In 22 Gesprächen hat der „Millernton“-Podcast St. Paulis Trainer Timo Schultz durch die vergangene Saison begleitet. Wie durchlebt ein Fußballlehrer sein erstes Jahr als Cheftrainer eines Profivereins? Im Gespräch mit Tim Eckhardt, Macher von „Being Timo Schultz“.
Tim Eckhardt, Sie haben Timo Schultz durch seine Debütsaison als Cheftrainer des FC St. Pauli begleitet. Das erste Gespräch haben Sie in der Vorbereitung mit ihm geführt, einige Monate später stand das Team auf dem vorletzten Tabellenplatz und Schultz kurz vor dem Aus. Haben Sie sich so eine dramatische Entwicklung für ihr Podcastprojekt insgeheim sogar gewünscht?
Auf keinen Fall. Wir hatten in dieser Phase der Saison wirklich große Sorge, dass Timo Schultz entlassen wird. Auch wenn ihm von Vereinsseite klar der Rücken gestärkt wurde, kennt man ja das Geschäft. Das Team war schließlich seit elf Spielen sieglos, da hätten viele Trainer bei anderen Clubs ihren Job schon lange verloren. Wir hätten nicht gewusst, wie es bei einer Entlassung mit dem Podcast weitergegangen wäre und ob wir „Being Timo Schultz" nach der Saison überhaupt hätten veröffentlichen dürfen. Kleinere Rückschläge haben wir uns für das Projekt vor der Saison natürlich ein bisschen gewünscht, um zu sehen, wie ein Trainer sich in solchen Situationen verhält. Aber so ein krasses Tief wie in der Weihnachtszeit willst du auch als Anhänger des FC St. Pauli natürlich nicht mitnehmen.
Wie haben Sie Timo Schultz persönlich in dieser schwierigen Saisonphase erlebt?
Ich habe ihn grundsätzlich als Menschen kennengelernt, der mit Druck umgehen und das ganze Drumherum sehr gut ausblenden kann. In unseren Telefonaten zu dieser Zeit hat er immer versucht, die Situation seiner Mannschaft sachlich und lösungsorientiert aufzuarbeiten. Aber die Phase um Weihnachten war für alle sehr hart, für Timo natürlich besonders. Seine Ruhe und seine klare Problemanalyse haben mich in dieser schwierigen Lage wirklich beeindruckt. Und sein ruhiger, sachlicher Ansatz wurde letztendlich belohnt: In der Rückrunde konnte der FC St. Pauli eine richtige Serie hinlegen und die Abstiegszone schnell verlassen. Wie er persönlich die Zeit um Weihnachten wahrgenommen hat, da haben wir erst drüber gesprochen, als sich die Situation im Frühjahr schon wieder etwas entspannt hatte.
Gab es in dieser Phase auch mal Funkstille zwischen Ihnen und Timo Schultz?
Im Podcast hat er über die ganze Spielzeit hinweg immer offen und ehrlich mit mir geredet. Wir haben in jeder Phase der Saison telefoniert, auch als der FC St. Pauli kurz vor Weihnachten mit acht Punkten aus 12 Spielen auf dem vorletzten Tabellenplatz stand. Timo Schultz wurde zu diesem Zeitpunkt bereits von den Medien angezählt, vor der Partie in Würzburg fielen bereits Begriffe wie „Abstiegsendspiel". Die Probleme seiner Mannschaft hat er bei uns im Podcast in dieser Saisonphase in einem unserer Telefonate ziemlich schonungslos angesprochen. Besonders mit der Einstellung der Mannschaft war er damals nicht zufrieden. Im Gespräch hat er mir dann ziemlich klar gesagt, dass es in der Mannschaft zu viele „Wohlfühltypen" gebe und dem Kader Spieler fehlen würden, die auch in schwierigen Situationen mit einer „Scheiß-Egal-Haltung" vorangehen. Das war dann auch das einzige Mal in der ganzen Saison, dass er sich ein Gespräch im Nachhinein noch einmal anhören wollte. Wie sich später gezeigt hat, war seine Analyse war zu dem Zeitpunkt unglaublich treffend, deswegen haben wir uns darauf geeinigt, das Telefonat im Podcast zu lassen.
Wenn Profivereine externen Medien über eine komplette Saison Einblicke in ihre Arbeit gewähren, dann in der Regel großen Produktionsfirmen mit hohem Budget. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, dass sowas auch mit ihrem Podcast funktionieren könnte?
Das war tatsächlich eine Schnapsidee. Im letzten Sommer hatte ich bei ein paar Bieren den Einfall, wie geil es eigentlich wäre, mit unserem Podcast „MillernTon" eine Art 24/7 Doku über jemanden beim FC St. Pauli zu machen. Weil Timo Schultz als ehemaliger Spieler, U17- und U19-Trainer natürlich totalen Stallgeruch hat und einfach ein total authentischer Typ ist, dachte ich mir direkt: Könnte das mit dem vielleicht sogar klappen?
... und dann hat es tatsächlich geklappt.
Ich kannte ihn vorher schon persönlich, deswegen konnte ich mir schon vorstellen, dass das was werden könnte. Neben unserem Podcast betreiben wir auch einen Blog, für den ich Taktikanalysen von Spielen des FC St. Pauli schreibe. Als Timo Schultz im Frühling 2019 noch Trainer der U19-Mannschaft war, hatte er mich angeschrieben und wollte mit mir über Fußball und den FC St. Pauli sprechen.
