Ein Interview mit Stefan Gandler über Kritische Theorie in Lateinamerika
"Robespierre war Kindergarten"
Die Kämpfe um Modernität werden in Lateinamerika viel radikaler geführt als in Europa, meint der Philosoph und Sozialwissenschaftler Stefan Gandler, der in Mexiko zur Kritischen Theorie forscht und an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) lehrt.
Interview: David Graaff
https://jungle.world/inhalt/2017/02
Welche Rolle spielt die Kritische Theorie der Frankfurter Schule heute in Lateinamerika?
Lateinamerika ist einer der Orte, an dem Kritische Theorie am meisten diskutiert wird. In keine andere Fremdsprache sind deren Texte so umfassend übersetzt worden wie ins Spanische, unter anderem die Gesamtwerke Benjamins und Adornos. Kritische Theorie wird in Mexiko intensiv diskutiert, in Brasilien oder auch in Argentinien. Insgesamt gibt es hier eine relativ offene Debatte darüber, wie man eine linke Diskussion wieder aufleben lassen kann. Nach dem Niedergang der Sowjetunion gab es auch hier eine große Krise. Mit dem Unterschied, dass man in Lateinamerika der Fabel vom »Ende der Geschichte« doch weniger geglaubt hat als beispielsweise in Deutschland. Ab den achtziger Jahren begann eine eingehende Suche nach einer Alternative zum hier vergleichsweise langlebigen dogmatischen Marxismus. Die Rezeption begann in den sechziger Jahren mit Marcuse und seit den Neunzigern gibt es ein Benjamin-Revival, das immer noch anhält …
Bei dem Benjamin aber nicht unbedingt in der Tradition der Kritischen Theorie gelesen wird …
Natürlich gibt es in Lateinamerika auch diese sozialdemokratische Lesart, die zum Beispiel Benjamins radikale Kritik einer naiven Fortschrittsapologie herunterkocht auf eine »Kritik an technischem ohne sozialen Fortschritt«, was offensichtlich der Benjamin’schen Argumentation nicht gerecht wird. Nebenher wird schlicht »übersehen«, dass Benjamin die Kompromisshaltung der reformistischen Linken, in theoretischer wie in politischer Hinsicht, als einen der zentralen Gründe ansieht, warum die deutsche und europäische Linke so kläglich gescheitert sind, als es darum ging, den Faschismus und Nationalsozialismus aufzuhalten.
Welcher Unterschied besteht Ihrer Meinung nach zur Rezeption der Kritischen Theorie in Deutschland?
Die Debatte hier blendet nicht die klar marxistische Grundausrichtung der Kritischen Theorie aus. In Lateinamerika ist es noch etwas leichter, Klartext zu sprechen. Zudem gibt es hier eine andere politische und gesellschaftliche Situation und deshalb nach wie vor eine Diskussion über Revolution, über radikalen sozialen Umbruch. Es existieren immer noch Versuche einer linken, dezidiert rebellischen Politik, die nicht völlig isoliert sind. Was auch im Kontext der Kolonialgeschichte und der historischen Unabhängigkeitskämpfe auf dem amerikanischen Kontinent zu verstehen ist: Selbst in – nicht völlig zynischen – staatstragenden Kreisen Mexikos, und sogar auch in den USA,ist es unbestritten, dass in gewissen historischen Momenten Revolutionen unabdingbar sind. Dieser Aspekt wird in Europa meist völlig unterschätzt: Benjamins Gedanke zu den Trophäen früherer Eroberungen, die bei allen nachfolgenden Siegesmärschen immer wieder mitgetragen werden, wurde von der europäischen Linken nie ernst genommen. Der Niedergang der Sowjetunion hat viel damit zu tun, wie auch zum Beispiel die Arroganz vieler europäischer »Zapatisten« gegenüber den Solidaritätsbewegungen in den mexikanischen urbanen Zentren.
