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ZEIT Wissen: Ich liebe einen Narzissten. Was tun?

ZEIT Wissen: Ich liebe einen Narzissten. Was tun?

Eine Modediagnose. Aber was genau ist Narzissmus? Was bedeutet er im Alltag, Beruf und in der Liebe? Wie lässt er sich überwinden?

ZEIT Wissen-Artikel

DIE ZUMUTUNG
Ich liebe einen Narzissten! Was tun?

Eine Diagnose im Trend: Alle führen sie gerade schnell im Mund. Aber was genau ist Narzissmus? Was bedeutet er im Alltag? Und wie lässt er sich überwinden?

Von Stefanie Maeck

Manches Wissen wächst in verdammt hohen Gebieten. Trotzdem sollte man sich hin und wieder dorthin aufmachen, auch wenn es richtig anstrengend wird. Willkommen auf dem Pfad der Narzissmusforschung.

Basislager
Gehen Sie erst los, wenn Sie die folgenden Grundlagen in Ihren Rucksack gepackt haben

Bevor es losgeht, sitzen wir im Café am Fuß des Hügels und plaudern. Es ist ein Gespräch, bei dem jeder mitreden kann. Jeder, der einmal geliebt hat - und womöglich sogar den Falschen geliebt hat. Am Tisch geht es um die Frage: Liebe ich einen Narzissten? Einen Ausbeuter und Egoisten? Ex-Partner etikettieren einander nicht selten mit Diagnosen, die wie eine Keule wirken. Das Erklärungsmodell Narzisst wird dabei besonders gerne eingesetzt. Ein Mensch, der sich in Beziehungen wie ein Raubtier verhält, eigene Interessen egoistisch über die anderer stellt, gilt als Narzisst. Jemand, der nur Respekt für seine Bedürfnisse fordert, andere vielleicht sogar ausbeutet und wenig Mitgefühl für ihre Situation aufbringt. Bücher über destruktive Narzissten und Psychopathen verkaufen sich ausgezeichnet, und wenn Experten Vorträge halten, sehen sie sich anschließend von Frauen umringt, die sagen: "Sie beschreiben genau meinen Mann." So virulent das Thema, so alt ist der Mythos des Narziss: In der griechischen Mythologie war Narziss ein schöner Jüngling, Sohn eines Flussgottes und einer Nymphe, der mit seiner Anmut alle Blicke und alles Liebesbegehren auf sich zog. Narziss aber wies alle Bewerber stolz ab. Ein Verehrer rief die Götter im Zorn an und verlangte Rache. Die Götter straften Narziss tatsächlich - mit unstillbarer Selbstliebe. Als er eines Tages an einer Quelle hielt, um zu trinken, sah er sein Gesicht und verliebte sich. Er versuchte, sein Spiegelbild zu umarmen, stürzte ins Wasser und ertrank. Unsere Bergführerin heute ist Bärbel Wardetzki. Die Münchner Psychologin beschäftigt sich seit bald dreißig Jahren mit Fragen des Narzissmus. Hat es einen Grund, dass ich einen Narzissten liebe, Frau Wardetzki? Kann eine solche Liebe glücken, ohne dass wir zu sehr Schaden nehmen? Und: Gibt es Heilung für einen Narzissten? Die Fragen in unserem Gepäck wiegen schwer. Wir trinken aus und machen uns auf den Weg.

Erster Anstieg
Los geht's! Auf leichten Anhöhen begegnen Sie Erkenntnissen, die Sie ins Schwitzen bringen können

