Wild zucken Blitze. Im fahlen Licht hüpft DJ Aviv Netter auf seiner Kanzel auf und ab, als wäre er ein Jojo. Wie Donner rollt es aus den Boxen, und Hunderte junger Menschen reißen ihre Arme in die Luft, denn jetzt kommt der Messias! "Moshiach! Moshiach!", singen sie aus voller Kehle. Der Song des jüdisch-orthodoxen Popstars Mordechai Ben David ist ein Dauerbrenner auf diesem Berliner Dancefloor, der nicht verrückt ist, wie so viele andere, sondern meschugge.
"Berlin Meschugge", so hat der aus Tel Aviv stammende Netter seine jüdisch schwule Party genannt, die an diesem Freitagabend in einem weitläufigen Keller im Bezirk Mitte ihren fünften Geburtstag feiert. Das Publikum: ein bunter Mix aus Israelis und Deutschen, vom Teenager bis zum Graumelierten, Männer und Frauen und auch einiges dazwischen. Die Decke ist mit weißen und blauen Luftballons verziert, den Farben Israels, viele tragen kleine Buttons, auf denen ein hebräisches "Mem" prangt, der Buchstabe "M", wie in "meschugge". Über der DJ-Kanzel hängt ein Konterfei Angela Merkels eingerahmt in einem großen Davidstern.
Fröhlich, bunt, rotzfrech: So sehen es die Medien gern, und so sieht es sich selbst am liebsten, das neue jüdische Berlin. Heiter und unbeschwert soll es endlich zugehen, wo jahrzehntelang intellektuelle Ernsthaftigkeit und graue Erinnerungskultur dominierten. "Unkoscher" nennen Netter und seine Freunde ihre Party-Nacht, mit Religion haben sie nicht viel am Hut. Sie wollen Spaß haben, genau wie der 30-jährige Hannes, der gerne hierher kommt, weil es ungezwungener zugeht als in Berlins düsteren Techno-Tempeln: "Israelis sind schon auf der Tanzfläche, da überlegen Deutsche noch, ob sie den linken oder rechten Fuß gegen die Wand stellen", sagt Hannes. Als die Letzten den Weg aus dem Keller finden, ist es draußen schon lange hell.
Berlin: der Ort der ErinnerungAviv Netters Augen sind noch etwas verquollen, er setzt die Sonnenbrille auf, als er am Nachmittag in einem Coffeeshop im Prenzlauer Berg an seinem Latte macchiato nippt. Er ist 28, trägt auf seinem runden Gesicht einen Dreitagebart - und eigentlich ist er schon wieder voller Energie. "Wir wollen mit den jüdischen Klischees spielen, und das geht über den Humor", sagt er. Dabei suchen er und seine Freunde immer wieder aktuelle und politische Bezüge. Auf dem Höhepunkt der Beschneidungsdebatte dekorierten sie ihre Party mit großen Scheren aus Papier. Der Spaß hat aber auch Grenzen: "Keine Witze über den Holocaust! Das ist natürlich die rote Linie."
Da holt sie einen doch wieder ein, die Vergangenheit. Berlin: die Zentrale der Vernichtung der europäischen Juden. Berlin: der Ort der Erinnerung. Immer mehr vor allem junge Israelis hält das nicht länger davon ab, in diese Stadt zu kommen und zu bleiben, selbst wenn ihre Familien das nicht verstehen können. Auf bis zu 20.000 wird ihre Zahl geschätzt, genau kennt sie niemand. Vor ein paar Jahren gab es kaum einmal eine direkte Flugverbindung, heute pendeln zwischen Berlin und Tel Aviv bis zu vier Maschinen - pro Tag! Berlin ist angesagt in Israel. Berlin, Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten.
Als er zum ersten Mal an die Spree kam, ging Netter ins Jüdische Museum. "Um es abzuhaken", sagt er. Dann öffnete der Besuch ihm die Augen: "In der Schule sprachen wir immer nur über die toten Juden, im Museum sah ich zum ersten Mal ihr Leben. Da war mir klar, dass ich hier bleiben werde. Und wenn ich jetzt die Berliner Straßen entlanglaufe und die goldfarbenen Gedenksteine im Pflaster sehe, dann berührt mich das und gleichzeitig habe ich diesen starken Gedanken: Das wird mir nicht passieren!"
Auch für Michal Fuchs, eine Künstlerin mit Wohnung und Atelier in Neukölln, bedeutete der Umzug nach Berlin eine Auseinandersetzung mit ihrer Identität als Jüdin: "In Israel war das nichts, was ich je hinterfragen musste", sagt die 29-Jährige. "Im Gegenteil: Ich fühlte mich selbstverständlich jüdisch und lebte im Heiligen Land, dem Mittelpunkt der Welt. Doch seit ich in Berlin bin, stelle ich mir all diese Identitätsfragen: Was macht mich, die ich an keinen Gott glaube, eigentlich jüdisch? Meine Mutter? Die Geschichte? Und wie sehen mich die anderen?"