Wenn von Kritischer Theorie in Lateinamerika gesprochen wird, fällt besonders in Mexiko oft der Name eines Philosophen: Bolívar Echeverría …
Echeverría war während seiner Studienzeit in Berlin von 1962 bis 1968 durch die Diskussionen im studentischen Berlin dieser Zeit indirekt von der Frankfurter Schule beeinflusst. Als er dann nach Mexiko kam, hat er viele Jahre an der Ökonomischen Fakultät der UNAM Marx’ »Kapital« unterrichtet und damit dessen Lektüre in Mexiko stark beeinflusst. Später hat er sich dann auch Benjamin angenähert, hat ihn teilweise übersetzt und kommentiert. Seine Benjamin-Rezeption, vor allem dessen Geschichtsbegriff, manifestiert sich dann auch in seiner eigenen Theorie der vier Formen des Ethos der kapitalistischen Moderne, dem realistischen, dem romantischen, dem klassischen und dem barocken Ethos. Ethos versteht er dabei als unterschiedliche Form des Sich-Einrichtens der Individuen und deren Gesellschaften innerhalb des dem Kapitalismus inhärenten Widerspruchs zwischen der Logik des Gebrauchswerts und des Werts.
Echeverría erhielt 2006 den von der Chávez-Regierung verliehenen Preis Premio Libertador al Pensamiento Crítico. Was haben seine Theorie und die Kritische Theorie zum Linksruck in Lateinamerika beigetragen?
Wahrscheinlich relativ wenig, da diese Theorien viel radikaler, im Sinne von explizit antikapitalistisch, sind, als das, was da praktisch geschah. Das müsste man für jedes Land einzeln diskutieren. Als Bolívar Echeverría aus Caracas zurückkam, bat er erst mal um einen Tequila und erzählte dann, wie sehr es ihm Chávez’ intellektuelle Fähigkeiten und Gesangskünste angetan hatten. Zugleich war er voller Spott gegenüber gewissen »linken« Regierungen Lateinamerikas, insbesondere der seines Geburtslandes Ecuador und deren zu offensichtlichen – späten – Versuchen, ihn in deren sozialdemokratischen Projekte ideologisch einzubinden.
Im Vergleich zur deutschen oder österreichischen Sozialdemokratie und unter heutigen Bedingungen scheinen Chávez, Morales, Mujica und in der Anfangszeit Correa recht radikal. Was aber in ihrer Regierungszeit geleistet wurde, ist fast immer von der Straße her, von links her, diesen altsozialdemokratischen Verwaltungen abgerungen worden. Mit anderen Worten: Sie haben auf soziale Proteste von links teilweise nicht mit Repression reagiert, sondern mit Verhandlungen und gewissen Zugeständnissen. Das wird ihnen heute als »undemokratisch« angekreidet, natürlich: Sie haben das »Menschenrecht auf Ausbeutung fremder Arbeitskraft« (Marx) nicht konsequent verteidigt, unerhört!
Einen Vorwurf, dem sich Kritische Theorie in Lateinamerika gerade im Kontext der Dekolonisierungsdebatte immer wieder stellen muss, ist ihr vermeintlicher Eurozentrismus. Ist das auch ein Grund für ihren insgesamt geringen Widerhall?
