Es war Liebe auf den ersten Blick. Barbara Pötke erinnert sich noch heute genau an den Moment, als sie den schönen Leo zum ersten Mal sah. Es war 1985, sie hatte gerade eine Ladung Hummer aus dem Nordwestatlantik in den kalten Keller am Hamburger Fischmarkt bekommen. "Pro Woche waren es ja 1000 Kilo." Doch an diesem Tag war etwas anders. Barbara Pötke fiel auf, dass alle Hummer im Becken einen ihrer Artgenossen verscheuchten. Er sei etwas kleiner und dünner als die anderen gewesen. Sie hatte Mitleid und hob den Kerl hoch. "Er sah so hübsch aus, wie ein Leopard."
Sein Panzer war dunkel, mit leuchtenden, beinahe bernsteinfarbenen Sprenkeln. Sie trug ihn in den Nebenraum und setzte ihn in ein Einzelbassin. Über den Namen dachte sie nicht lange nach: Leo, mit den Leopardenflecken. Meistens rief sie "Leolein. Morgen bin ich wieder da". Dann knipste sie das Licht aus. So begann die Geschichte von Hummer-Bärbel und ihrem Leo. "Es war Liebe, sofort", erinnert sie sich heute.
Bärbel und Leo verstanden sich auf Anhieb. Wenn sie morgens bei der Arbeit in einem Feinkostgeschäft am Hamburger Fischmarkt ankam und die Tür zum Hummerkeller öffnete, kam Leo, er war damals sechs Jahre alt, mit kreiselnden Antennen an den Rand des Einzelbeckens gezischt. Bärbel begann so viel wie möglich mit ihm zu sprechen, wenn sie am Tisch stand und Hummerfleisch verpackte. Sie erzählte Leo alles Mögliche, etwa von ihrem Urlaub in Österreich, oder sie sang deutsche Wanderlieder. Er freute sich, sagt sie. Manchmal "dibberte er richtig in seiner Ecke", dass man ihn beachtete oder mit ihm spielte.
"Leolein" liebte Honigbrötchen
Leo wurde zutraulich. Rief sie "Leolein", kam er angelaufen. "Er kannte ja seinen Namen." Über den Tag verteilt bekam er Snacks, er aß Fischköpfe aus dem Geschäft, und Bärbel fragte auf dem Markt nach Schellfischköpfen für ihn. Liebe geht durch den Magen. Leo, der anfangs schmal und zart war, wurde Jahr für Jahr größer. Irgendwann fraß er Hummer-Bärbel direkt aus der Hand, entweder hob sie ihn dazu aus dem Wasser oder hielt die Hand direkt ins Bassin. Nur sie durfte das. Näherte sich eine andere Hand, flüchtete Leo in eine Ecke seines Beckens. Inzwischen hatte Leo prächtige Scheren: "Aber: Er hat nie jemandem was getan."
Eines Tages entdeckte sie in ihrer Pause, dass er Honigbrötchen liebte. Leo biss vorsichtig Bröckchen von ihrem Pausenbrot ab. Das Teilen des Brotes wurde zum täglichen Ritual. Am Ende ließ sich Leo nach dem Essen sogar den Bauch kraulen. "Ach, er war so süß", sagt Pötke, "und er hat gut zugenommen".
Hummer-Bärbel ist eine richtige Hamburger Deern, erzählen die Menschen, die sie am Fischmarkt erlebt haben. Mit 17 fing sie in dem Feinkostladen am Hamburger Hafen an, als Mädchen für alles. Schon ihre Mutter hatte hier am Fischmarkt in der Großen Elbstraße 210 gearbeitet, an der Säge, Schollen zerteilen. Als Bärbel angeboten wurde, sich um die Hummer zu kümmern, sagte sie zu.
Mit Schlabberhosen und Pulli, im Winter Pudelmütze, sei sie fortan im Keller gewesen, erzählen die Kollegen. Den richtigen Salzgehalt im Becken konnte sie bald an einem Tropfen erschmecken. Die anderen im Laden hielten sie für ein wenig verrückt wegen ihrer Hummerliebe. Aber keiner rührte Leo an. Leo brauchte Nähe. Schwierig wurde es, wenn sie verreiste. "Das habe ich ihm dann erklärt. Leolein, habe ich gesagt, jetzt kümmern sich die anderen um dich." Das habe er verstanden, allein am Klang ihrer Stimme. Sie fasste sogar den Plan, einmal seine Heimat Kanada zu sehen.
