Ein Mann beugt sich nachdenklich über seinen Schreibtisch und zeichnet mit fliegender Feder Stadtpläne, Schiffsentwürfe, Handelsrouten. Er schreibt wortwörtlich Geschichte, während aus unseren Lautsprechern eine tiefe Stimme dröhnt: "Wir haben den Weg des Fortschritts gewählt. Wir erreichen neue Länder, gründen neue Siedlungen und erweitern das Imperium. Wir haben eine große Zukunft vor uns." So will der Launch-Trailer von Anno 1800 Abenteuergeist und Entdeckerdrang in uns wecken: Wir sollen Lust bekommen auf die (virtuelle) Welt der Industriellen Revolution, auf das Zeitalter der Entdeckungen, in dem wir unser Glück als Großindustrieller und Stadtgründer versuchen dürfen.
Wie wenig die Aufbausimulation mit der tatsächlichen Geschichte zu tun hat, vermuten aber wohl nur die wenigsten der mittlerweile über eine Million Spieler. Denn in Wirklichkeit hat das Entwicklerteam die Industrielle Revolution großzügig mit Radiergummi und Weichzeichner bearbeitet. Wie und warum das geschehen ist, und warum das auch für den Otto-Normal-Spieler interessant ist, haben wir uns näher angesehen.
Anno 1800 ist nicht Abbild, sondern Interpretation der GeschichteAuf den ersten und auch zweiten Blick ist die Illusion des 19. Jahrhunderts perfekt: Menschen in Anzug, Kleid und Latzhose spazieren durch enge Häuserschluchten, auf dem Marktplatz bieten Händler lautstark ihre Waren feil, in Seitengassen spielen Kinder Ball. Ein mächtiger Dreimaster fährt in den Hafen der Stadt ein und schon eilen Arbeiter herbei, um Kaffeebohnen, Holzplanken und Stahlträger zu verladen.
Alles, was wir sehen, fühlt sich echt an, realistisch. So oder so ähnlich hat es damals sicher ausgesehen, denken wir uns, und greifen damit automatisch auf ein Wahrnehmungsmodell zurück, das der Kulturwissenschaftler Felix Zimmermann genauer analysiert hat: So nämlich würden in Spielen mit historischem Schauplatz "bewusst oder unbewusst Atmosphären erzeugt, die auf Vergangenheitsvorstellungen verweisen. Und diese Atmosphären wirken."
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Das Zusammenspiel aus Schiffstypen, Architekturstilen, Kleidungsmode und Warenkreisläufen, die wir sofort als alt und historisch erkennen, ergeben zusammen eine sogenannte Vergangenheitsatmosphäre, die sich echt und authentisch anfühlt, aber nicht unbedingt viel mit der realen Geschichte zu tun haben muss. Und das nutzen Entwicklerteams ganz absichtlich für sich aus, wie Zimmermann weiter schreibt: "Was wir nicht vergessen sollten: Diese Vergangenheitsatmosphären werden von Entwickelnden ganz bewusst in ihren Spielen konstruiert." Der Philosoph Gernot Böhme nennt diejenigen, die Atmosphären herzustellen suchen, "ästhetische Arbeiter" - und solche ästhetischen Arbeiter seien auch Entwickelnde von digitalen Spielen.
Wie recht Zimmermann mit dieser Theorie hat, bestätigt ein Interview mit einem langjährigen Mitarbeiter des Anno-Entwicklerteams, der anonym bleiben möchte. Er skizziert, wie Anno traditionell mit seinen historischen Schauplätzen umging und -geht: "Die Werte von Anno waren immer 'light, bright, good natured'." Anno spiele immer in einer Parallelwelt, die nicht real, aber nah genug am Realismus sei, damit sie realistisch erscheint. "Wenn man einen Anno-Kunden danach fragen würde, würde er sicherlich sagen, dass das damals so war - aber in Wirklichkeit ist das Spiel oft weit weg davon."
Und anders könnte es auch gar nicht sein, denn ein Spiel zu entwickeln, das sein historisches Setting zu 100 Prozent korrekt abbildet, ist unmöglich - nicht nur, weil die Geschichte selbst bereits immer nur eine subjektive Rekonstruktion der Vergangenheit ist, sondern auch, weil die Entwickler nicht zuletzt dafür sorgen müssen, dass ihr Spiel auch unterhält, Regeln aufstellt und einhalten muss.
Dass einige Aspekte, Themen und Teile der historischen Industriellen Revolution in Anno 1800 nicht oder nur verändert auftauchen, ist also keine große Überraschung. Interessant wird es allerdings, wenn wir uns ansehen, was genau Radiergummi und Weichzeichner zum Opfer gefallen ist. Denn hier entdecken wir Spuren einer Umdeutung der Geschichte, die über Kleinigkeiten und Details hinausgeht - und die Kritik verdient.