Denn selbst die UN-Berichte spiegeln nur einen Teil der Gefahr wider. Ist das Grund genug, Afghanen nicht mehr aus Deutschland abzuschieben?
"Ich habe Angst um mein Leben", sagt Wazir am Telefon. Im vergangenen Herbst kam der 23-jährige Afghane in Deutschland an. Vor wenigen Wochen erfuhr er jedoch, dass die deutschen Behörden seinen Asylantrag ablehnen werden. Da Wazir nun die Abschiebung droht, ist er untergetaucht. Zum Schutz seiner Identität haben wir seinen Namen für diese Geschichte geändert; zum gegenwärtigen Zeitpunkt befindet sich Wazir irgendwo in Mitteldeutschland. "Ich verstehe Deutschland nicht. Iraker und Syrer dürfen hierbleiben. Doch Afghanen können abgeschoben werden. Dabei herrscht auch in Afghanistan Krieg", meint Wazir.
Wazir kam bei seinen Verwandten in Hessen unter. Einige von ihnen leben seit Jahrzehnten in Deutschland und besitzen zum Teil die deutsche Staatsbürgerschaft. Auch sie flüchteten aus Afghanistan nach Deutschland; in den 1980er-Jahren während der sowjetischen Besatzung oder in den 1990er-Jahren während des afghanischen Bürgerkrieges. 1979 marschierte die UdSSR in Afghanistan ein und besetzte das Land 10 Jahre lang. Während die kommunistische Regierung in Kabul von Moskau unterstützt wurde, schlug sich der Westen unter US-amerikanischer Führung auf Seiten der Mudschaheddin-Rebellen und unterstützten diese unter anderem mit Waffenlieferungen. Im Laufe des Krieges wurde mehr als 1 Million Afghanen getötet. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen begannen die Kriegsfürsten der Mudschaheddin, sich gegenseitig zu bekriegen, bis 1996 das Land nahezu vollständig von der reaktionär-fundamentalistischen Taliban-Bewegung erobert wurde.
"Ich verstehe nicht, warum die deutsche Bundesregierung Afghanen heute abschiebt. Auch wir kamen als Geflüchtete - und wurden herzlich empfangen. Damals verstand man unsere Situation. Andernfalls wäre eine Zukunft in Deutschland nicht möglich gewesen", sagt Wazirs Cousine.
Dadurch, dass in Karten meist nur die umkämpften Provinzen in Afghanistan gekennzeichnet sind, kann der Eindruck entstehen, in den von der Regierung kontrollierten Gebieten herrsche weitestgehend Ruhe. Allein im Januar 2017 kamen bei Bombenanschlägen und bewaffneten Übergriffen der Taliban über 100 Menschen ums Leben, weitere 125 wurden verletzt oder gekidnappt. In Kabul tötete eine Autobombe gleich 40 Menschen. Ähnlich viele Tote gab es bei einem Angriff auf eine Polizeistation in Kandahar am 21. Januar. Quelle: Foundation for Defense of Democracies, Al-Jazeera (Stand: Januar 2017) -
Für viele Afghanen steht außer Frage: In ihrer Heimat herrscht Krieg nicht erst seit dem sondern seit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen vor fast 4 Jahrzehnten. Seit damals folgte am Hindukusch ein Krieg dem nächsten. Laut der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) wurden allein im Jahr 2016 fast 11.500 Zivilisten Rund 3.500 Menschen wurden getötet, fast 8.000 verletzt. getötet oder verletzt, Rund 1/3 der Opfer sind Kinder.
Bevor der Krieg in Syrien ausbrach, waren Afghanen die größte Flüchtlingsgruppe weltweit. Auch in Deutschland belegen Geflüchtete aus Afghanistan den zweiten Platz aller Flüchtlingsgruppen. Allein im Jahr 2016 beantragten über (gegenüber doppelt so vielen Syrern) Asyl in Deutschland.
Flüchtlingsland AfghanistanDie meisten afghanischen Geflüchteten nimmt in diesen Tagen allerdings, so paradox das auch klingen mag, Afghanistan selbst auf - und die meisten von ihnen kommen nicht zurück aus Deutschland. Im Iran und Pakistan, den beiden Nachbarstaaten Afghanistans, sind 2,5 Millionen Afghanen registriert. Die Dunkelziffer dürfte um einiges höher liegen. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen spricht von rund 1,3 Millionen registrierten, afghanischen Geflüchteten in Pakistan sowie rund 950.000 im Iran.
