Atemlos beobachtet Alfred Brehm die Jagd der Nilkrokodile und hält jedes Detail fest. Der gerade einmal 18 Jahre alte Naturforscher ist 1847 auf Afrikaexpedition und seine Schilderungen werden Jahre später ein Standardwerk füllen: 1863 erscheint das „Illustrirte Thierleben", das ab der zweiten Auflage „Brehms Tierleben" heißt, und öffnet Millionen Lesern ein Fenster zur Tierwelt. Zehn Bände wird es einmal umfassen, 200 Mal neu aufgelegt, in alle Weltsprachen übersetzt werden und zu den meistverkauften Büchern überhaupt zählen. Alfred Brehm wächst in Thüringen als Sohn eines Pastors und gewissenhaften Vogelforschers auf. Die Begeisterung des Vaters geht auf ihn über, auch wenn Alfred es später zuweilen weniger streng mit wissenschaftlichen Standards nimmt. Auf seine populärwissenschaftlichen Abhandlungen reagiert die Forscherszene mit Spott und Verachtung, da er auch die Gefühlswelt der Tiere beschreibt - was damals Neuland ist. Nun, zum 150-jährigen Jubiläum von „Brehms Tierleben", rückt eine ARTE- Dokufiktion die Geschichte des Mannes hinter dem Nachschlagewerk in den Fokus. Sie zeigt, dass Brehm nicht nur gefeierter Bestsellerautor und Zoodirektor war, sondern auch eine tragische Figur - 1884 stirbt er verarmt und gebrochen an den Folgen der Malaria. Dass sein Werk dennoch nachwirkt, zeigen Sequenzen im Film, die Brehms Arbeit der von modernen Dokumentarfilmern gegenüberstellen.
Der Publizist Roger Willemsen ist erklärter Verehrer von Brehm, 2006 hat er eine Auswahl aus „Brehms Tierleben" neu herausgegeben. Nun führt er als Erzähler durch die Dokufiktion. Mit dem ARTE Magazin spricht er über die literarische Wucht von Brehms Werk - und wie er selbst Fan wurde.
ARTE: Alfred Brehm ist für seine amüsanten Sätze berühmt, in denen er Tieren menschliche Charakterzüge zuschreibt. Wie könnte so ein Satz über Brehm selbst lauten?
Roger Willemsen: Brehm lässt sich hervorragend ins Tierische übersetzen, wie es das in der Literatur im sogenannten Bestiarium gab. Er wäre ein rastloses Wühltier, das alles überlebt und sich mit spitzem Rüssel und ungebremstem Erkenntniswillen durch das Erdreich gräbt, um immer neue Schätze ans Licht zu bringen.
ARTE: Glauben Sie, dass Tiere eine Seele haben?
Roger Willemsen: Das Privileg der Seele allein für den Menschen zu beanspruchen, wäre vermessen, doch wir neigen dazu, Tiere zu vermenschlichen: Wir sehen ein Kaninchen, wie es in diesem Augenblick übrigens über meinen Rasen hüpft, und halten es für sanftmütig. Vermutlich geben wir ihm diese Eigenschaft aus unserer Persönlichkeit mit. Aber warum sollte es nicht auch seine sein?
ARTE: Dass wir über Kaninchengefühle sprechen, dürfte auch Brehms Verdienst sein. Wie hat er unsere Sicht auf die Tierwelt geprägt?
Roger Willemsen: Er lehrt uns, die Natur nicht als etwas Anorganisches zu betrachten, sondern sie als etwas Kostbares zu sehen und sich für ihren Erhalt einzusetzen. Brehm kannte das Artensterben, er wusste, dass der Mensch die Natur bedroht. Trotzdem hat er Tiere getötet, um mehr über sie zu erfahren. Die Wissenschaft hat immer auch einen amoralischen Raum betreten.
ARTE: Millionen Menschen lasen und lesen Brehms Bücher, doch die Fachwelt kritisierte ihn. Warum?
Roger Willemsen: Brehm stand im Schatten seines Vaters, der als Ornithologe in der Forscherszene durch seinen wissenschaftlichen Purismus als integrer galt als der Sohn. Dass Brehm ein größeres Publikum unterhalten wollte, warf man ihm vor.
ARTE: Wie ist Brehms Werk heute zu beurteilen?
Roger willemsen: Sein Subjektivismus ist stilprägend für die Populärwissenschaft. Auch seine Schilderungen sind zum Teil sehr treffend. Brehm hatte ein expansives Wissenschaftsverständnis. Wenn er einen Skorpion darstellte, schaute er in dessen Historie und gab an, welche Bedeutung dieser in der ägyptischen Mythologie hatte, legte außerdem seine Ikonografie dar und nutzte das Wissen anderer Autoren.
ARTE: Manchmal lag er dennoch daneben. Warum haben Sie sein Werk 2006 neu aufgelegt?
Roger willemsen: Wir werden auch bei Humboldt vieles finden, was so nicht stimmt. Wir wissen wie falsch Goethes Farbenlehre oder Schillers Geschichte vom Fall der Niederlande waren. Trotzdem lesen wir diese Werke. Brehms Texte müssen als Ergebnis ihrer Zeit verstanden werden. Dann ist es eine unterhaltsame und farbenreiche Lektüre, denn Brehm war ein grandioser Schreiber.
ARTE: Worin besteht seine literarische Qualität?
Roger willemsen: Was die Feinkörnigkeit seiner Sprache und die Differenzierung seiner Prosa angeht, hat Brehm Maßstäbe gesetzt. Nehmen Sie die Wucht eines meiner Lieblingssätze: „Der Eindruck, welchen das Walroß auf den Menschen macht, ist kein günstiger." Das ist eine fast schon architektonische Phrase. Zunächst kommt sie wie auf Stelzen daher, hat etwas Pompöses, Erhabenes und donnert am Ende krachend zu Boden.
ARTE: Warum standen Sie für den ARTE-Film Pate?
Roger willemsen: Das Projekt hat für mich einen sentimentalen Kern: Als Kind besaß ich eine Volksausgabe von „Brehms Tierleben", die meine Tierliebe genährt hat. Ich fand auch die Idee, Sequenzen aus Tierdokumentationen zu verwenden, konsequent, denn auch Brehm nutzte immer alle zur Verfügung stehenden Mittel. Er war auch offen für die Fotografie. Heute würde er wohl den Film wählen. Die Spielszenen machen zudem die Konflikte greifbar, die entstehen, wenn sich einer aus engen Verhältnissen heraus in Gefahr begibt, um die Natur für alle zugänglich zu machen.
ARTE: Haben Sie Neues über Brehm gelernt?
Roger willemsen: Sogar viel. Beispielweise über die extremen Bedingungen, unter denen die Afrikaexpedition stattfand oder über die Financiers seiner Reisen, die mal auf- und mal absprangen.
ARTE: Warum sollten sich Menschen, die wenig Interesse für Tiere haben, mit Brehm beschäftigen?
Roger willemsen: Über die Emphase, mit der Brehm spricht, findet sicher manch einer zur eigenen, vielleicht nur verschütteten Tierliebe zurück. Ich halte ein Leben ohne Tierliebe für ärmer, allein im Ästhetischen: Wenn ich Tiefseeaufnahmen von Haiarten sehe, die halb fluoreszierend durch ewige Finsternis gleiten, ist das so aufregend, dass mich das plötzlich interessiert. Ich glaube, es gibt viele Wege in die Tierliebe. Die meisten davon lassen sich mit Brehm betreten.