ging's dann die gleiche Entfernung wieder zurück."
Nachdem Bernhard Neuhaus das Geld für das Haus Drebes bei der Königlichen Regierungshauptkasse in Hannover eingezahlt hatte, begannen die Abbauarbeiten. Das erledigte Zimmermann Johannes Bauer, der mit dem Ab- und Wiederaufbau der Häuser den noch heute bestehenden Zimmereibetrieb in Zennern im Jahr 1913 gründete.
Sein Urenkel Falk Schlechter berichtete: „Unser Zeltverleih Bauer kam erst vor rund 85 Jahren hinzu. Ich weiß aus Erzählungen von Familienangehörigen, dass die zerlegten Häuser mit Pferdegespannen nach Zennern gebracht wurden." Auch die Familie Schlechter ist im Besitz eines schmucken Fachwerkhauses, welches einst in Alt-Bringhausen stand.
Neben Alt-Bringhausen mussten auch Asel und Berich dem Wasser weichen. HNA-Leserin Sigrun Ide aus Frankenberg stellte uns den Augenzeugenbericht ihres Großvaters aus dem Jahr 1913 zur Verfügung, als er mit einem Dutzend Touristen von Kassel nach Waldeck reiste und dann letztmals durch das noch nicht geflutete Edertal zu den übrig gebliebenen Ruinen wanderte. Der Postbeamte Wilhelm Ritter hatte schon ein paar Mal in den Jahren zuvor mit Scharen von Menschen das Edertal aufgesucht, wo damals Europas größte Sperrmauer errichtet wurde. Er hing besonders an seinem Heimatdorf Asel südlich von Vöhl, in dem er 1887 geboren wurde und das nun auch verschwinden musste. Ritter arbeitete in Wildungen, Kassel und Sachsenberg bei der Post, bevor er ab 1925 in Frankenberg als Postinspektor Dienst tat. Dort verstarb er auch im Jahr 1957.
In seinem Wanderbericht von 1913 schildert der ehemalige Aseler, wie er in Waldeck ankommt und den herrlichen Blick vom Schloss genießt auf die Sperrmauer. Auf einem schmalen Fußweg geht es hinunter auf die Straße.
Er schreibt: "Welch traurigen Anblick bietet das früher so schöne Dörfchen Berich mit seiner gotischen Klosterkirche! Die Häuser sind zum Teil ganz vom Erdboden verschwunden. Schutt und Ziegelbrocken bedecken die ehedem so sauber gehaltenen Höfe. Von der Bericher Klosterkirche sind bereits Turm, Glocken, ausgebaute Fenster, Orgel, Altar und vieles mehr nach Neu-Berich geschafft worden. Aber die Mauern stehen noch fest wie Erz. Die schönen Obstbäume, an denen Berich so reich war, sind abgehauen. Nur im Gasthaus Höhle ist noch Leben, während an der Bericher Hütte, wo früher Vater Lösekamm ein beliebtes Ausflugslokal betrieb, schon Totenstille herrscht."
Der Postbeamte berichtet von einem anschließenden Besuch in Neu-Bringhausen. Er sieht den neuen Friedhof, auf den die Särge mit den Gebeinen der Verstorbenen aus dem Edertal umgebettet worden sind. Zwei Arbeiter aus Köln sollen diese unangenehme Arbeit gemacht und dafür eine gute Belohnung von angeblich 120 Mark am Tag bekommen haben.
Mit besonderer Wehmut erlebt der aus Kassel angereiste Wanderer 1913 den Anblick seines verwüsteten Heimatdorfes. "Asel wie sieht es jetzt in dir aus!" ruft Wilhelm Ritter. Überall im Umkreis dampfen die Kohlenmeiler, denn das Holz, das innerhalb des Staubeckens stand, ist abgehauen und wird nun zu Kohlen gebrannt. Im Dorf liegen gefällt Obstbäume herum, teilweise sind Dächer schon abgedeckt, polnische und galizische Gastarbeiter stehen vor einem verlassenen Haus. Die kleine Aseler Kirche ist ebenfalls noch da, die beiden großen Kirchlinden liegen aber schon am Boden. Der früher so gut gepflegte Lehrergarten sieht so verwahrlost aus wie das ganze Dorf. Ritter erinnert sich an den Abschiedsgottesdienst der Dorfbewohner am 2. Ostertag 1913, als das Glöckchen zum letzten Mal schallte: Von fern her kamen sie, die lieben Aseler.
Keiner hat sich bei der herzergreifenden Abschiedspredigt ihres Seelsorgers der Tränen erwehren können. Und tief bewegt verlässt der Wandersmann wenig später die alte Dorfstelle.
Wilhelm Ritter übernachtet in Neu-Asel, wo fünf Aseler und eine Bringhäuser Familie angesiedelt worden sind. Die Häuser, alles Fachwerkbauten, machen einen ganz anheimelnden Eindruck, nur die schönen Obst- und Gemüsegärten fehlen. Am nächsten Tag marschiert er über Vöhl nach Herzhausen, schaut hinüber zum Dörfchen Harbshausen, das durch die Talsperre auch sehr in Mitleidenschaft gezogen wird, da sein bestes Land und fast alle Wiesen unter Wasser gesetzt werden. Auch das fruchtbarste Land von Herzhausen wird versinken.
Zum letzten Mal überschreitet Wilhelm Ritter auf dem Rückweg in Richtung Wildungen die Ederbrücke bei Asel, über die wohl nächstes Jahr das Wasser spülen wird. Dennoch: Auch mehr als hundert Jahre später ist sie eines der attraktivsten Ziele des Edersee-Tourismus.
Fotostrecke: Edersee-Atlantis aus der LuftText: HNA-Archiv (Uli Klein und Karl-Hermann Völker)
Fotos: HNA-Archiv
Gestaltung: Eugen Maier