Wer das neue jüdische Berlin sucht, findet nicht eines, sondern vieleDas sind Fragen, mit denen sie sich seit ihrer Ankunft in Berlin in ihrem Blog und auch künstlerisch auseinandersetzt. In ihren Collagen, in denen sie oft Mensch und Tier auf fabelhafte Weise zusammensetzt und in eine fremdartige Umgebung stellt - aber auch mit Worten. Für das "Frauen-Online-Magazin-Aviva-Berlin" hat sie an einem Projekt über jüdische Frauengeschichten mitgearbeitet. Die Idee zu diesen "Writing Girls" hatte die deutsch-jüdische Journalistin und "Aviva"-Gründerin Sharon Adler, aus der Zusammenarbeit der beiden Frauen ist eine Freundschaft entstanden. Was nicht selbstverständlich ist, denn die unterschiedlichen jüdischen Communitys in Berlin haben überraschend wenig miteinander zu tun.
Wer das neue jüdische Berlin sucht, findet nicht eines, sondern viele. Vor den selbstbewussten und meist säkularen Israelis kamen in den 1990er Jahren Zehntausende russische Juden nach Berlin. Der Konflikt zwischen ihnen und den alteingesessenen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde ist bis heute so wenig überwunden, wie der zwischen Orthodoxen und Reformern.
Die Neuankömmlinge halten die Sicherheitsmaßnahmen vor jüdischen Einrichtungen, verglichen mit ihrem Alltag in Israel, für eine Erleichterung. Die Alteingesessenen leiden jeden Tag darunter, dass jüdische Schulen und Synagogen in Deutschland unter Polizeischutz stehen. In Berlin geht es zu wie im Witz vom Juden, der allein auf einer einsamen Insel strandet: Als ein Schiff zu seiner Rettung anlegt, sieht der Kapitän am Strand zwei Hütten. "Das sind beides Tempel", erklärt der Jude, "aber rechts ist der, in den ich auf keinen Fall gehe!"
Und so sieht der Israeli Aviv Netter auf seiner Party selten einen deutschen Juden, und Michal Fuchs geht, wenn sie Heimweh hat, nicht ins "Pläzl" gegenüber dem KaDeWe, wo man Gefillte Fisch kaufen kann, sondern in einen arabischen Imbiss in Neukölln. Weil der Hummus dort so schmeckt wie zu Hause in Jaffa - "auch wenn ich mir manchmal die Frage stelle: Was würde eigentlich passieren, wenn die merken, dass ich Israelin bin?"
Das Jüdische in der Hauptstadt ist in den vergangenen Jahren vor allem dank des Zustroms aus Russland, Israel und den USA viel sichtbarer geworden. Und hinter diesem neuen jüdischen Berlin steckt die Sehnsucht nach Normalität - ohne die Geschichte dabei zu vergessen. Nach Selbstverständlichkeit - ohne sein Selbst dafür aufgeben zu müssen.
Die Ehemalige Jüdische Mädchenschule in BerlinImmer öfter gelingt dieser Spagat. Zum Beispiel in der Ehemaligen Jüdischen Mädchenschule, einem Meisterwerk der Neuen Sachlichkeit, 1927/28 vom jüdischen Architekten Alexander Beer entworfen und 1942 von den Nationalsozialisten geschlossen. Sie steht in der Auguststraße, im rückwärtigen Teil des ausgedehnten Areals um die Neue Synagoge, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert mit ihrer weithin sichtbaren vergoldeten Kuppel Ausdruck des Selbstbewusstseins eines weithin integrierten jüdischen deutschen Bürgertums war. Seit ihrer Restaurierung bis in die 1990er Jahre ist sie zum markanten Zeichen der Wiederauferstehung jüdischen Lebens in Berlin geworden.
Die Bauarbeiten an der Schule überstiegen die finanziellen Mittel der hoch verschuldeten jüdischen Gemeinde. Sie verpachtete das Gebäude deshalb für 30 Jahre an den Galeristen Michael Fuchs, der jetzt eine von drei Galerien im Haus betreibt. Nicht allen in der Gemeinde gefiel das. Denn Fuchs und seine beiden Freunde Stephan Landwehr und Boris Radczun, auch Betreiber des Restaurants "Grill Royal", waren ursprünglich nur auf der Suche nach einem Gebäude, in dem sich ihre Idee von einem gemeinsamen Ort für neue Kunst und Esskultur verwirklichen ließ. Erst durch die Vergangenheit des Hauses ergab sich das jüdische Element. "Es war selbstverständlich, diesen Aspekt zu integrieren, aber wir wollten auch nichts erzwingen, Dinge müssen entstehen," sagt Fuchs.
Die Dinge sind entstanden. Die ehemalige Turnhalle der Mädchenschule ist inzwischen mondän eingerichtet und heißt "Pauly Saal". Landwehr und Radczun servieren dort deutsche Küche im Stil der 1920er und 1930er Jahre. Seit der Eröffnung des Restaurants im Februar 2012 kommen die Gäste in Scharen.