In Pakistan und Iran gelten afghanische Geflüchtete als "Sicherheitsrisiko"Doch in den vergangenen Monaten wurden Hunderttausende Afghanen gezwungen, den Iran oder Pakistan zu verlassen. Denn in beiden Ländern gelten afghanische Geflüchtete als Die Behörden vermuten, dass sich Terroristen in den Flüchtlingslagern verstecken. So stehen die Afghanen in den Aufnahmeländern unter Generalverdacht und sind ausgesetzt - Iran und Pakistan "entledigen" sich der Geflüchteten per Abschiebung.
Für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) scheint die gegenwärtige Situation in Afghanistan keinen Einfluss auf die Abschiebungen aus Deutschland zu haben. Im Fall von Wazir begründete es, dass dessen Leben dort nicht als gefährdet eingestuft werde. In diesem und anderen Abschiebefällen beruft sich das BAMF auch auf Gebiete, in denen Afghanen angeblich in Sicherheit leben könnten.
Deutsche Truppen beteiligten sich 2001 an der US-geführten Operation "Enduring Freedom" und dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppen unter NATO-Führung. Laut Bundeswehr können auch nach dem Ende des Einsatzes in Afghanistan noch bis zu 980 deutsche Soldaten im Land eingesetzt werden. - Quelle: ISAF Headquarters Public Affairs Office copyright
Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) kommentiert dies in einem Bericht an das Bundesinnenministerium wie folgt: Anmerkung der UNHCR zur Situation in Afghanistan "Ein pauschalierender Ansatz, der bestimmte Regionen hinsichtlich der Gefahr von Menschenrechts-Verletzungen, wie sie für den Flüchtlingsschutz oder den subsidiären Schutz Der ubsidiärere Schutz ist eine vorrübergehende Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr, wenn weder politische Verfolgung vorliegt noch Asyl gewährt wird. Der Geflüchtete muss Gründe vorbringen, dass ihm in seinem Herkunftsland ernsthafter Schaden (z.B. die Todesstrafe, Folter) droht und er dort keinen Schutz erhält. relevant sind, als sichere und zumutbare interne Schutzalternative ansieht, ist nach Auffassung von UNHCR vor dem Hintergrund der aktuellen Situation in Afghanistan nicht möglich."
Seit Mitte Dezember wurden bereits 78 afghanische Geflüchtete aus Deutschland in 3 Charterflügen Weitere Sammelabschiebungen Die Kosten der Sammelabschiebungen sind unterschiedlich, summieren sich oftmals allerdings auf sechsstellige Beträge. Kosten entstehen sowohl für das Fluggerät als auch für den Einsatz der Bundespolizei. sind bereits geplant. Dafür hat die Europäische Union einen mit der afghanischen Regierung abgeschlossen. Ein ergänzendes Abkommen wurde von beiden Seiten auf der jüngsten unterzeichnet. Beide haben zum Abschiebungen aus Europa zu beschleunigen.
"War on Terror"Durch den jüngsten Deal könnte de facto eine unbegrenzte Anzahl afghanischer Geflüchteter abgeschoben werden. Im Gegenzug erhält die afghanische Regierung in Kabul finanzielle Hilfen. Laut der Europäischen Kommission soll Afghanistan bis 2024 jährlich mehr als 1 Milliarde Euro erhalten. Die Regierung von Präsident Ashraf Ghani Nach einem langatmigen Wahlkampf beerbte Ashraf Ghani im September 2014 den vorherigen Präsidenten Hamid Karzai. Zuvor war er sowohl bei der Weltbank als auch als Finanzminister tätig. Außerdem arbeitete Ghani erfolgreich als Wissenschaftler in den USA. sieht unter anderem vor, ein zusätzliches Terminal am Kabuler Flughafen zu bauen - Warum hat Afghanistan ein so großes Interesse daran, dass seine Staatsbürger wieder in das Land abgeschoben werden?
Die afghanische Regierung ist lediglich am Geld der EU interessiert. Das korrupte, politische System des Landes, welches kurz nach dem Einmarsch der NATO entstanden ist, ernährt sich weiterhin von Hilfszahlungen, die auch in der Vergangenheit eigentlich für Schulen oder Krankenhäuser gedacht waren. Letztendlich haben sie allerdings nur das Luxusleben vieler Politiker und Kriegsfürsten finanziert. - Waheed Mozhdah, afghanischer AnalystWaheed Mozhdah gehört zu den bekanntesten Analysten Afghanistans Mozhdah kommt auch in vielen internationalen Medien zu Wort, u.a. in The Guardian, Reuters und Al-Jazeera. und kommentiert regelmäßig das tagespolitische Geschehen in afghanischen Medien. Er beschäftigt sich vor allem mit den Taliban, Al-Qaida und den afghanisch-iranischen Beziehungen im 20. Jahrhundert.
