11.07.17 - Auch wenn es oft um wichtige Dinge geht, muss Folgendes mal gesagt werden: Die endlosen Debatten in unserer LGBTI-Welt nerven! Ist die queere Buchstabensuppe, in der wir schwimmen, am Ende vielleicht doch alles andere als eine „Community"? Mag sein, doch was ist sie dann? Unsere Querelen erinnern jedenfalls an die Streitereien in dysfunktionalen Familien und das nicht ohne Grund: Wir sind nämlich eine - und das sollten wir endlich zugeben! Zum CSD begibt sich Dirk Ludigs auf die Suche nach dem gemeinsamen Nenner
In Kreuzberg finden sich über Monate keine Menschen mehr, die noch einen alternativen CSD organisieren wollen, weil es zwischen Antiimps und Antideutschen kracht. Ein Buch kritisiert queeren Aktivismus und provoziert Gewaltfantasien. Ein taz-Redakteur hält „LSBTI*QA" für „breitgetretenen Quark", den es nur gebe, um Fördermittel abzugreifen, und erntet Beifall von schwulen Männern, denen der unaussprechliche Buchstabenschmarrn schon lange auf die Nerven geht. Die sichtbarste Lesbe Deutschlands ist in der AfD und hetzt im Fernsehen gegen Muslime. Schlaglichter der CSD-Saison 2017. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber eines wird schon klar: Fehlender Durchblick in unserer Buchstabenwelt aus L, S, B, T, I, * und Q ist kein Zeichen mangelnder Intelligenz. Es gehört ein aufgeräumtes Zeitkonto dazu, um sich in all diesen Kulturtheorien und Politiken auszukennen, von Genderfragen bis Antirassismus, um verstehen zu können, worüber gerade gestritten wird. Beim Rest von uns hinterlassen diese Debatten ein Gefühl von Müdigkeit. Vielleicht sitzen doch zu unterschiedliche Menschen in diesem Boot. Vielleicht wäre eine Trennung ehrlicher als dieser Buchstabensalat, der zusammenpappt, was nicht zusammengehört, den spießigen Schwulen mit der feministischen Lesbe, den heterosexuellen weißen trans Mann mit der nonbinary Person of Color. Würden die alle nicht viel besser mit denen zu tun haben, die ihnen eh viel näherstehen? Mit dem Parteifreund aus der FDP? Der Hetera aus dem Frauenbuchladen? Dem Kerl aus dem Fußballverein? Den Menschen bei Black Lives Matter? Oder gibt es doch etwas, was uns eint - vielleicht sogar unabhängig davon, ob wir das wollen oder nicht? Till Amelung, Selbstdefinition: schwuler trans Mann, freiberuflicher Referent und Publizist, hat in seiner Studienzeit erste Erfahrungen mit dem Buchstabensalat gesammelt. Es ergab sich aus der Not: An einer kleinen Universität hätte jede Gruppe alleine die AStA-Arbeit schon personell gar nicht bewältigen können und so fanden sich alle, die „gemeinsam aus der Heteronormativität geflogen waren". Was daraus entstand, empfand Till durchaus als fruchtbar: „Man machte sich auf die Suche nach gemeinsamen Themen, aber es konnte auch jeder Buchstabe seine eigenen Themen bearbeiten." Für Menschen unter vierzig und mit universitärem Background ist das eine ganz typische Erfahrung. Peter Rehberg, Kulturwissenschaftler mit Schwerpunkt Queer Theory, stellt fest: „Unsere Koalitionsbildungen haben immer zunächst über eine Negativerfahrung, eine Diskriminierungserfahrung stattgefunden." Doch reicht das aus, um „Community" zu werden? Die kurze Antwort: Manchmal ja. Und immer dann besonders gut, wenn die Zeichen auf Sturm stehen. Die Journalistin und Fundraiserin Stephanie Kuhnen erinnert daran, dass es vor allem die Aids-Krise war, durch die Schwule und Lesben in Deutschland nach Jahren getrennter Wege