102 Platzverweise! In keiner anderen Topliga Europas sind in dieser Saison so viele Spieler vom Platz geflogen wie in Frankreich. Wie kommt das? Eine Suche nach Erklärungen.
Als Yunis Abdelhamid, Abwehrspieler von Stade Reims, den Ball am 37. Spieltag im Spiel gegen Paris St. Germain kurz vor dem Tor mit dem Arm abwehrt, ist es geschehen: Schiedsrichter Clement Turpin greift in seine Gesäßtasche und zeigt die 100. Rote Karte der Ligue-1-Saison 2020/21. Ein Blick auf die Fairnesstabellen der anderen europäischen Topligen zeigt: ein verdammt hoher Wert.
Die Berechnung der verteilten Platzverweise pro Spieltag verdeutlicht die Unterschiede zwischen den Ligen: Während in der vergangenen Saison in der Bundesliga im Schnitt 0,9 (33 Platzverweise insgesamt), in der Premier League 1,2 (48), der Serie A 1,8 (69) und in LaLiga 1,9 (73) Rote Karten pro Spieltag ausgestellt wurden, sind in der Ligue 1 im Schnitt 2,7 Spieler pro Spieltag des Feldes verwiesen worden. 102 Rote und Gelb-Rote Karten gab es dort. Auch die Vergangenheit bestätigt die Beobachtung dieser Saison. In drei der letzten vier Spielzeiten wurden im Vergleich der europäischen Topligen die meisten roten Karten in der Ligue 1 verteilt. Doch wie sind die hohen Unterschiede zwischen den Ligen zu erklären? Gibt es konkrete Gründe für die Vielzahl an Feldverweisen in der höchsten französischen Spielklasse?
Auffällig in der Betrachtung der ausgestellten Platzverweise in der abgelaufenen Saison ist die Anzahl der glatt Roten Karten: In 70 Prozent (72 der insgesamt 102 Roten Karten) der Fälle wurden die Spieler der französischen Erstligaklubs direkt des Feldes verwiesen - Höchstwert im Vergleich mit den anderen Ligen. Greifen die Schiedsrichter also grundsätzlich einfach härter durch als in anderen Ligen? In Frankreich wird diese Möglichkeit zumindest diskutiert. Der ehemalige Schiedsrichter Bruno Derrien vermutet im Gespräch mit der Pariser Tageszeitung LeParisien, dass die strengere Vorgehensweise der Unparteiischen zumindest einer der Gründe für die Kartenflut in der Ligue 1 ist:
„Es ist sehr wahrscheinlich, dass französische Schiedsrichter vorsichtiger als ihre deutschen oder englischen Kollegen sind. Sie sind konkreter in der strikten Durchsetzung der Regeln, um den Schutz der Spieler zu gewährleisten."
Hinter der strengeren Durchsetzung des Regelwerks durch die französischen Unparteiischen stecke laut dem ehemaligen Schiedsrichter auch eine kulturelle Dimension der Spielleitung. Während in den anderen europäischen Topligen der Spielfluss eines Fußballspiels im Vordergrund stehe, werde in der Ligue 1 häufig kleinteiliger und strenger gepfiffen.
Einen etwas anderen Erklärungsansatz sucht David Guion. Der Cheftrainer von Stade Reims sieht neben dem vergleichsweise strengen Eingreifen der Schiedsrichter besonders die mangelnde Erfahrung und Disziplin der Spieler als Grund für die hohe Anzahl an Platzverweisen der Ligue 1 in den vergangenen Jahren.
„Wir sind die jüngste Liga. Damit ist natürlich ein Mangel an Reife und Disziplin verbunden. Auch in meiner Mannschaft ist der Spieler, der die meisten Karten gesammelt hat, ein Youngster."
Die Rede ist von Moreto Cassamá. Der 23-jährige Mittelfeldspieler von Stade Reims hat mit insgesamt drei Platzverweisen die meisten Roten Karten in der abgelaufenen Saison der Ligue 1 gesammelt. In der Rückschau auf die Spielzeit ist das Argument von Guion schwer von der Hand zu weisen: Im September vergangenen Jahres sahen bei der Partie zwischen Paris St. Germain und Olympique Marseille bei einer Rudelbildung nach Abpfiff gleich fünf Spieler den roten Karton. Das Aufeinandertreffen von AS Monaco und Olympique Lyon im Mai endete mit einem Handgemenge und insgesamt ebenfalls fünf Platzverweisen. Bei der Partie Stade Brest gegen RC Lens wurden drei Spieler des Feldes verwiesen. David Guions' Stade Reims beendete sein Heimspiel gegen den FC Lorient nach zwei glatt Roten Karten nur zu neunt. Die Liste ist lang: Insgesamt 19 Partien endeten mit zwei oder mehr Platzverweisen.
In der Gesamtbetrachtung der abgelaufenen Saison und den Erklärungsansätzen der verschiedenen Akteure zeigt sich: Die Gründe für die hohe Anzahl an Platzverweisen in der französischen Ligue 1 sind vielschichtig. Die französischen Unparteiischen sind vermutlich grundsätzlich etwas strenger in der Auslegung der Regeln, die Spieler lassen sich häufig zu Disziplinlosigkeiten hinreißen. In der nächsten Saison würde Schiedsrichter Clement Turpin die 100. Rote Karte sicherlich gerne in seiner Gesäßtasche lassen.