Einzelne Lehrpfade müssen wir nehmen, bis ein breiter befestigter Weg in Sicht kommt. Viele
Kontroversen ranken sich um den schillernden Narzissmusbegriff. Sigmund Freud beschäftigte sich 1914 mit der Frage, warum ein Mensch seine Energie von der Außenwelt abzieht und sie wie der Narzisst auf das eigene Ich lenkt. Freud unterschied einen primären, normalen Narzissmus, also eine Entwicklungsphase, die jeder Mensch durchläuft, sowie einen sekundären Narzissmus. Dieser spätere Narzissmus entsteht laut Freud durch einen Mangel an Elternliebe und durch frühe Kränkungen, die ein Mensch erleben musste. Dieser Mangel führt, einfach gesagt, zu übertriebener Selbstliebe, dazu, das eigene Ich "libidinös" zu erleben, wie es in der Sprache Freuds heißt. Der Grund: Da draußen ist schlicht niemand, der die Bedürfnisse des Kindes angemessen beantwortet, der es tröstet und den es verlässlich lieben könnte. Das Kind ist verunsichert und wendet sich auf sich selbst. Diese Urszene sollte man im Rucksack behalten. Denn um die Frage, ob nun versagende oder nicht doch eher verwöhnende Eltern Narzissten erschaffen, dreht sich heute der Streit. Heinz Kohut, ein wichtiger Narzissmusforscher, sah die Schuld bei den kalten, versagenden Eltern. Vor allem bei der Mutter, die ihr Kind nicht ausreichend in seinen Gefühlen spiegelt und ihm so nicht hilft, ein stabiles Selbst zu entwickeln. Ein Kind, sagt Kohut, brauche die richtige Dosis aus Frustration und einfühlsamer Resonanz, um ein stabiles Selbstbewusstsein aufzubauen. Bleibt das Bedürfnis nach Spiegelung, Liebe und Empathie jedoch dauerhaft unerfüllt, so bildet das Kind, um zu überleben, ein übersteigertes Selbstbild oder ein Bild idealer Eltern aus. Es stabilisiert sich in der hilflosen Situation mit einem Bild der Grandiosität. Später im Leben wird hinter dieser Maske der fantasierten Großartigkeit immer auch das fragile Selbst in Form von Minderwertigkeit spuken. Ein narzisstischer Mensch versucht durch die Bewunderung, die er bei anderen sucht, seine Zweifel zu beruhigen. Es ist diese frühe Not, die den Narzissten treibt. Der Psychoanalytiker Otto Kernberg lieferte einen weiteren wichtigen Baustein zum Verständnis des Narzissmus. Er glaubte, dass selbst eine liebende Mutter eine pathologische Entwicklung auf den Weg bringen könne. Eine Mutter nämlich, die ihr Kind als eine Art Bestätigung ihrer selbst betrachtet, die das Kind sogar als einen Ausläufer von sich selbst wahrnimmt. Sie reagiert nicht auf die Persönlichkeit des Kindes und seine Gefühle, sondern legt ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle in das Kind. Das Kind bleibt so ganz ohne Spiegelung. Auch dieses Kind kann kein sicheres Selbst aufbauen, sondern nur ein falsches, aufoktroyiertes Selbst. Eine solche Mutter kann dem Kind auch schwer Autonomie und von ihr getrennte Impulse erlauben. Der Imperativ, den das Kind mit der Muttermilch aufsaugt, lautet: "Sei so, wie ich dich brauche, dann wirst du auch geliebt." Ein Narzisst sehnt sich im späteren Leben zwar danach, geliebt zu werden, fürchtet aber, dass Liebe gleich Anpassung, Selbstaufgabe und Manipulation bedeutet. Deswegen versucht er, seinen Partner in die als Kind erlebte Rolle zu manövrieren: Er betrachtet ihn nicht als eigenständig, sondern als Erweiterung seines Selbst. Im Kern bedeuten Vernachlässigung und Verwöhnung so gesehen keinen Widerspruch. Beide Erfahrungen eint aus psychologischer Sicht, dass sie die Bedürfnisse des Kindes verfehlen. Das Kind wird nicht in seiner wahren Persönlichkeit beantwortet und bleibt in Mangel oder Überfluss "psychologisch einsam". Fazit: Ein Narzisst ist aufgrund seiner Kindheitsgeschichte, in der er entweder vernachlässigt oder ihm ein falsches Selbst aufgezwungen wurde, ein in seinem Selbstwert verletzter Mensch. Er wurde in seinem wahren Selbst nicht gesehen, sondern vielmehr ausgebeutet. Das hat Folgen für die Beziehungen im Erwachsenenalter. "Expanded Self" heißt das Zauberwort, mit dem Psychologen die Struktur narzisstischer Liebe an diese Kindheitssituationen anbinden. Hinter dem Schmerz in Beziehungen steckt demnach eine "Selbstwertregulationsproblematik", ein Konflikt von Grandiosität und Minderwertigkeitsgefühlen, den der Narzisst zu stabilisieren sucht. Ein Partner dient dazu, sein wackliges Selbst zu stützen. Alles, was ein narzisstischer Mensch tut, ist der Versuch, mit früh erlebten Verletzungen fertigzuwerden. Gut, dass wir
jetzt unsere Bergführerin Bärbel Wardetzki treffen.

