Werden wir alle traumatisiert aus der Coronakrise hervorgehen? Nein, beruhigt die Psychologin Tanja Michael. Wie man es schafft, zuversichtlich zu bleiben, erklärt sie im Interview.
Ein Interview von Stefanie Maeck
SPIEGEL: Frau Professor Michael, Sie sind Traumaforscherin. Ist die aktuelle Krise überhaupt mit dem Begriff des Traumas zu beschreiben?
Michael: Ich verstehe schon, dass man im Alltag sagt, dass die Situation traumatisch ist. Aber als Traumaforscherin würde ich sagen Nein, weil der Begriff des Traumas laut einer Definition, die amerikanische Wissenschaftler als verbindlich ansehen, sehr genau definiert ist als eine Konfrontation mit drohendem Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt. Die Weltgesundheitsorganisation fasst Trauma als extrem belastendes Ereignis bei außergewöhnlicher Bedrohung auf. Das ist offener. Aber für die allermeisten Leute in Deutschland ist die Covid-19-Pandemie kein traumatisches Ereignis.
SPIEGEL: Sie sind da streng?
Michael: Der Traumabegriff sollte den Ereignissen vorbehalten sein, die eine ganz besondere Qualität haben. Was auch dagegen spricht, den Traumabegriff für eine Pandemie zu öffnen, ist, dass die Wahrscheinlichkeit, an einer posttraumatischen Belastungsstörung zu erkranken, nach interpersonellen Traumata deutlich höher ist als etwa nach Naturkatastrophen oder schweren Unfällen, bei denen sie nur bei etwa fünf Prozent liegt.
SPIEGEL: Aber einige Menschen erleben doch jetzt lebensbedrohliche Zustände?
Michael: Einige werden tatsächlich traumatisiert. Jene, deren Leben durch schwere Verläufe von Covid-19 und Atemnot bedroht werden. Das gilt auch für die Angehörigen, die das mitansehen müssen, und ihre Ärzte und Pflegekräfte. Aber die allermeisten Deutschen betrifft das nicht. Womit ich eher rechne, ist ein Anstieg von dem, was wir Anpassungsstörungen nennen. Hier liegt ein starker psychosozialer Stressfaktor vor. Die Symptome sind übermäßiges Sorgen, Grübeln und eine mangelnde Adaption an die neuen Lebensumstände.
SPIEGEL: Was sind die seelischen Stressfaktoren der Coronakrise?
Michael: Die Ungewissheit und der Kontrollverlust. Unsere Ambulanz ist weiter geöffnet, und wir haben eine Telefonhotline eingerichtet. Es lässt sich sagen: Vorhandene seelische Leiden verschlimmern sich. Patienten mit Zwangsstörungen, die an Kontaminationsängsten leiden, sind natürlich besonders betroffen.
SPIEGEL: Wer leidet noch?
Michael: Ich beobachte auch, dass sich die Symptomatik bei Menschen mit Angst- und Depressionserkrankungen verstärkt. Menschen mit Substanzmissbrauch fangen an, mehr zu trinken. In der Hotline berichten viele psychisch gesunde Menschen, dass sie schlechter schlafen, sich ängstlicher und niedergeschlagener fühlen. Es gibt bereits Untersuchungen aus China, nach denen zwischen 16 und 18 Prozent der Bevölkerung belastet sind mit Angst- und Depressionssymptomen.
SPIEGEL: Was weiß die Resilienzforschung darüber, mit welchem Verhalten Menschen am besten durch schwere Krisen kommen?
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