Waheed Mozhdah, der im afghanischen Außenministerium während der Talibanherrschaft arbeitete, ist heute ein viel zitierter politischer Analyst mit Taliban-Fokus. - Quelle: Waheed Mozhdah copyright
Mozhdah hebt hervor, dass die Kabuler Regierung den Schein gegenüber den westlichen Staaten wahren muss; sie gibt also vor, alles im Land - vor allem die Sicherheitslage - unter Kontrolle zu haben. Die Kämpfe in vielen Provinzen spielt sie herunter. "Überall in Afghanistan herrscht Gefahr. Zu behaupten, dass zum Beispiel Kabul sicher sei, ist falsch, wenn man die Anzahl der Anschläge und Attentate in Betracht zieht, die hier regelmäßig stattfinden. Regionen außerhalb der Großstädte sind klassische Kriegsschauplätze, an denen sich die afghanische Armee und die Taliban offen bekämpfen. Und viele dieser Gebiete sind ohnehin schon in der Hand der Taliban und werden nicht von der Regierung kontrolliert", so Mozhdah.
Der Analyst kritisiert dabei auch die Rolle des Westens in Afghanistan: "Die selbstauferlegte Mission der westlichen Staaten unter der Führung der USA war die ›Befriedung‹ des Landes. Stattdessen ist genau das Gegenteil passiert. Tatsächlich gab es vor 2001 nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Staaten wie dem Irak weniger extremistische Akteure als heute. Der US-geführte "War on Terror" 2003 begründete der amerikanische Präsident George W. Bush den Militäreinsatz damit, das irakische Regime unter Saddam Hussein lagere nukleare Waffen ein - eine falsche Annahme, wie sich später herausstellte, und eine Katastrophe für die irakische Bevölkerung: Vom Beginn des Irakkriegs bis zum Ende der Besatzung 8 Jahre später starb über eine halbe Million Menschen. Der Krieg läutete auch eine blutige Anschlagsserie ein, die bis heute anhält und hauptsächlich auf das Konto des selbst ernannten IS und seiner Vorgänger geht. im Irak und Afghanistan destabilisierte große Teile der Länder und schaffte damit einen perfekten Nährboden für terroristische Organisationen.
"Die Sicherheit in Afghanistan ist natürlich nicht so hoch wie anderswo"In den Hintergrund gerät oftmals, was mit den Abgeschobenen passiert, sobald sie in Kabul sind. Wie im Fall des 23-jährigen Emran. Er wurde im Dezember aus Bulgarien nach Afghanistan abgeschoben. Aufgrund des sogenannten Dublin-Abkommens der EU schob Österreich Emran nach Bulgarien ab, wo er erstmals als Flüchtling in der EU registriert wurde. "Ich habe in Kabul nach meiner Abschiebung bereits 2 Anschläge hautnah miterlebt. Wahrscheinlich hätte man es in Europa gar nicht mitbekommen, wenn ich getötet worden wäre", erzählt Emran.
Österreich hatte ihn abgeschoben, obwohl er sich in ärztlicher Behandlung befand: "Ich habe Leber- und Nierenprobleme. Hinzu kommen noch psychische Beschwerden. Mein Arzt meinte, dass ich Österreich auf keinen Fall verlassen dürfe und auf eine permanente Behandlung angewiesen sei." In Afghanistan kann Emran auf keine Behandlung hoffen. Dazu fehlt ihm das Geld.
Harun Arsalai wurde im August 2016 aufgrund seiner Arbeit in Dubai inhaftiert, wie Reporter ohne Grenzen berichteten. - Quelle: Harun Arsalai copyright
Seitdem sich Emran wieder in seiner Heimat befindet, ist er vollkommen auf sich allein gestellt. In Deutschland wird zwischen Abgeschobenen und "freiwilligen Rückkehrern" unterschieden. Letztere erhalten neben dem Flugticket 200 Euro Reisegeld und 500 Euro "Starthilfe". Diese Unterstützung ist allerdings selbst für afghanische Verhältnisse sehr gering. Viele seiner Familienmitglieder leben bereits im Ausland oder außerhalb der Hauptstadt Kabul. "Viele Rückkehrer waren sehr hilflos, nachdem sie den Kabuler Flughafen verlassen haben. Diese jungen Menschen sind leichte Ziele für kriminelle Banden. Sie können sehr leicht ausgebeutet werden", urteilt Harun Arsalai, ein amerikanisch-afghanischer Journalist und Aktivist. Erst kürzlich veröffentlichte er eine über die unhaltbaren Zustände innerhalb afghanischer Flüchtlingslager.