Wie ein Hausschwein
Irgendwann konnte sie seine Gesten lesen, verstehen, was Leo meinte. "Wir waren ja jeden Tag viele Stunden zusammen im Keller." Leo wurde ihr Lehrmeister. Sie beobachtete seine Antennen. War Leo neugierig und interessiert, waren sie steil nach oben gerichtet und guckten aus dem Wasser. Vermutete Leo Gefahr, bogen sie sich nach hinten, und wenn Leo etwas untersuchte, richtete er die Fühler wie kleine Scheinwerfer nach vorne. So wurde Hummer-Bärbel zur Koryphäe in Hummer-Fragen, selbst die Hummeraufzuchtstation Helgoland rief manchmal am Hamburger Fischmarkt an und fragte um ihren Rat.
Leo wurde zum Haustier. Abends flitzte er ihr wie ein Hausschwein auf den Kacheln hinterher, als wollte er sagen: "Nimm mich mit, ich gehöre zu dir." "Leolein, morgen bin ich wieder da", habe sie dann in einem zärtlichen Singsang gesagt. "Er hat das verstanden, Tiere verstehen so was." Morgens klapperte er dann erfreut mit den Scheren, wenn sie das Licht anmachte, und kam an seine Glasscheibe geflitzt.
Barbara Pötke stand drei Häutungen mit ihrem Liebling durch. Jedesmal war Leo extrem zartbesaitet. Doch nach drei Monaten war Leo wieder fest mit neuer Schale.
Von dem Treiben um ihn herum bekam Leo zum Glück nicht viel mit. Im Nebenraum schwammen seine Kollegen aus Kanada, die im Kochtopf landeten und zu Hummerfleisch verarbeitet wurden. Andere wurden lebend an Gastronomen verkauft. Leo war der einzige Hummer, der sechs Jahre an der Großen Elbstraße am Hamburger Fischmarkt im Einzelbecken planschte. "Ja, es war Liebe", sagt Barbara Pötke. "Auf den ersten Blick." Und jeder am Hamburger Fischmarkt, der dazugehörte, kannte die Love-Story von Leo und Hummer-Bärbel.
Grab im Garten
Doch dann kam die dritte Häutung. Leo wurde immer schwächer. Barbara Pötke versuchte noch, Spezial-Tropfen in einer Hamburger Zoohandlung für Leo zu kaufen. Etwas zur Stärkung. Doch Leo, inzwischen war er zwölf, wurde schwach und erholte sich nicht. Bärbels geliebter Hummer starb. Sie nahm ein sauberes Geschirrhandtuch und wickelte seinen kleinen Körper behutsam ein. Dann fuhr sie mit ihm auf dem Arm nach Hause und schnitzte ein kleines Holzkreuz. Sie grub ein Loch im Garten und bettete ihren Leo hinein. Sie weinte und stellte das Kreuz als Grabmal auf.
Zuhause bei Barbara Pötke kam an Weihnachten oder Silvester nie Hummer auf den Tisch. Das hätte sie nicht übers Herz gebracht, auch wenn der Feinkostladen voll mit edlem Fisch war. Leo war jedes Mal so froh, wenn sie nach den Festtagen um sechs zur Arbeit im Keller zurückkehrte. Erleichtert habe er ihr dann durch die Scheibe gewinkt. Einen Nachfolger für ihn gab es am Hamburger Fischmarkt nicht. "Der kleine Benji", ein Babyhummer, der fast ein zweites Mal ihr Herz erweicht hätte, starb früh.
Leo liegt nun seit Jahren im Garten in Bergedorf. Die Grabstelle ist verwildert. Oft denkt sie an ihn, unzählige Bilder von ihm und ihr kleben in ihrem Fotoalbum. Seit drei Monaten ist Pötke in Rente, nach 44 Jahren am Fischmarkt. Manchmal denkt sie: "Wie jung ich damals mit 37 war und wie schön der kleine Leo, und auch ich sah schmuck aus."