Die Stimme des Dissidenten klingt metallisch verzerrt, manchmal verstummt sie. Es ist 8:37 Uhr in Peking, Ai Weiwei tritt aus seinem Atelier. Dabei spricht er in die Kamera seines Tablets, trotzt stoisch der wackligen Internetverbindung. Seit Jahren darf der Künstler das Land nicht verlassen. Er war 81 Tage inhaftiert und Opfer staatlicher Gewalt. Mundtot hat ihn diese Zeit nicht gemacht: Im April eröffnet 7.357 Kilometer von Peking entfernt Ais bislang größte Ausstellung. „Evidence“ heißt die Schau im Berliner Martin-Gropius-Bau, „Beweise“ – nicht ohne Grund, wie Ai im Skype-Gespräch erklärt:
»Die Exponate dokumentieren wie Indizien in einem Gerichtsprozess mein Leben und meine künstlerischen Aktivitäten. Sie beziehen sich auf Ereignisse wie die Razzia 2011 in meinem Atelier: Nachdem ich verschleppt wurde, beschlagnahmte die Polizei Hunderte Computer, Festplatten und Kameras. Sie wollte Beweise, um mir subversive Machenschaften anzuhängen.«
Die Staatsorgane fanden nichts. Weil weltweit Menschen gegen das Verschwinden des Künstlers protestierten, ließen die Behörden Ai Weiwei im Juni 2011 nach fast drei Monaten Haft laufen. Frei war er damit nicht: Der Staat brummte ihm eine einjährige Bewährungsstrafe auf. Worin genau seine Schuld besteht, sagte man ihm nicht. Stattdessen belegte man ihn obendrein mit einem Reiseverbot. Bis heute lebt Ai Weiwei im innerchinesischen Exil. Wer ihn dieser Tage sprechen will, muss nach China reisen – oder ihn im virtuellen Raum treffen.
»Ich würde gern zur Eröffnung nach Berlin reisen. Aber die Behörden haben meinen Pass, obwohl ich nie rechtskräftig angeklagt wurde. Das ist lächerlich. Aber ich denke positiv: Sie haben mir den Pass ohne Grund genommen – warum sollten sie ihn nicht auch ohne Grund zurückgeben?«
Berlin, an einem Februartag: Rollsplitt knirscht unter den Füßen der Museumsbesucher, in seinem Büro sitzt Gereon Sievernich, Leiter des Martin-Gropius-Baus: „Wir machen eine Ausstellung mit einem Künstler, der noch nie hier gewesen ist“, fasst er nüchtern die paradoxe Situation zusammen. Seit Jahren verfolgt der Direktor des Ausstellungshauses Ais Arbeit. 2011 zeigte er Fotografien aus den New Yorker Jahren des Dissidenten, während dieser in China nicht mit ausländischen Journalisten sprechen durfte und Ausstellungsverbot hatte. Diese Isolation habe Ai nicht nur eine „Grundtraurigkeit“ auferlegt, sie gefährde ihn: „Sein Prinzip ist: so viel Öffentlichkeit wie möglich“, erklärt Sievernich, Aufmerksamkeit gewähre ihm ein Stück Sicherheit. Auch deshalb, und weil er die Besucher ermutigen will, sich mit China zu befassen, möchte Sievernich Ais Kunst erneut nach Berlin holen. Nur: Wie soll der Künstler die Schau konzipieren, wenn er seine Heimat nicht verlassen darf?
