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Eine Liebeserklärung an den Berliner Alexanderplatz

Warum der Berliner Alexanderplatz besser ist, als sein Ruf.


Der Ort, an dem ich wohne, ist ein Ort, über den regelmäßig viele Dinge geschrieben werden, und all diese Dinge sind Dinge, die nicht sehr schmeichelhaft sind. Der Ort, an dem ich wohne, ist ein Ort, von dem ich nicht sprechen kann, ohne dass mich die Menschen, mit denen ich über diesen Ort sprechen möchte, mitleidig ansehen und Dinge wie „Oh" oder auch „... tut mir leid" sagen. Als hätte ich ihnen nicht gerade von meinem Bezirk, sondern von einem schweren Schicksalsschlag erzählt. Der Ort, an dem ich wohne, ist der Alexanderplatz in Berlin. Berlin, sagen viele Menschen, das ist schon schlimm. Alexanderplatz aber, das ist Höchststrafe.


Der Alexanderplatz ist definitiv ein Ort, der bei den Deutschen keinen Beliebtheitswettbewerb gewinnen würde. Der größte Kriminalitätsschwerpunkt der Stadt. Eine graue Betonwüste. Einig sind sich die Berliner nur darin, den Alexanderplatz nach Möglichkeit zu meiden. Ein Berliner Niemandsland, gut genug gerade noch für die Touristen, die einmal Fernsehturm gucken wollen und dann auch gleich weiterziehen, um sich andere Dinge anzugucken, die Touristen sich in Berlin eben so angucken.


Dabei ist der Alexanderplatz viel besser als sein Ruf. Der Alexanderplatz ist sogar der beste Platz, an den man gehen kann, wenn man eine Stadt wie Berlin verstehen will. Er ist reine Berlin-Essenz. Großstadt im Platzformat. Und nachdem der Alex, wie wir (Neu-)Berliner ihn kumpelhaft nennen (nicht freundschaftlich, denn freundschaftliche Plätze werden in Berlin mit einem -i abgekürzt: Kotti, Schlesi, Boxi) in den letzten Jahren, Monaten, Wochen und Tagen wieder mit Häme und fiesen Zeitungsartikeln bedacht wurde, wird es an dieser Stelle einmal Zeit für eine Ehrenrettung. Für eine Liebeserklärung.


Als ich das erste Mal in Berlin war, war ich noch sehr jung und mit einer Frau zusammen, mit der ich zum Studieren gerade in einer Stadt wohnte, die so ziemlich das Gegenteil von dem ist, was Berlin schon immer war. Wir lebten in einem langweiligen oberfränkischen Bauerndorf. Kulturbefreiter Raum. Für uns war die Hauptstadt damals so etwas wie eine Offenbarung. Es gab Theater, Opern, Museen, richtige Geschäfte, große Straßen, auf dem Kopf stehende Bärenfiguren und als Bären verkleidete Menschen, Geschichte an jeder Straßenecke. Und den Alexanderplatz.


Das war ein Highlight. Wir wohnten im „Park Inn"-Hotel und hatten das Gefühl, als wäre der Alexanderplatz die Herzkammer dieser pulsierenden Stadt. Wir konnten gar nicht genug davon bekommen, all diese Menschen zu beobachten, diese Tausenden von Menschen, die uns so viel spannender erschienen als die provinziellen Stammtischmänner mit den roten Säufernasen aus dem oberfränkischen Dorf, in welchem wir studierten.


Es schien, als hätten diese Menschen hier echte Geschichten erlebt. Etwas zu erzählen. Schließlich waren sie auf dem großen Alexanderplatz. Es war das naive Staunen über etwas, das größer und geschichtsträchtiger war, als das, was man bisher kannte.

Als ich viele Jahre später dann nach Berlin gezogen bin, war mir klar, dass es nur einen Ort gibt, an dem ich gerne wohnen würde. Nämlich am Alexanderplatz. Und seitdem ist der Alex so etwas wie mein erweitertes Wohnzimmer. Ich kenne diesen Ort auswendig. Kenne ihn am Tag und bei Nacht. Kenne seine guten und seine schlechten Seiten. Die miesen Ecken und die besten Adressen.


Ich liebe den Alexanderplatz noch immer für die Menschen, die ihn zu dem machen, was er ist. Ich genieße es noch immer, diese Menschen zu beobachten, denn jeder Mensch ist eine Geschichte und nirgendwo prallen so viele unterschiedliche Geschichten an einem Ort aufeinander.


Die Touristen, die unbedingt auch noch die Weltzeituhr sehen wollen, weil in jedem Touristenreiseführer steht, dass man unbedingt auch noch die Weltzeituhr sehen sollte, obwohl jeder weiß, dass die Weltzeituhr das Langweiligste ist, was es in dieser Stadt zu sehen gibt.