Am Steilhang
Atmen Sie tief durch: Es ist alles ganz anders, als Sie dachten - aber Sie schaffen das

Bärbel Wardetzki breitet ihre Arme aus und lacht, siekann verstehen, dass wir verschwitzt sind. Doch auf dem breiten Pfad des Narzissmus wollen wir jetzt konkret werden: Wie liebt ein Narzisst, wie verhält er sich in engen Beziehungen? Bis hierher haben wir verstanden, dass Narzissten ein früh verletztes Selbst haben, das sie durch Anerkennung stabilisieren müssen. Liebe ist dafür ideal. Der Partner wird nach Wardetzki aber nicht so sehr als Mensch und Person mit eigener Individualität geliebt, sondern danach ausgesucht, welche Funktion er für das eigene Selbst erfüllen kann. "Im anderen wird weniger die reale Person, sondern ein Ideal geliebt, das Stabilität schafft, wovon in der anfänglichen Idealisierungsphase beide profitieren", sagt Wardetzki. Der Selbstwert beider steigt. In der Regel beginnen diese Beziehungen auch aufregend. Große Komplimente. Große Gefühle. Es ist fast wie im
Hollywoodfilm. Doch nach der anfänglichen Idealisierung, in der Narzissten äußerst charmant
sind, entwickeln diese Lieben ein destruktives Potenzial. In Langzeitbeziehungen zeigt sich, was Fachleute als symptomatisch für Narzissmus definieren: Egozentrik, Eigensucht, ein hohes Maß an Entwertung anderer, Empathiemangel und Empfindlichkeit gegenüber jeglicher Kritik. Partner von Narzissten leiden, weil Nähe abgewehrt wird und ein narzisstischer Mensch sich nicht auf Gemeinsamkeit einlässt. In der Nähe, so Bärbel Wardetzki, würde ja das Kleine und Schwache gesehen, was normalerweise in der Liebe geliebt wird, in narzisstischen Beziehungen jedoch Angst auslöst. Zu groß wäre die Gefahr neuerlicher Verletzung. Bärbel Wardetzki formuliert es so: "Eine solche Liebe beginnt wie ein Feuerwerk mit großen Gefühlen, doch endet es meist abrupt und hinterlässt Schwefelgeruch. Dieser Liebe fehlt im übertragenen Sinne das wärmende Kerzenlicht, also der Alltag einer Beziehung und die Erfahrung, es sich zu zweit bei Kerzenschein auf dem Sofa heimelig zu machen." Was bleibe, sei nicht selten schwefliger Brandgeruch. Und dennoch dauern diese Partnerschaften oft lange, weil sich die Partner trotz Unglück und seelischer Gewalt nicht voneinander trennen können. Beide brauchen einander aufgrund ihres problematischen Selbstwertgefühls. Der Charakter des Narzissten wirkt nun genau dann besonders verheerend, wenn er auf einen sogenannten Komplementärnarzissten trifft, der dazu neigt, sich passiv definieren zu lassen. "Kollusion" nennen es Psychologen, wenn beide Partner aufgrund ihrer Störungen wie Schlüssel und Schloss
zueinanderpassen. Ein Narzisst kann seinen Narzissmus erst dann perfekt leben, wenn er mit dem Partner ein ausgedehntes Selbst, ein Expanded Self, bildet. Er wird den anderen nicht als abgegrenzte, eigenständige Person betrachten, sondern als Teil seiner selbst. Er vereinnahmt und definiert ihn so, wie er ihn braucht. Dies mündet später in einer besonders perfiden Arbeitsteilung: Um die eigenen negativen Gedanken und Minderwertigkeitsgefühle auszulagern, werden sie auf den anderen projiziert. Der Partner wird zur Entlastung benutzt, indem eigene Fehler ihm zugeschrieben werden. Der Psychologe Frank Petermann vergleicht dieses Expanded Self bildlich mit dem Schachbrett des Narzissten, auf dem der Partner als Figur herumgeschoben und definiert wird, so wie er gerade gebraucht wird. Diese psychologische Machtausübung funktioniert Psychologen zufolge nur bei einem Menschen, der aufgrund