»Es ist für mich beschwerlich, von Peking aus Ausstellungen zu organisieren. Aber auch das ist ›Evidence‹, Beweis. Die Ausstellung wird immer daran erinnern, dass ich nicht reisen, der Welt aber trotzdem meine Gedanken darlegen konnte. Dank des Internets ist heute alles machbar – niemand kann Kunst und Kommunikation stoppen.«
Im Februar 2013 nahm Sievernich erstmals direkten Kontakt mit Ai Weiwei auf. Dreimal reiste er in der Folge nach Peking. „Es war mir wichtig, Ais Vertrauen zu gewinnen, ihm zu zeigen, dass das eine ernsthafte Unternehmung ist.“ Der Künstler war angetan vom Plan des Museumsdirektors. Und er hat eine Verbindung zu Berlin: Noch während seiner Haft wählte man ihn in die Kunstakademie, im Juli 2011 erhielt er eine Gastprofessur an der Universität der Künste – die er bis heute nicht antreten konnte. Und doch könnte Berlin für Ai bald mehr als ein Ausstellungsort sein: Im Kellergeschoss der Werkstatt des dänisch-isländischen Künstlers Olafur Elíasson, mit dem er eng befreundet ist, richtet er aus der Ferne ein Atelier ein.
»Berlin vereint für mich die guten Seiten Pekings und New Yorks, der Städte, die mich am stärksten geprägt haben: eine große Kunstszene, viele junge, kreative Menschen und gute Voraussetzungen, Kunstprojekte umzusetzen.«
In Ais Pekinger Studio berieten sich der Künstler und Sievernich, welches der etwa 30 Werke für die Ausstellung in Berlin wo am besten zur Geltung kommt. „Ai hat ein großes ästhetisches Raumgefühl“, sagt Sievernich im Interview, „das hilft ihm, über große Distanzen zu arbeiten.“ Vor den Toren Pekings werkelten derweil in einer ehemaligen Traktorenfabrik Schreiner, Architekten und Skulpteure an den Exponaten. Tausende traditionelle Holzschemel erinnern an die Migration von Millionen Familien aus Chinas ländlichen Regionen in seine Megastädte. Sie sind ebenso Teil der Ausstellung wie die originalgetreue Nachbildung jener Zelle, in der Ai 81 Tage festsaß. Schon 2013 rekonstruierte er sie in Venedig in Miniaturform. Immer wieder kehrt er in seiner Kunst zurück an den Ort der Gefangenschaft:
»Die Haft war hart, sie hat mir aber auch geholfen zu verstehen, was Kunst ist: Sie führt uns an Orte, die noch niemand gesehen hat, an denen Gefahr und Widerspruch lauern. Trotzdem bereichert es uns, diese Orte zu betreten. Wir sollten stolz sein, diese Erfahrung mit anderen zu teilen.«
Ai und Sievernich agierten vorsichtig. Vorbei an Diplomatie und Politbüro planten sie die Ausstellung. „Wir hatten keinen Kontakt zu den Behörden, haben niemanden um Erlaubnis gefragt“, sagt Sievernich. In einem Dutzend Container schaukelte die Ausstellung 40 Tage übers Meer, bevor sie im März in Berlin eintraf. Den 15 Überwachungskameras vor dem Anwesen des Künstlers dürfte das nicht verborgen geblieben sein. Sievernich bewundert Ai für seinen Mut, die Arbeit trotz aller Umstände fortzusetzen: „Die Repressionen in China sind groß, jeder überlegt genau, wie er damit umgeht“, sagt er. Auch Ai beobachtet aufmerksam, dass immer wieder Künstler und Intellektuelle in chinesischen Gefängnissen verschwinden.
»Erst kürzlich wurde ein Rechtsgelehrter zu vier Jahren Haft verurteilt. Er hatte über Bürgerrechte gesprochen. Zu sprechen genügt.«
Ai Weiwei möchte sich das Wort nicht verbieten lassen. Für einige Chinesen ist er ein Symbol für Freiheit. Mit seiner Kunst will er zeigen, dass diese auf Dauer nicht unterdrückt werden kann:
»Unser Land hat riesige ökonomische Fortschritte gemacht. Es kann aber nur einen Beitrag in der Welt leisten, wenn es Grundwerte wie die Menschenrechte oder das Recht auf freie Meinungsäußerung achtet. Ohne das alles bleibt China ein Land ohne Bedeutung.«
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