Wie ein grüner Riese ragt New Yorks Speisekammer der Zukunft aus der Skyline. Hinter der gläsernen Fassade zeichnen sich die Konturen von Bäumen ab. Nachts wirft das Gebäude grünes Schummerlicht auf die umliegende Stadt. „Dragonfly", Libelle, heißt der Wolkenkratzer. Der Anatomie des Insekts nachempfunden, schraubt sich der Bau 700 Meter in den Himmel über Roosevelt Island, dort, wo der East River Manhattan von Queens trennt. Wie Einfamilienhäuser wirken die benachbarten Wolkenkratzer in seinem Schatten. Doch „Dragonfly" soll einmal mehr sein als ein besonders hoher und extravaganter Büroturm im New Yorker Bankenviertel: Eines Tages soll die Libelle helfen, die Stadt zu ernähren.
So erträumt es sich der belgische Architekt Vincent Callebaut, der das Hochhaus geplant hat. Noch ist die Libelle eine Zukunftsvision, die nur in Callebauts Entwürfen und Animationen Gestalt angenommen hat. Sollte sie tatsächlich einmal realisiert werden, würden auf 132 Etagen Tomaten, Pilze oder Orangen wachsen, Kühe weiden, Hühner und Fische gezüchtet werden. Etwa 150.000 New Yorker könnten von den Erträgen leben.
„Vertical Farming" heißt das Konzept, das Callebaut und eine Handvoll Forscher zu derart spektakulären Entwürfen inspiriert: vertikale Landwirtschaft. Felder und Weiden sollen sich nicht länger bis zum Horizont erstrecken, sondern in die Höhe: Stockwerk über Stockwerk, mitten in der Stadt. Die Verfechter der Idee erhoffen sich eine Revolution der Landwirtschaft - und Antwort auf die Frage: Wie ernähren wir die Menschheit? Über sieben Milliarden Menschen bevölkern die Erde heute, im Jahr 2050 werden es nach Schätzungen der Vereinten Nationen über neun Milliarden sein. 70 Prozent davon werden in Städten leben.
Dickson Despommier, ein inzwischen emeritierter Professor für Umweltgesundheit an der New Yorker Columbia University, beschäftigt sich erstmals 1999 mit dem Problem. Seine Berechnungen ergeben, dass Acker- und Weideflächen in der Größe Brasiliens erschlossen werden müssten, um mit dem Wachstum der Weltbevölkerung Schritt zu halten. Flächen, die laut Despommier nicht verfügbar sind. Fortan sucht er nach Möglichkeiten, mehr Nahrung auf weniger Raum zu produzieren. Der Agrarwolkenkratzer um die Straßenecke würde dabei mehr als das Hungerproblem lösen, ist sich Despommier sicher: Er könnte die Landwirtschaft ökologischer gestalten. Benzinschluckende Transportwege wären überflüssig; im Innern der Gebäude wären Pflanzen sicherer vor Schädlingen, sodass giftige Pflanzenschutzmittel nur selten zum Einsatz kämen; Mist aus Viehzucht könnte Kunstdünger ersetzen, während die Tiere mit Ernteabfällen gefüttert würden - nichts ginge in dieser Kreislaufwirtschaft verloren; moderne Bewässerungsverfahren wie die exakt dosierbare Tröpfchenbewässerung könnten bis zu 70 Prozent Wasser sparen. Geschützt vor widrigen Wetterbedingungen, würden die Stadtbauern der Zukunft ihrer Arbeit nachgehen, 365 Tage im Jahr. Missernten gäbe es nicht mehr. Und durch die umfassende Kontrolle über Nährstoffe, Beleuchtung und Bewässerung wären fette Erträge garantiert.
Despommiers Prognose ist nicht ganz unumstritten. Abgesehen von den Bedingungen, unter denen Tiere gehalten würden, ist vor allem die Energiebilanz der Gewächshochhäuser ein Streitpunkt. „Wie viel Stahl ist nötig, um so ein Gebäude zu bauen, wie viel Energie verschlingt es und wie stromintensiv ist die Bewirtschaftung?", fragt Petra Hagen Hodgson, die Leiterin des Fachbereichs Urbane Grünräume der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Studien zeigen, dass der Energieverbrauch der gestapelten Äcker nach dem derzeitigen Stand der Technik gigantisch wäre. Besonders die künstliche Beleuchtung entpuppt sich als Kos-tentreiber. Würden vertikale Farmen ausschließlich mit grüner Energie betrieben, so müsste der US-Sektor für erneuerbare Energien um das 400-fache ausgebaut werden - allein um Amerikas gesamte jährliche Weizenernte produzieren zu können. Verzichtete man auf erneuerbare Energien, müssten zu den derzeit 104 amerikanischen Atomkraftwerken circa 4.000 weitere hinzukommen. „Die vertikale Landwirtschaft allein kann unsere Ernährungsprobleme nicht lösen", sagt Hagen Hodgson. Die Debatte findet sie dennoch wichtig: „Es ist gut, dass wir diskutieren, wie wir die Welt in Zukunft ernähren wollen." Auf dem Weg dorthin spielt auch die urbane Landwirtschaft eine tragende Rolle. Schon jetzt versorgt der Anbau auf Dächern und Balkonen die Einwohner vieler Metropolen mit frischem Obst und Gemüse. „In einer dichten Stadt wie London rechnen wir langfristig mit 25 bis 30 Prozent an Eigenproduktion", sagt Katrin Bohn, Architektin an der Technischen Universität Berlin.
In verschiedenen Teilen der Welt suchen Wissenschaftler nun nach Wegen, die vertikale Landwirtschaft aus den Wolken auf festen Grund zu holen. Im südkoreanischen Suwon wachsen auf drei Etagen einer Versuchsanlage Salatköpfe, die bald in Supermärkten verkauft werden sollen. An der Universität Hohenheim in Stuttgart stellten Forscher unter dem Schlagwort „Skyfarming" kürzlich das Modell eines Reishochhauses vor, aktuell arbeiten sie an einem Prototypen. Auf 20 bis 50 Etagen soll der Reis der Zukunft sprießen.
Außerhalb des Labors scheiterten kommerzielle Großprojekte bislang meist kläglich. So wurden in den Niederlanden die Pläne zum „Deltapark" verworfen, einer vertikalen Agrarfabrik bei Rotterdam. Mit auf mehreren Ebenen produziertem Gemüse, Obst, Fleisch und Fisch sollte er die Holländer versorgen. Nachdem Medien die Art der Herstellung aber als zu künstlich kritisiert hatten, wurde das Projekt gestoppt. Der nächste vertikale Landwirtschaftsversuch findet in Linköping statt, einer etwa 100.000 Einwohner zählenden Stadt in Schweden. 2012 wurde dort der Spatenstich für eine 55 Meter hohe, kegelförmige Glaskonstruktion gesetzt. Auf 4.000 überdachten Quadratmetern soll ab 2014 vor allem asiatisches Gemüse wachsen. Auch wenn noch viele Fragen offen bleiben, könnte die vertikale Revolution ihren Start so in der skandinavischen Provinz nehmen.