seiner eigenen Geschichte dazu neigt, sich von anderen bestimmen zu lassen. Wie in der Pygmalion-Bearbeitung My Fair Lady, in der Professor Higgins das einfache Blumenmädchen Eliza durch strengen Unterricht zur Dame der Gesellschaft erzieht, ja beinahe dressiert, wird der Partner des Narzissten passend moduliert. Die Botschaft lautet auch hier: "Wenn du so bist, wie ich dich brauche, wirst du geliebt." Es geht in diesen Partnerschaften immer um Macht. Die Grundfrage einer narzisstischen Beziehung lautet: Wer gibt sich für wen auf? Beide Partner glauben, Liebe sei Selbstaufgabe. Es ist jedoch der Partner des Narzissten, der den Preis zahlt: Er wird seines wahren Selbst beraubt und beginnt das Idealbild des Narzissten zu verkörpern, im Grunde ein falsches Bild seines Selbst. Um geliebt zu werden, verzichtet er auf Lebendigkeit und landet laut Wardetzki im goldenen Käfig. Durch die ständige Bevormundung, die seine eigenen Impulse kontinuierlich überlagert, wird er geschwächt. Der narzisstische Partner gewinnt hingegen an Macht. Psychologen zufolge entspricht diese passive Haltung eher dem weiblichen Narzissmus, der stärker in der Minderwertigkeit und einer depressiv anklammernden Position verhaftet ist, während der männliche Narzissmus mehr zu Grandiosität und Dominanz neigt. Beide Formen können aber auch beim jeweils anderen Geschlecht auftauchen. In dieser Beziehungskonstellation treffen zwei verletzte Kinder mit der gleichen Störung aufeinander. Sie wollen ihre Vergangenheit durch Liebe heilen, reinszenieren und vergrößern nicht selten aber die Wunden der Vergangenheit. Dabei eint beide die Sehnsucht, die eigene verletzliche Seite zu zeigen, was aber als gefährlich gesehen wird. Der Psychotherapeut und Autor Heinz-Peter Röhr findet für den Schutz narzisstischer Menschen die Metapher eines Eisenofens. Das schwere Material des Eisens steht für den Panzer um das fragile Selbst und ist die Ursache des gesamten Beziehungsdramas, bei dem sich beide nicht in ihrem wahren Wesen sehen und berühren. Psychologen benennen eine genaue Sollbruchstelle, an der es in diesen Beziehungen knallt: wenn der bewundernde, untergeordnete Partner seine Rolle aufgibt und selbstständig wird. Die Frau beginnt womöglich eine Ausbildung, steigt in den Beruf ein, kurz, sie will sich entwickeln. Das bedroht den grandiosen Partner mit Selbstverlust. Er braucht den anderen, muss ihn für sein eigenes Selbstbild bestimmen. Er bekniet den anderen, seine Ideen aufzugeben, entwertet ihn, streitet, versucht, den Partner klein zu halten. Dieser entdeckt seine Freiheit, und die Beziehung kippt. Für Gerichtspsychiater ist diese Dynamik immer wieder an Familiendramen abzulesen, wenn ein Narzisst in Scheidung ein letztes Mal recht behalten will und Rache nimmt: In der Zeitung liest man dann von einem Amokläufer, der sich und die Familie erschießt. Liebe ist seit je her ein Feld des Narzissmus. Don Juan war ein amouröser Narzisst. Das Tragische ist, dass der Narzisst trotz zahlreicher Affären gar nichts von der Liebe versteht. Er verwechselt Bewunderung mit Liebe und gleicht mit seiner Bedürftigkeit einem Fass ohne Boden, in das stets Anerkennung nachgekippt werden muss. Erich Fromm spitzte es sogar so zu: Narzissmus sei das Gegenstück zur Liebe. Was beiden Partnern zur Lebendigkeit verhelfen würde, wäre die Erfahrung der "zärtlichen Strömung der Liebe" (Salman Akthar), die das Kleine und Minderwertige am Selbst und am anderen einschlösse und aus dem Gefängnis der
Selbstgefangenheit hinausführte.