Die alten Ostdamen, die die lange Anfahrt auf sich nehmen, um bei Galeria Kaufhof den frischen Aufschnitt zu kaufen, so wie man immer schon bei Galeria Kaufhof den guten Aufschnitt gekauft hat, weil die Anfahrt zum KaDeWe noch sehr viel weiter wäre.

Und all die Menschen, die noch da sind, weil sie nicht wissen, wo sie sonst sein sollen. Die Verlorenen, die Vergessenen, die Verlebten. Am Alex ist man nie alleine. Am Alexanderplatz ist es egal, wer du bist, wo du herkommst, was du hast oder auch nicht hast. Hier treffen Armut und Reichtum, Elend und Glück so radikal und schonungslos aufeinander wie an keinem anderen Ort in der Stadt.


Ein Ort der zwei Geschwindigkeiten


Was den Alexanderplatz zusätzlich noch auszeichnet, ist sein Tempo: Er ist ein Ort der zwei Geschwindigkeiten. Zum einen ist alles sehr hektisch. Menschen kommen und gehen, nutzen den Alex als Verkehrsknotenpunkt, steigen irgendwo ein, steigen irgendwo aus, steigen irgendwo um und geben dem Platz damit seine Dynamik, eine Dynamik der ständigen Bewegung. Zum anderen gibt es hier aber auch den Stillstand. Trotz kleinerer Umbauten ist der Alex noch immer der alte Alex und wird auch mit Hochhäusern immer der alte Alex bleiben. Ein Platz konserviert in Beton. Am Brunnen der Völkerfreundschaft sitzen Menschen, die schon lange keine Freunde mehr haben. Die ausgelebt sind. Oder übrig geblieben.


Unter dem Fernsehturm kann man konservierte Jugendkulturen bestaunen, die es eigentlich gar nicht mehr gibt. Man sieht, wie die immer gleichen Berufsschüler mit der hochgegelten Igelfrisur und dem Gettoblaster am Moped den Jumpstyle zum Technobeat tanzen, was heißt, dass man ein paar gerade so volljährige Jungs auf den eher schlechten als den guten Drogen im Kreis herumhüpfen sieht. Sogar Punks sind noch da und schnorren vor dem Netto-Markt um Euros, obwohl der Punk schon so tot ist wie der Jumpstyle.


In seiner Summe aus Bewegung und Stillstand, aus der Summe all der Geschichten, die ihn beleben, ist der Alexanderplatz für mich zu einem Stück Heimat geworden. Man kann viele Jahre auf dem Alex leben und komplett anonym bleiben.


Aber der Alexanderplatz hat auch sein Inventar. Seine Menschen und Figuren, die zu ihm gehören. Der Späti-Mann, der manchmal die Überschriften von meinen Artikeln, nie aber meine Artikel liest, weil er „nicht so gerne lesen tut", wie er das sagt. Die schönen Menschen im viel zu lauten „Café Einstein" und Bruno, die weiße Bullenfigur vor dem guten Steakhaus, die Nacht für Nacht ein wenig mehr von marodierenden spanischen Touristen in Mitleidenschaft gezogen wird (die Graffiti lassen sich entfernen, doch sein Horn wächst niemals wieder nach).


Ja, der Alexanderplatz ist vielleicht die raumgewordene Tristesse einer Stadt, die niemals zur Ruhe kommt. Aber er ist auch ein ungeschönter Spiegel unserer Gesellschaft. Der Alexanderplatz ist der ehrlichste Ort, den man sich vorstellen kann. Das macht ihn so besonders.


Ganz ungefiltert grau in grau


Und die Sache mit der Kriminalität? Um einmal den Ort vom Mythos zu trennen: Der einzige Grund dafür, dass der Alexanderplatz die Kriminalitätsstatistik anführt, ist die Tatsache, dass auf dem Alexanderplatz täglich rund 350.000 Menschen verkehren, sodass dort schon rein mathematisch mehr Straftaten geschehen als an anderen Orten.


Es gibt Orte auf dieser Welt, über die so viel gesagt und geschrieben wird, dass das Bild der Menschen nicht mehr von dem Ort selber geprägt wird, sondern von dem Mythos, den man von ihm erstellt. Der Alexanderplatz ist so ein Ort.


Denn wenn man liest, was so geschrieben steht, wenn man sich nur von den Schlagzeilen und der grauen Fassade abschrecken lässt, dann verpasst man es, den spannendsten Ort von ganz Berlin zu entdecken. Wer Angst vor dem Alexanderplatz hat, der hat eigentlich nur Angst vor dem echten Leben. Denn das gibt es hier. Ganz ungefiltert. Grau in grau. In all seiner wunderschönen Hässlichkeit.

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