Manche NGOs stehen in der Kritik, für Afghanistan bestimmte Hilfsgelder veruntreut zu haben. Die Aussage von Arsalai, dass internationale Hilfsorganisationen Gelder veruntreut haben, ist schwer nachzuweisen. 2 deutschen Hilfsorganisationen in der Region, "Agef" und "Katachel", wurde vorgeworfen, Hilfsgelder in Millionenhöhe veruntreut zu haben. Sicher ist, dass Afghanistan bereits Hilfsgelder in Milliardenhöhe erhielt, sich dadurch die humanitäre Situation im Land aber kaum verbessert hat. Arsalai sagt: "Wir müssen damit aufhören, großen NGOs zu spenden." Der Journalist meint, in Kabul wären die Lager für Binnenflüchtlinge in einem sehr schlechten Zustand. Um den afghanischen Geflüchteten vor Ort zu helfen, möchte Arsalai auf deren Lage aufmerksam machen.
Wie gefährlich ist Afghanistan wirklich?Um die Lage in Afghanistan korrekt einschätzen zu können, braucht es vertrauensvolle Quellen. Doch diese sind in Regionen unter der Kontrolle der Taliban nur schwer auszumachen. Selbst der UN-Bericht, der die Gewalt im Land beschreibt und auf den sich westliche Politiker stützen, wird deshalb kritisiert. Analyst Waheed Mozhdah sieht hier Handlungsbedarf:
Die meisten Menschen, die den Bericht erstellen, sitzen in Kabul. Sie sind kaum in jenen Gebieten präsent, die vom Krieg am meisten betroffen sind. Dies betrifft auch Journalisten und andere Menschenrechtler. Es fehlt weiterhin an Transparenz. - Waheed MozhdahEr kritisiert vor allem die konservative Zählmethode der Organisation. Demnach sind nämlich mindestens 3 verschiedene Quellen für die notwendig. Die Anzahl der Todesopfer im Land könnte folglich viel höher sein als offiziell berichtet. Außerdem findet die UN-Zählung erst seit 2009 statt. Die Kriegsopfer der vorherigen Jahre sind nicht Um die Ausmaße des Krieges in Afghanistan deutlich zu machen, ist also vor allem ein genauerer und transparenterer Bericht notwendig.
Das haben auch deutsche Politiker erkannt, und sie reagieren. Das niedersächsische Innenministerium erklärte etwa, dass derzeit Rückführungen nach Afghanistan "im Zweifel bis zur Klärung der Sicherheitslage zurückgestellt werden". Ausreisepflichtige Straftäter werden allerdings weiterhin abgeschoben. Und auch in Schleswig-Holstein, Berlin, Bremen und Rheinland-Pfalz wurden die mit ähnlicher Begründung eingestellt.
3 verschiedene Quellen sind für die Bestätigung eines zivilen Opfers notwendigUm verlässliche Informationen zusammenzutragen, muss sich in Afghanistan Grundlegendes verändern. In vielen Dorfgemeinschaften werden weiterhin weder Geburts- noch Todesurkunden ausgestellt. Allein durch diese Praxis sind viele Opfer des Krieges nicht nachvollziehbar. Weitere unabhängige Beobachter, die zivile Opfer zählen, sind ebenfalls wichtig - und zwar in allen Gebieten des Landes, wobei ihnen eine freie und sichere Arbeit garantiert werden muss. Sie dürfen sich weder von Taliban-Kämpfern noch von lokalen Milizen oder Soldaten bedroht fühlen. Um dies zu erreichen, ist Druck von allen politischen Akteuren nötig, die in Afghanistan präsent sind.
Emran Feroz ist freischaffender Journalist und studierte Politik- und Islamwissenschaft in Tübingen. Seine Familie flüchtete vor dem sowjetischen Einmarsch aus Afghanistan nach Österreich. Er initiierte ein virtuelles Denkmal für die Opfer von amerikanischen Drohnenangriffen: das Hier geht es zum "Drone Memorial" "Drone Memorial" .picture alliance / AP Photo - copyright