überhaupt wieder zueinandergefunden haben. Und das war schon nicht einfach: „Schwul-lesbisch in die Köpfe zu bekommen hat zwanzig Jahre gebraucht." Aus dieser Erfahrung heraus ist Kuhnen überzeugt, dass Gemeinschaft nicht einfach so entsteht, dass sie eingeübt werden muss: „Nicht die Diskriminierung kann uns zusammenbringen, die Empathie muss uns zusammenbringen." Offensichtlich hört aber spätestens beim Geld die Empathie in Deutschland auf. Till hat das genau so erlebt. Kaum war seine Universitätszeit vorbei, musste er in der LGBTI-Bewegung feststellen, „dass es problematisch wurde, sobald es um Fördermittel ging. An den Töpfen saßen dann wieder die Schwulen, die eben schon viel länger in den Strukturen unterwegs sind." Kuhnen, die als Fundraiserin im LGBTI-Bereich arbeitet, stimmt zu: „LGBTI ist eben bisher nur Förderkriterium, aber bis heute keine Gemeinschaft!" Am Ende sitzt die Jacke dann wieder näher als die Hose. Die Koalition wird sogar zunehmend brüchig, weil die Diskriminierungserfahrungen unterm Regenbogen sehr unterschiedlich geworden sind. Zum einen finden immer mehr Gruppen zu einer eigenen Stimme, zum anderen steigt die Zahl der in der Regel weißen Cis-Schwulen und -Lesben, die sich im Großen und Ganzen in der Gesellschaft angekommen fühlen. Die Folge: Immer mehr LGBTIs - an allen Enden des Spektrums - kündigen den Konsens. Der Druck wächst auch von außen. „Es war schon immer eine Strategie der Mehrheitsgesellschaft, Opferkonkurrenzen aufzubauen", sagt Stephanie Kuhnen. Politik und Medien spielen auf der Klaviatur von Rassismus, Homo- und Trans*phobie mit dem immer gleichen Ergebnis: dem Ausspielen einer Minderheit gegen eine andere. Diskriminierungen oder Opferrollen allein reichen weniger denn je, um „Community" zu erzeugen. Das gelang, wenn überhaupt, nur in Ausnahmesituationen, in den Zeiten von Stonewall oder während der Aids-Krise. Aus den Koalitionen und Erfahrungen damals ist der Queer-Begriff überhaupt erst entstanden. Werden die Zeiten friedlicher, bleiben vom Aufbruch vor allem Romantik und Nostalgie. Und, mal anders gefragt, was für eine Form der Gemeinschaft wäre das auch, wenn wir uns allein über Ziele oder Forderungen definierten? So eine Form von Koalition reicht nur jenen, die glauben, mit einer rechtlichen Gleichstellung von LGBTI seien auch unsere Probleme erledigt. Angesichts der Geschichte anderer Minderheiten, der Schwarzen in den USA oder der Juden in Deutschland, ist das eine ziemlich naive Idee. Die Erfahrung aller Minderheiten, sagt Kuhnen, zeige uns: „Solange es uns gibt, werden wir auch gehasst werden, die Idee einer Welt ohne Homo- oder Trans*phobie bleibt utopisch." Wenn das so ist - und vieles spricht dafür -, dann taucht die Frage auf, warum der heteronormativen Außenwelt so viel besser gelingt, woran wir selbst immer wieder scheitern: das Gemeinsame an uns festzustellen! Was macht die anderen so sicher, dass wir „die anderen" sind? Die erste These könnte lauten: Wir brauchen dieses Gemeinsame unseres Buchstabensalats nicht erst herzustellen, es existiert schon. Wir müssen nur bereit sein, uns auf Spurensuche zu begeben. Und die zweite These: Wenn der Begriff der „Community" uns so viel Kopf- zerbrechen bereitet, dann ist er auch nicht geeignet, LGBTI samt Q und * adäquat zu beschreiben. Gibt es einen anderen? Lesben, Bisexuelle und Schwule haben sich lange über die Unterschiedlichkeit ihres Begehrens gegenüber der