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Sie wollen nicht mehr warten

Tunesier protestieren am 09. Januar in Tebourba. (Foto: dpa)

Seit Anfang des Monats protestieren Tunesier landesweit. Ein Demonstrant wurde getötet, mehr als 600 wurden festgenommen. Die Tunesier ächzen unter den Lebenshaltungskosten, die Anfang des Monats gestiegen sind. Die wirtschaftlichen Probleme gefährden die Demokratie des Landes, das vor sieben Jahren den Arabischen Frühling eingeleitet hat.

Sie halten die algerische Flagge hoch, sie zeigt denselben roten Halbmond und fünfzackigen Stern wie die tunesische, doch auf ihre Heimat sind die Demonstranten gerade nicht gut zu sprechen. Männer und Frauen, warm eingepackt in Mützen und Schals, marschieren an die Grenze zum Nachbarland, das zeigen Videoaufnahmen. "Fühl endlich mit uns, Regierung", rufen sie. Und dann lassen sie Abdelaziz Bouteflika, den greisen algerischen Staatspräsidenten, hochleben. Der kann ihnen allerdings auch nicht weiterhelfen.

Ob nun Drohgebärde oder ernste Absicht, die etwa 500 Demonstranten kommen ohnehin nicht weit, die tunesische Regierung hat Truppen an die algerische Grenze nahe der Stadt Thala entsandt, nachdem Demonstranten ein Gebäude der Sicherheitskräfte niedergebrannt hatten.

Viele Tunesier ächzen unter den Lebenshaltungskosten, die Anfang des Monats gestiegen sind. Die Regierung hat ein neues Finanzgesetz eingeführt und die Mehrwertsteuer erhöht, auch die Preise für Gemüse und Obst, Heizöl und Internet ziehen an. Dieses "ungerechte Finanzgesetz" treffe die Armen und die Mittelschicht, sagt Hamma Hammami, Chef der Oppositionspartei Volksfront. Der Frust in dem Land, das vor sieben Jahren den Arabischen Frühling eingeläutet hat, ist groß. Zwar hat Tunesien den Übergang zur Demokratie geschafft, im Vergleich zu Syrien oder Libyen gilt es als Vorzeigeland im arabischen Raum. Doch die wirtschaftlichen Probleme gefährden diese Erfolge.

Der Ministerpräsident verspricht das "letzte schwierige Jahr"

Tunesien, einst ein beliebtes Reiseziel für Europäer, kämpft nach zwei schweren Anschlägen in den vergangenen Jahren mit sinkenden Einnahmen aus dem Tourismus. Hinzu kommt die steigende Inflation, die jüngst auf sechs Prozent kletterte. Wegen des steigenden Staatsdefizits ist auch der Wert des Dinars gesunken. Wichtige Investitionen bleiben aus, die Arbeitslosigkeit ist hoch, fast jeder dritte Hochschulabsolvent findet keine passende Anstellung.

All das treibt die Menschen landesweit auf die Straße. In einigen Städten kam es zu Plünderungen und Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften. In Tebourba, rund 30 Kilometer westlich der Hauptstadt Tunis, starb ein Demonstrant. Der Obduktionsbericht wurde bislang nicht veröffentlicht, das Innenministerium bestreitet eine Schuld. Mehr als 600 Menschen wurden festgenommen.

Der tunesische Ministerpräsident Youssef Chahed rief zur Ruhe auf und bat die Menschen um Verständnis für das neue Finanzgesetz. Demonstrationen seien akzeptabel, nicht aber Gewalt. Er versprach, dass 2018 "das letzte schwierige Jahr für die Tunesier" sein werde. Doch die unabhängige tunesische Beobachtungsstelle für Wirtschaft (OTE) hält das neue Gesetz für den Beginn eines Sparkurses, wie Chafik Ben Rouine, OTE-Vorsitzender, der Süddeutschen Zeitung sagt. Die Regierung von Präsident Béji Caïd Essebsi habe sich mit ausländischen Gläubigern auf ein Sparprogramm geeinigt und müsse in den nächsten Jahren Auslandskredite begleichen, die ihnen unter anderem der Internationale Währungsfonds gewährt habe. Die Staatsverschuldung ist auf knapp 70 Prozent des Bruttoinlandprodukts gestiegen.

Auch mit Fake News haben die Demonstranten zu kämpfen

Auf diese schwierige wirtschaftliche Lage reagierte die studentische Jugendbewegung "Auf was warten wir?" (Fech Nestannew) mit einem landesweiten Protestaufruf. Der 22-jährige Student Koussay Ben Fredj ist Mitbegründer der Aktivistengruppe, die es erst seit dem 3. Januar 2018 gibt. In den sozialen Netzwerken hat sich ihr Slogan schnell als eigener Hashtag verbreitet. Sie fordern die Rücknahme des Finanzgesetzes.

"Wir wollen keinen Regierungswechsel", sagt Ben Fredj am Telefon. "Wir wollen einfach nur in Würde leben, und zu einer Demokratie gehört, dass die Regierenden uns zuhören." Sonst würden die Armen nur noch ärmer. Auch die grassierende Korruption sei ein Grund für die Misere des Landes, sagt Ben Fredj. Dass es zu Gewaltausbrüchen gekommen ist, verurteilt die Gruppe, die sich als "unabhängige Friedensbewegung" bezeichnet.

Ben Fredj beklagt, dass sich die Öffentlichkeit auf die Plünderungen konzentriere und versuche, die jungen Demonstranten zu "dämonisieren". In dem populären Fernseh-Talkformat "75 Minuten" werfen die Moderatoren Ben Fredj vor, für Unruhe im Land zu sorgen. "Was wollt ihr denn? Tunesien an die Wand fahren?", fragen sie.

Auch mit Fake News haben die Demonstranten zu kämpfen. So verbreiten tunesische und algerische Medien, dass die Gruppe dazu aufruft, nach Algerien auszuwandern. "Das stimmt alles nicht. Wir wollen Tunesien weiterentwickeln und nicht abhauen." Für diesen Freitag sind landesweit Großdemonstrationen geplant.

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