Alejandro Mantilla über die Massendemonstrationen und Generalstreiks in Kolumbien
Verschiedene Faktoren haben zu den Protesten geführt. Von der Regierung geplante neoliberale Reformen, die Verfolgung und Ermordung sozialer Anführer, die seit den Friedensvereinbarungen mit der FARC vor drei Jahren stark zugenommen hat sowie die mangelnde Umsetzung dieser Vereinbarungen. Hinzu kommt eine Ablehnung der rechen Regierung von Iván Duque, ihrer Politik, ihrer Art und Weise, den Staat zu führen und dem Uribismus als solchem, also der politischen Gruppe um den rechten Ex-Präsidenten Álvaro Uribe, als dessen Marionette Duque wahrgenommen wird.
Schon vor dem Tag des Generalstreiks am 21. November hatte die Regierung versucht, die Proteste zu delegitimieren. Die Demonstrationen selbst hat sie zunächst als Problem der öffentlichen Ordnung dargestellt, als hätten sie keinen politischen Gehalt. Insbesondere in Bogota hat sie auf jede Zusammenkunft mit Repression reagiert, während sie gleichzeitig Gespräche ankündigte.
Die Ermordung des Jungen sorgt für große Empörung und delegitimiert das Regime und die Regierung Duque weiter. Auch wenn der Präsident sein Beileid ausgesprochen hat, war er es, der die Unterdrückung der Proteste durch die Sicherheitskräfte angeordnet hat. Die Proteste werden sich nicht nur gegen die neoliberalen Reformen richten, sondern auch für die Auflösung des Esmad, der Antiaufstandseinheit kolumbianischen Polizei. Das ist etwas, was die popularen Bewegungen schon seit mehreren Jahrzehnten fordern.
Können die Forderungen der Protestbewegung bei dem auf mehrere Monate angelegten Nationalen Dialog erfüllt werden?
Der Vorschlag Duques ist weder durchführbar und zielführend, noch wird er die Probleme lösen, die zu den Protesten geführt haben. Es war bereits ein Fehler, dass der Präsident sich zuerst mit Gouverneuren und Bürgermeistern getroffen hat statt mit den gesellschaftlichen Gruppen, die sich an den Protesten beteiligen. Zudem ist nicht klar, wohin die Gespräche überhaupt führen sollen. Es scheint mir, dass dieser Vorschlag eines Dialogs die Möglichkeit einer Einigung verschleppen soll und das wird die Unzufriedenheit weiter ansteigen lassen.
Welche gesellschaftliche Gruppen stehen hinter den Protesten?
Das Interessanteste ist, dass es sich im ganzen Land um dezentrale, populare Demonstrationen handelt. Waren es in den vergangenen zehn Jahren immer sozialen Organisationen, Gewerkschaften, Indigenen-, afro-kolumbianischen oder Kleinbauernorganisationen, die zu den Protesten aufgerufen haben, gehen die Proteste diesmal über diese Organisationen und die Linke hinaus. Vor allem junge Leute finden sich in Stadtvierteln von sich aus zusammen.
Wer soll diese Protestbewegung dann bei den Gesprächen mit der Regierung vertreten?
Der Schlüssel liegt meines Erachtens darin, dass die Gewerkschaften, die über viel Erfahrung bei solchen Verhandlungen verfügen, eine Öffnung erreichen, so dass es zu einem Dialog zwischen Regime und den Protestierenden kommen kann.
Der Vergleich zu den Protesten in Chile drängt sich auf. Welche Parallelen gibt es?
In beiden sind Unzufriedenheit und Frustration seit Langem hoch. Die Bevölkerungen lehnen die neoliberale Politik ab, die seit mehreren Jahrzehnten zu immer weiteren Prekarisierung von Leben und Arbeit führen. Ein wichtiger Faktor in beiden Ländern scheint mir auch der Generationenwechsel zu sein. Die jungen Menschen sind nicht bereit, den Stand der Dinge zu akzeptieren, sondern wollen die Gesellschaft insgesamt verändern. Es ist kein Zufall, dass den jetzigen Demonstrationen in beiden Ländern in den vergangenen Jahren große Proteste von Studierenden vorangegangen sind.
Vor drei Jahren unterzeichneten die FARC-Guerilla ein Friedensabkommen mit der damaligen Regierung. Hat die Demobilisierung der FARC politische Räume für eben solche gesellschaftliche Proteste geöffnet?
Der Frieden und die Forderung nach einer politischen Lösung des bewaffneten Konflikts war in den vergangenen Jahren stets ein Katalysator für die Mobilisierung popularer Bewegungen. Die Friedensvereinbarungen hat die wenn auch sehr kleine Möglichkeit der Demokratisierung der kolumbianischen Gesellschaft eröffnet und die Hoffnung geweckt, Kolumbien zu verändern. Das große Problem ist, dass bereits unter Präsident Santos (2010 - 2018) und noch intensiver unter Präsident Duque die Vereinbarungen nicht oder nur teilweise eingehalten wurden. Dies führt ebenso wie das Scheitern der Verhandlungen mit der ELN-Guerilla dazu, dass es weitere Mobilisierungen gibt und die Menschen ernsthafte Alternativen zur Lösung des Konflikts fordern.
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