Kritische Theorie kommt aus Europa und ist natürlich auch eurozentrisch. Es gab in Lateinamerika eine Zeit lang die Vorstellung, dass man – und das ist, denke ich, durchaus richtig – auf seine eigenen Theoretiker schaut. Das Problem dabei ist aber, dass viele von ihnen dogmatisch oder bourgeois waren. Es gibt hier ja immer noch so einen bourgeoisen oder bürgerlichen Antiimperialismus, unter dessen vermeintlich radikaler und linker Fahne strikt bürgerliche Positionen durchgezogen werden können, in denen es darum geht, dass lokale Bourgeoisien versuchen, mehr Macht und einem größeren Teil des Mehrwerts abzubekommen. Das ist aus Sicht der lokalen Bourgeoisien verständlich, hat aber natürlich nichts von anti-kapitalistischer Politik. Der Vorwurf des Eurozentrismus trifft aber vielmehr auf die kommunistischen Parteien Lateinamerikas zu, die einfach das, was aus Moskau kam, eins zu eins anwenden wollten auf die hiesigen Verhältnisse. Oft waren sie eine Verlängerung der lokalen bürgerlichen Interessen und haben eine Politik gegen die Indigenen und Campesino-Bewegungen gemacht, weil sie diese als zurückgeblieben eingestuft haben. Sie dachten, man müsse sich erst mit der lokalen Kapitalistenklasse verbünden und einen modernen Kapitalismus aufbauen, der dann den Imperialismus in seine Schranken weist, und im zweiten Schritt eben den Kommunismus einführen. Solch einen Blödsinn hat die Kritische Theorie nie verzapft. Vielmehr wird in der Kritischen Theorie immer wieder gesagt: Was wir hier schreiben, handelt von den westlichen Gesellschaften. Wir machen keine allgemeine Theorie des Kapitalismus. Und das ist auch heute ein Vorteil der Kritischen Theorie: Sie ist tendenziell besser in der Lage, sich einer nicht eurozentrischen Diskussion zu öffnen, auch wenn sie diese selber vielleicht nicht angefangen hat.
Inwieweit bestehen theoretische Schnittmengen zwischen Kritischer Theorie und der dekolonialen »Philosophie der Befreiung« des auch in Europa und den USA populären Philosophen Enrique Dussel?
Dussel bezieht sich durchaus auf die Kritische Theorie, besonders auf Benjamin, mit dem er versucht, seine eigene Theorie zu unterfüttern. Dussel interpretiert Marx als einen großen Ethiker und sagt, dass das »Kapital« große Parallelen zur Bibel aufweise. Wenn Marx beispielsweise von toter und lebendiger Arbeit spricht, was bei ihm ökonomische Kategorien sind, hat das keinen moralischen Beigeschmack. Bei Dussel aber wird das plötzlich zur ethischen Kategorie. Die tote Arbeit ist die des Teufels, das, was sozusagen vom Kapitalismus pervertiert wurde, und die lebendige Arbeit ist die Arbeit, die noch in der Haut der Arbeiter steckt. Eine moralisierende Interpretation von Marx, die ich für falsch halte, die aber deshalb attraktiv ist, weil sie sehr einfach ist. Der Vorteil ist, man versteht Dussel relativ schnell. Da braucht man nicht so viel lesen.
Aber es ist ja auch nicht alles falsch, was er sagt. Zum Beispiel, dass der Beitrag des amerikanischen Kontinents zur europäischen Modernisierung völlig unterschätzt wird. Es ist tatsächlich so, dass in Europa die Diskussionen teilweise so unterbelichtet sind oder zumindest waren, dass Dussel fast die Funktion eines Dorfpfarrers hat, der es versteht, den einfachen Leuten in Europa die Bibel nahezubringen. Das, was er sagt, ist manchmal derart simpel, dass es mit der hiesigen, viel komplexeren Diskussionen nicht viel zu tun hat. Er wird in den USA oder Europa viel ernster genommen als in Mexiko. Ein Großteil der Linken in Europa hat ja immer noch im Kopf, dass Europa der zivilisierte Kontinent und Lateinamerika ein bisschen zurückgeblieben ist. Dabei wäre es wichtig zu verstehen, dass die europäische Moderne hier begann, dass aus den Kolonien die Moderne in Europa langsam eingesickert ist. Das ist in Europa noch gar nicht angekommen. Man muss verstehen, dass der Kolonialismus Europa erst zu dem gemacht hat, was es war, nicht nur ökonomisch, sondern auch zivilisatorisch. Echeverría schreibt, dass das barocke Ethos, also die lateinamerikanische Reaktion auf die kapitalistische Moderne, die deren Widersprüchlichkeit erkennt, diese aber gleichzeitig mittels der »absoluten Inszenierung« barocker Art ignoriert, die historisch erste Moderne war. Zum Teil in Südeuropa, in Venedig und in Florenz, aber auch in den Kolonien in Lateinamerika.