Mehrheit definiert. Für trans* Menschen und Intersexuelle trifft das so nicht zu, da tritt die Frage der geschlechtlichen Identität in den Vordergrund. Was aber alle LGBTI vereint, und das oft von Kindesbeinen an, ist die Erfahrung des Andersseins in der eigenen Familie. Es unterscheidet uns nicht nur von der Mehrheitsgesellschaft, es unterscheidet uns auch von allen anderen Minderheiten. Ob du Jude bist, Muslim oder Schwarz, egal wie hart die Diskriminierungen sind, denen du in der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt bist, am Ende bietet dir die Familie einen „safe space", in dem die Minderheitenrolle von dir abfallen kann. Wir LGBTIs aber haben den Schutzraum Familie niemals, selbst dann nicht, wenn unsere Eltern offen und verständnisvoll sind: Sie sind doch nicht wie wir. Wenn es anders wäre, brauchten wir kein Coming-out. Die LGBTI-Urerfahrung ist die eines Verlusts: des Verlustes des Identisch-Seins mit der eigenen Familie. Das muss nicht heißen, dass andere Menschen dieses Gefühl aus anderen Gründen nicht auch haben könnten. Das muss nicht heißen, dass es nicht auch verständnisvolle Eltern gibt oder dass ein paar wenige lesbische Töchter lesbische Mütter und schwule Söhne schwule Väter haben. Das Gefühl ist nicht exklusiv, aber es betrifft doch alle von uns. Es löst sich auch dann nicht auf, wenn die eigenen Eltern homosexuell sind, denn Familie ist ja mehr als nur Vater und Mutter. Peter Rehberg führt den Gedanken einen Schritt weiter: Aus dieser LGBTI-Urerfahrung heraus resultiere das Bedürfnis, Community - vielleicht im Sinne einer Familie - überhaupt erst herzustellen: „Andere Minderheiten haben ja schon eine Community, das ist für LGBTI anders. Wohin sollten wir zurück? Da ist ja nichts." Von dem US-amerikanischen Linguisten George Lakoff stammt die Idee, dass wir Gemeinschaft stets nach Mustern bilden, die wir aus Familien kennen. Konservative ziehen ihr Weltbild aus dem strengen patriarchalischen Vater, Liberale verstehen Familie als schützende Umgebung. Wir denken in Metaphern, sagt er. Wenn das so ist, dann ist es der Mangel an Vor-Bildern, der uns eint und gleichzeitig hindert Community zu werden. Es ist das Nicht-Familie-Sein, das uns zur Familie macht. Rehberg erklärt es so: „In der Notwendigkeit oder dem Impuls oder der Erfahrung, dass unsere Community überhaupt erst einmal hergestellt werden muss, darin sind wir vereint. Insofern ist unsere Community immer die Community, die es noch nicht gibt." Der US-Queer-Theoretiker José Esteban Muñoz erhob in seiner Definition genau diese utopische Sehnsucht nach Gemeinschaft zum Eigentlichen des Queerseins: „Queerness", sagt er, „ist in seiner Essenz die Zurückweisung eines Hier und Jetzt und das Beharren auf der Möglichkeit einer anderen Welt." Es ist das utopische Projekt der queeren Familie, das uns vereint. Oder umgekehrt: Der Wunsch, Familie zu werden, und der gleichzeitige Wunsch, sich von Familie zu befreien, sind die Dialektik des Queerseins, die paradoxe Urerfahrung aller Buchstaben des Salats. An diesem Punkt sind wir Schicksalsgemeinschaft und darum fühlen wir uns in Notzeiten solidarisch. Darum bedroht uns eine Alice Weidel stärker als ein Alexander Gauland. Darum erkennen wir einander auf der Straße, mal mit Freude, mal mit peinlicher Berührtheit. Familie ist, in aller Bescheidenheit, die eine Metapher, die uns eint. „Im Vergleich zu Community ist Familie der dreckigere