Auf zum Gipfel
Jetzt wird es zugig: Diese Theorie müssen Sie meistern, um auf der Höhe der Zeit anzukommen

Wir sind erschöpft und verwirrt. Die Frage, die wir auf dem Weg zum Gipfel erörtern wollten, hieß: bleiben oder gehen? Unterwegs haben wir in Abgründe und Steilschluchten des Narzissmus geblickt, die uns schaudern ließen. Wir haben Glanz und Elend der Selbstwertproblematik gesehen. Doch der Gipfel ist, in leichten Nebel gehüllt, in Sicht. Wovon profitieren diese Partnerschaften? Kann man an der Seite eines Narzissten bleiben, ohne zu viel Schaden zu nehmen? Muss man allen Menschen im Café am Fuß des Berges raten, die Scheidung einzureichen? Bärbel Wardetzki hat viele Liebende beraten. Wie sich ein Mensch entscheide, bleibe individuell. Doch wenn ein Paar sich zu Gemeinsamkeit entwickeln wolle, heiße das Stichwort Co-Evolution. Nötig sei dafür "der liebende Blick", sagt Wardetzki. "Ein narzisstischer Blick wertet, sagt, was richtig oder falsch am Partner ist." Ein liebender Blick hingegen sei zugewandt, neugierig und schätze Andersartigkeit als Bereicherung. Statt nur die Anweisung zu geben: Ich brauche dich in der und der Form, gelte dieser Blick dem Partner als Menschen. Nach Wardetzkis Erfahrung ist dazu jedoch viel Sicherheit für narzisstische Menschen nötig, um mehr und mehr idealisierte Bilder voneinander und sich selbst aufzugeben. Gelinge es, die Partnerschaft auf Augenhöhe zu leben, dürfe jeder der Partner er selbst bleiben. Im Idealfall würde die Autonomie beide bereichern. Wenn beide ihr "wahres Selbst" lebten, komme die Liebe zu Lebendigkeit. Was so einfach klingt, ist für narzisstische Menschen schwer. Sie müssten stark an ihrer Konflikt- und Kompromissfähigkeit arbeiten. Der Paarpsychologe Jürg Willi beschrieb die für narzisstische Menschen paradoxe und heilende Erfahrung, dass Liebende sich näherkommen können, je klarer sie sich unterscheiden. Auch der Wiener Psychiater Raphael Bonelli betont die Chancen, indem er sagt, dass kein Mensch zu 100 Prozent narzisstisch sei. Es gelte, im Kontakt die gesunden Anteile anzusprechen. Bonelli akzentuiert zudem eine Dimension, die die Partnerschaft übersteigt: Ein Mensch könne nicht glücklich werden, wenn er nur narzisstisch um sich selbst kreise, sondern er müsse aus sich herausgehen in einer dienenden Funktion. Er greift auf den Wiener Psychiater Viktor Frankl zurück, dem zufolge der Mensch erst zu sich selbst kommt, wenn er sich in den Dienst an einer größeren Sache stellt: Gemeint ist die Hingabe an eine Aufgabe, die größer ist als die eigene Egozentrik und Eitelkeit, die Hingabe an einen Menschen, ein Tier oder ein sinnstiftendes Tun. Solch eine dienende Haltung könne Narzissmus transzendieren und zu größerer Demut führen. Diese "Selbsttranszendenz" durch einen höheren Sinn sei eine Möglichkeit für narzisstische Menschen zu wachsen. Sie steht mit der inneren Freiheit des Menschen in Zusammenhang, an die Psychologen heute appellieren, seinen Charakter ein Stück weit auch selbst, ja unabhängig zu formen. "Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch", schrieb der Dichter Hölderlin einst: Jeder kann in Maßen über seine Geschichte hinauswachsen und reifen. Was als Ideal leicht klingt, dürfte für einen Narzissten trotzdem Knochenarbeit sein. Psychologen glauben allerdings, dass wir graduell alle auf einer Narzissmus-Skala unterwegs sind, auf der niemand einen Nullwert erzielt. So gesehen ist jeder Mensch auf diesem Pfad unterwegs, den Gipfel des Narzissmus zurück ins Tal zu steigen. Manchmal braucht es dabei: Zeit. -

Stefanie Maeck beschäftigte sich bereits in ihrer Doktorarbeit mit dem Thema Narzissmus, allerdings eher philosophisch. Beim Schreiben dieses Textes entdeckte sie plötzlich um sich herum allerlei Narzissten und narzisstische Verwicklungen.

Unsere Bergführer: Die Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki widmete ihre Doktorarbeit dem Thema "Weiblicher Narzißmus. Der Hunger nach Anerkennung". Ihr gerade erschienenes Buch heißt "Und das soll Liebe sein?" und erzählt von Auswegen aus narzisstischen Beziehungen. Wie man sich selbst durch Selbsttranszendenz und Demut von diesem verzerrten Selbstbild befreien kann, zeigt Raphael M. Bonelli, der Psychiater und Neurologe in Wien ist. Wie schwierig es dennoch ist, diesem krankhaften Bedürfnis nach Bewunderung zu entfliehen, beschreibt der Therapeut Heinz-Peter Röhr in seinem Buch "Narzissmus. Dem inneren Gefängnis entfliehen" mit dem Bild eines Menschen, der in einem Eisenofen festsitzt.