SPIEGEL ONLINE: Herr Milzner, macht uns das Smartphone krank?
Milzner: Das Gerät an sich nicht, die Art es zu nutzen mitunter schon. Zunehmend kommen Patienten mit dem Gefühl zu mir, gar nicht zu wissen, was eigentlich in ihnen geschieht. Sie haben keinerlei Selbstaufmerksamkeit mehr. Man könnte sagen, durch ihre ständig springende Aufmerksamkeit sind sie sich selber fremd geworden.
SPIEGEL ONLINE: Wie beeinflusst der Blick aufs Smartphone die Aufmerksamkeit der Menschen?
Milzner: Zunächst kommt es zu sehr engen Reiz-Reaktionstaktungen. Eingehende Signale wollen gleich beantwortet werden. Es herrscht dabei weitgehende Unabhängigkeit von Raum und Zeit, wir können einander gefühlt rund um die Uhr erreichen. Der Nutzer bekommt den Eindruck: Wow, der Raum ist voller Möglichkeiten.
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SPIEGEL ONLINE: Ist das nicht auch psychologisch überaus positiv?
Milzner: Natürlich ist es toll, mit vielen Leuten Kontakt zu halten, zu kommunizieren. Doch Untersuchungen zeigen, dass wir nur mit einer überschaubaren Zahl an Menschen enge Beziehungen haben können. Der hohe Vernetzungsgrad lenkt daher ab von dem, was wir eigentlich sind und wollen. Das liegt aber nicht an der Digitalisierung an sich. Wenn wir mit einem Kind auf dem Tablet ein Spiel spielen, kann das wunderbar sein und uns verbinden. Was Probleme macht, sind die Vielzahl der Reize und die engen Taktungen, durch die unsere engsten Beziehungen und die zu uns selbst aus dem Blick geraten.
SPIEGEL ONLINE: Haben moderne Menschen also gewissermaßen eine Konzentrationsschwäche?
Milzner: Die engen Taktungen führen zu einer zerstreuten Aufmerksamkeit, eine Art permanenter ADHS. Eingehende Reize werden mit schnellen Reaktionen beantwortet. Auf dem Spielplatz, weil eine WhatsApp reinrauscht, gucken Eltern nach unten, während oben auf der Rutsche das Kind die Sicherheitskontrolle bräuchte. So gehen uns die primäre Selbstaufmerksamkeit und die Aufmerksamkeit für unsere engsten Bezugspersonen verloren.
SPIEGEL ONLINE: Was ist schlimm daran, sich selbst nicht ständig Aufmerksamkeit zu schenken?
Milzner: Menschen haben heute Probleme mit Selbstfindungsfragen. Die vielen fremden Bilder auf Instagram oder Facebook bringen sie weg vom inneren Kern und Gefühl. An die Stelle des Fühlens treten Bilder, noch schlimmer: von außen kommende Bilder. Das sind nicht die Bilder und Ideen, die aus meinem eigenen Seelengrund stammen, sondern solche, die von anderen implementiert sind - im digitalen Kapitalismus oft auch von Firmen.
SPIEGEL ONLINE: Wie kommt man dagegen an?
Milzner: Durch eine neue Beziehung zu uns selbst. Wofür will ich mich im Leben einsetzen? Worum geht es mir, wer und was ist mir wichtig? Es geht darum zu erkunden, wer ich bin und welche Motive ich habe.
SPIEGEL ONLINE: Welche Strategien gibt es konkret?
Milzner: Als Souverän der Aufmerksamkeit steuert man selbst und nicht das Smartphone. Ich empfehle dafür die Bildung von Hierarchien. Wer bekommt meine Aufmerksamkeit? Was sind die wichtigsten Dinge? Vielen Patienten fällt es schwer, ihr Handy für die Dauer einer Therapiestunde ganz auszustellen, obschon es da um sie selbst geht. Wir bräuchten aber dringend mehr Dates mit uns selbst. Was fehlt ist Selbstkompetenz, nicht Medienkompetenz.
SPIEGEL ONLINE: Sie fordern eine neue Innerlichkeit. Sollten wir also weniger digital unterwegs sein?
Milzner: Es geht keinesfalls um Technikverzicht. Das Digitale können wir hervorragend zur Selbstfindung nutzen. Patienten bekommen von mir beispielsweise Audiodateien mit aufgesprochenen Tranceinduktionen oder hilfreichen Suggestionen. Sie können die vertraute Stimme des Therapeuten so zeitunabhängig hören. Ich kann die Technologie auch als Erinnerung nutzen, etwa einen Wecker stellen, der mich an seelische Anliegen erinnert, oder ein Zeitfenster für eine Körperwahrnehmung öffnen, die beginnenden Verspannungen entgegenwirkt. Auch im Smartphone gespeicherte Minimeditationen helfen. Dem Reiz-Reaktionsmodus steht ein selbstbestimmter Umgang mit dem Digitalen entgegen.
SPIEGEL ONLINE: Müssen wir also achtsamer werden?
Milzner: Achtsamkeit, das reine Wahrnehmen, ist als Gegenbewegung zur digitalen Selbstentfremdung nicht ausreichend. Achtsamkeit ist zu entrückt, ihr fehlt die kraftvolle Emotion. Besser stellt man sich Fragen: Was macht mich lebendig? Möchte ich mit 80 auf mein Leben blicken und sagen, ich habe immer viele Bilder gepostet? So kann jeder für sich herauszufinden, wie man ein wildes, sinnvolles Leben im Digitalen führt. Und darum geht es.