Begriff", sagt Rehberg. „Die Fähigkeit, Community aus der Erfahrung des Andersseins in der eigenen biologischen Familie zu hinterfragen, ist natürlich nicht nur ein Verlust, der kompensiert werden muss, sondern kann auch ein Gewinn sein." Wenn wir denn dieses Abenteuer auf uns nehmen wollen, könnte man dazusagen. Aber würde es sich nicht lohnen? Die Idee, sexuelle und geschlechtliche Minderheiten als Familie zu sehen, als Schicksalsgemeinschaft, ist nicht neu, aber sie ist in den letzten Jahren mehr und mehr in den Hintergrund getreten. Je stärker politische und ideologische Argumente die Debatte prägten, umso mehr wurde die Utopie des Queerseins verdrängt durch Gleichstellungsfragen und einen Haufen von Strukturen. Community ist sicher der politischere Begriff, aber Familie ist der treffendere. Community lebt von der Idee der Eintracht. In der Familie können wir streiten wie die KesselflickerInnen und bleiben eben doch - Familie! In jeder Familie gibt es den patriarchalischen Arschloch-Onkel aus Schwaben. In der Community sagen die einen: Wir müssen erst unsere Machtverhältnisse klären, bevor wir anfangen können gemeinsam zu arbeiten. Und die anderen sagen: Wir müssen unsere Streitereien erst mal ausklammern, sonst siegen unsere Gegner. In der Familie hingegen geht beides gleichzeitig, denn Familie erlaubt das Dysfunktionale, das Paradoxe. Wir wissen, dass wir an der Familie arbeiten müssen, weil sie sonst auseinanderfällt. Der Familienbegriff erlaubt es, menschlicher miteinander umzugehen. Leben wir also vorerst damit: „We are family", ob uns das gefällt oder nicht. Bleibt die Frage: Was können wir tun, damit unsere LGBTI-Familie weniger dysfunktional wird? Empathie braucht Kennenlernen, Kennenlernen braucht Gelegenheiten. Kuhnen findet: „Wir brauchen mehr Zeit, um diese Familie größer zu machen, wir brauchen Freiräume, und wir brauchen eine Kultur des Scheiterns. Etwas auszuprobieren bedeutet, Fehler zu machen. Wie kann es anders sein, als dass wir auch Fehler machen!" Als Familie können wir lernen, nachsichtiger miteinander zu sein, und gleichzeitig darauf beharren, anständiger miteinander umzugehen. „Familie braucht eine Praxis, um Gemeinschaft herzustellen", sagt Kuhnen außerdem, „eine Familie, die sonntags keinen Ausflug mehr macht oder nie gemeinsam zu Abend isst, wird auseinanderfallen. Das haben wir mit unseren CSDs, die wir nicht vernachlässigen dürfen. Wir demonstrieren dort nicht, um irgendwann nicht mehr demonstrieren zu müssen, sondern wir müssen die CSDs stärker als eine Gemeinschaft herstellende Praxis begreifen." Familie existiert auch, wenn sie nicht funktioniert, im Unterschied zu einer „Community". Aber sie fängt erst an zu leben, wenn ihre Mitglieder empathisch miteinander umgehen. Das können sie nur, wenn sie mehr voneinander erfahren. Dafür müssen sie sich mehr füreinander interessieren. Um Interesse aneinander zu haben, muss es etwas geben, an das wir alle anknüpfen können. Vielleicht sind unsere CSDs alleine schon lange nicht mehr genug „und vielleicht auch nicht mehr so geeignet, diese Haltung aufkommen zu lassen", sagt Till Amelung. Wenn das so ist, dann brauchen wir nicht nur Schutzräume voreinander, die brauchen wir auch, wie in jeder guten Familie, sondern mindestens ebenso sehr Freiräume und Familienfeste, auf denen wir uns streiten können ... oder uns erzählen, wie viel einsamer unsere Welt war, als wir uns noch nicht kannten.
Dirk Ludigs