Ich denke, dass hier auf dem amerikanischen Kontinent bestimmte Kämpfe um Modernität mit viel größerer Radikalität geführt wurden. Der Liberalismus ist ein gutes Beispiel: Ich bin mir sicher, dass der mexikanische Liberalismus unter Benito Juárez weltweit der radikalste war. Robespierre war im Vergleich dazu Kindergarten, weil vieles auf halbem Weg steckengeblieben ist.
Die Kritik an der historischen Rolle Europas führt im Dekolonialismus oft dazu, Europa ausschließlich negativ zu bewerten …
Das stimmt. Es scheint dann manchmal, als hätte Europa zu überhaupt nichts mehr beigetragen. Es gibt dann so eine eigenartige Umkehrung des Eurozentrismus, aus der ein gewisser lateinamerikanischer Nationalismus resultiert, der natürlich auch zu nichts führt. Bei Dussel gibt es zudem die Tendenz, in eine katholische Moralisierung zu verfallen.
Eine katholische Kapitalismuskritik, wie sie ja auch von Papst Franziskus zu hören ist?
Ja. Dieses Lager, das ja auch kein explizit linkes Lager ist, kann solidarisch sein, kann gegen Neoliberalismus in seiner extremsten Form sein, aber strikt antikapitalistisch sind viele von ihnen ja doch nicht. Ich denke, in diesen Milieus, die versuchen, extreme Auswüchse des Kapitalismus zu kritisieren, was Habermas ja auch macht, da könnte Dussel ganz gut sein. Aber dass Dussel zu einer explizit antikapitalistischen Politik oder Theorie Bedeutendes beiträgt, glaube ich nicht, auch wenn er selber sich so wahrnimmt.
Wie steht es um die antikapitalistischen Kämpfe in Lateinamerika und in Mexiko heute?
In Mexiko war ein ganz entscheidender Kampf in den vergangenen Monaten jener der Lehrer. Die Lehrergewerkschaft Mexikos ist die größte des amerikanischen Kontinents und die Regierung versucht, sie zu zerschlagen. Die Antwort darauf ist sehr radikal, mit Straßenblockaden, monatelangen Kämpfen. Ganze Dörfer unterstützen die Lehrer.
Ein für viele Länder Lateinamerikas charakteristischer Kampf gegen neoliberale Maßnahmen?
Ja, aber ich denke, es geht um mehr. Diese Kämpfe gehen auch auf die Mexikanische Revolution zurück. Eine der wichtigsten Folgen war die Öffnung der Bildungsinstitutionen. Diese ist hier mehr ein sozialistisches als ein bürgerliches Projekt wie in Europa, weshalb die Kämpfe um die Schulen und Universitäten hier einen anderen Charakter haben, vor allem auf dem Land. Der einzige, der Kontakt zur Stadt hat, ist der Dorflehrer. Der, der in den indigenen Dörfern, wenn er zweisprachig ist, auch die Brücke zwischen der Indigenen und der spanischen Sprache ist, wobei die Muttersprache dieser Dorflehrer oft nicht das Spanische ist. Insofern ist dieser Streik auch ein antikolonialer Kampf. Es geht um die Zerschlagung einer Struktur, die so eine Art Vermittlungsfunktion hatte zwischen den vorspanischen und der in Mexiko heute dominanten spanischsprachigen Kultur. Und das hat diese »sozialistische Bildung« institutionalisiert. Die radikalsten Kämpfe finden in Guerrero, Oaxaca und Chiapas statt, genau in den drei Staaten, in denen die meisten Indigenen leben. Das ist kein Zufall. Die von der Regierung angestrebte Reform ist Teil des Versuchs, die Kolonialisierung, die ja in Mexiko nie richtig abgeschlossen wurde oder teilweise gescheitert ist, jetzt zu Ende zu bringen. Es geht darum, aus Mexiko endlich eine ordentliche Bananenrepublik zu machen.
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