Das ehemalige Direktorenzimmer der Schule ist jeden Tag geöffnet und heißt jetzt "Mogg & Melzer". Der DJ Oskar Melzer betreibt dieses Deli zusammen mit Paul Mogg. "Ich kann die Frage nicht mehr hören, ob ich die jüdische Esskultur New Yorks hierher holen wollte", stöhnt Melzer, "das ist mir eine Nummer zu groß: Ich wollte endlich exzellente Pastrami in Berlin." Da ist sie wieder: die Sehnsucht nach dem Selbstverständlichen.
Der "Kosher Classroom" in Berlin-MitteIm "Kosher Classroom" ist keine Frage und kaum ein Fauxpas zu peinlich. An jedem Freitagabend sitzen dort neugierige Gojim, Nichtjuden, und lauschen den Erläuterungen des maschgiach, des Koscher-Inspektors Leon Golzmann, der mit Witz und Geduld durch die Gepflogenheiten eines orthodoxen Schabbat-Mahls führt. Und das Interesse an dieser großen und doch so unbekannten Religion ist gewaltig.
Im Foyer ist manchmal so viel los wie wohl früher zu Schulzeiten, eine alte Dame, die dort steht, kann sich noch gut erinnern. Hanna Schulze, geborene Rosenthal, besuchte die Mädchenschule bis 1939, dann schickten ihre Eltern sie nach Palästina. 1956 kehrte sie mit ihrem Mann nach Deutschland zurück. Sie freut sich darüber, dass neues Leben in die alten Mauern zurückgekehrt ist. "Was wäre denn besser, wenn das Haus leer stünde?", fragt sie.
Altem neues Leben einhauchen, das wollen auch die Ginzburgs. Vater Igor und seine drei Söhne Wlady, Jenia und Dennis sind Musiker in sechster Generation. Die Familie stammt aus der Ukraine und kam über Israel vor 18 Jahren nach Berlin. Vor fünf Jahren gründeten sie das Jiddish Swing Orchestra. "Zu Anfang hatten wir das Gefühl, im Schaufenster zu stehen", sagt Jenia. "Die Menschen kamen, um auf einem jüdischen Konzert gewesen zu sein. Heute wird die Musik mehr und mehr zum integralen Bestandteil des kulturellen Lebens im Schmelztiegel Berlin."
Die Ginzburgs spielen stadtauf, stadtab, in angesagten Clubs wie dem "Solar" oder der "PanAm Lounge", sogar in der Philharmonie. Eines wollen sie auf keinen Fall: mit "diesen Klezmerbands" in einen Topf geworfen werden. "Die machen mit ihrem herzzerreißenden Gestöhne ihr Publikum hysterisch", sagt Vater Igor. Der wahre Klezmer sei schließlich Hochzeits- und keine Beerdigungsmusik. Die vier Ginzburgs sehen ihre Wurzeln im Kantoralgesang des osteuropäischen Judentums, aber mindestens genauso sehr in Berlins jüdischen Musiktheatern der 1920er Jahre und im amerikanischen Swing. Vor allem aber schauen sie nach vorne: "Wir wollen nirgendwoanders leben als hier in Berlin", sagt Sohn Jenia. Und sein Vater fügt hinzu: "Wir sind jüdische Deutsche - nicht umgekehrt!"
Jüdische Orte in BerlinEhemalige Jüdische Mädchenschule Drei Restaurants ergänzen sich hier bestens: Die 90 Plätze im "Pauly Saal" sind bei Gourmets begehrt, das Deli "Mogg & Melzer" bietet Spitzen-Sandwiches. Und im "Kosher Classroom" kann man sonntags brunchen oder freitags an einem traditionellen Schabbat-Essen teilnehmen. Im Erdgeschoss erzählen Bilder von der Geschichte des Gebäudes. Galeristen gestalten ehemalige Klassenzimmer und einen Korridor. Adresse: Auguststr. 11-13, www.maedchenschule.org
Neue Synagoge Bau im maurischen Stil, 1866 eingeweiht, 1943 schwer beschädigt, dient seit Mitte der 1990er Jahre vor allem als Ausstellungsraum. Adresse: Oranienburger Str. 28/30, www.cjudaicum.de
Berlin Meschugge Die Party von DJ Aviv Netter beginnt gegen 23 Uhr (alle 14 Tage). Aktuelle Daten über Facebook. Adresse: ZMF Zur Möbelfabrik, Brunnenstr. 10, www.zurmoebelfabrik.de
Pläzl Laden und Snackbar gegenüber dem KaDeWe. Koschere Lebensmittel und stets ein paar Gerichte. Adresse: Passauer Str. 4
Beth Café Hier werden jüdische Spezialitäten wie Gefillte Fisch serviert. Schöner Innenhof. Adresse: Tucholskystr. 40