Er hat Sie angeschrieben?
Tatsächlich, ja. Für mich als Blogger war das natürlich total großartig. Wir haben uns getroffen und ausgetauscht, ein paar Monate später durfte ich dann für seine Mannschaft die U19 von Werder Bremen analysieren. Das Spiel ging dann zwar 0:5 verloren ( lacht), aber Timo sagte, die Analyse von mir sei gut gewesen. Somit war ein erster Kontakt da und ich hatte ein bisschen Hoffnung, dass er unserem Projekt zustimmen würde.
Wie hat sich Ihre persönliche Sicht auf den Job des Fußballlehrers durch die neuen Eindrücke verändert?
Mir ist durch das Projekt noch einmal klar geworden, wie schwierig es eigentlich ist, als Trainer alles unter einen Hut zu bekommen. Als gewöhnlicher Zuschauer im Stadion oder zuhause auf dem Sofa bekommt man ja gar nicht mit, dass so jemand nach einer Trainingseinheit erstmal seine Kinder aus der Kita abholt oder an freien Tagen Ausflüge mit der Familie macht. Gleichzeitig steht man als Cheftrainer einer Bundesligamannschaft immer in der Verantwortung und muss sich für sämtliche Dinge im Verein rechtfertigen. Trainer werden teilweise für Dinge kritisiert, auf die sie gar keinen Einfluss haben.
Zum Beispiel?
Beim FC St. Pauli war es in der vergangenen Saison so, dass zum Beispiel Guido Burgstaller in der kompletten Hinrunde verletzt war. Als der dann wieder fit war, hat die Mannschaft direkt ein ganz anderes Spiel gezeigt. Häufig genug rollt dann vorher trotzdem schon der Kopf des Trainers. Eine weitere spannende Erkenntnis war, wie sich Herangehensweisen von Trainern im Laufe einer Saison ändern können.
Erzählen Sie.
Der FC St. Pauli hat in der vergangenen Saison beispielsweise mehrfach seine Formation verändert, in der Defensive erst mit Dreierkette gespielt, im Laufe der Saison dann auf Viererkette umgestellt. Durch die Gespräche mit Timo Schultz habe ich verstanden, wie und vor allem warum solche Entscheidungen getroffen werden. Da spielen dann beispielsweise Dinge wie die aktuelle Form von Spielern, Verletzungen oder auch der kommende Gegner eine große Rolle.
„Häufig war es so, wie mit einem Kumpel über den FC St. Pauli zu fachsimpeln“
Haben Sie trotz der angesprochenen Umstellungen und Veränderungen einen roten Faden, einen grundsätzlichen Plan erkannt, den Timo Schultz während der gesamten Saison verfolgt hat?
Das habe ich Timo als Opener und Closer in unserem ersten und letzten Gespräch des Podcasts auch gefragt. Wie möchte er Fußball spielen lassen? Was ist seine Philosophie? Und vor allem: Was ist in der Saison alles schief gelaufen? In der Vorbereitung hat er erzählt, wie er grundsätzlich Fußball spielen lassen möchte: Dass er mit seinem Team den Fokus aufs Umschaltspiel richten möchte zum Beispiel. Diese grundsätzliche Herangehensweise hat sich auch durch die gesamte Saison gezogen. Aber die Art und Weise, wie er diese Spielweise umsetzen möchte, hat sich während der Saison in Form von Spielerwechseln und Umstellungen geändert. Oder wie er die Qualität des Kaders grundsätzlich einschätzt, was die Stärken und die Schwächen sind. Eine große Stärke seiner Spieler hat er vor der Saison besonders im offensiven Eins gegen Eins ausgemacht. Als er das Team dann im Laufe der Saison von einer 3−5−2 Formation zum 4−4−2 mit Raute umgestellt hat, konnte die Mannschaft diese Stärken in der Rückrunde viel besser ausspielen. Die Raute im 4−4−2 ist zum Beispiel eine Formation, die er vor der Saison gar nicht auf dem Schirm hatte. Durch Verletzungen wie zum Beispiel von Rio Miyaichi hatte er aber einfach keine Außenspieler zur Verfügung, also musste während der Saison improvisiert und die passende Formation gefunden werden.
Hat Sie überrascht, wie viel Timo Schultz Ihnen erzählt hat?
Ja, total. Ich hätte zum Beispiel gedacht, dass er sein Handy gerade in der schwierigen Phase auch mal unberührt lässt, wenn eine Nachricht von mir kommt. Ich war wirklich positiv überrascht wie offen und ehrlich er mit mir gesprochen hat. Timo Schultz hat mir über die gesamte Saison einen authentischen Einblick in seinen Kopf gegeben, das hätte ich vorher echt nicht erwartet. Es war aber nie so, dass er sich um Kopf und Kragen geredet hat. Viel mehr wirkte es für mich häufig so, wie mit einem Kumpel über den FC St. Pauli zu fachsimpeln. Das hat man auch daran gemerkt, dass unsere Telefonate in den normalsten Alltagssituationen stattgefunden haben: Manchmal hat Timo Schultz gerade seine Kinder aus der Kita abgeholt oder war mit den Kollegen aus dem Trainerteam im Kraftraum. Bei einem Telefonat war er mit der Familie in Ostfriesland unterwegs. Weil da das Handynetz zu schlecht war, musste ich dann auf dem Haustelefon anrufen. Da ist auch das Intro des Podcasts entstanden, in dem er sich ganz förmlich mit „Schultz?“ meldet.