Ja, tun sie. Jeder Abgeordnete bietet Bürgersprechstunden an – laut unserer Umfrage 6½ Stunden pro Monat. Mit den richtigen Argumenten hast du dort ganz schön viel zu sagen.
Man muss in den Kommentarspalten des Internets nicht lange suchen, bevor man Unterhaltungen wie diese findet: »[Politiker] sollten doch im Interesse der Bürger handeln, machen sie das auch?«, fragt ein Nutzer. Eine andere antwortet: »Unsere Politiker hören nicht zu … Es gibt kaum Möglichkeiten, sich zu äußern … Auch hier wird deaktiviert und zensiert … Die Regierenden nehmen uns nicht wahr …«
Immerhin 31% der Deutschen stimmten laut einer repräsentativen Umfrage im Oktober dieser Aussage voll und ganz zu: »Die meisten Politiker wissen nicht, was im wirklichen Leben los ist.« Dass die Bürger viele Möglichkeiten hätten, auf die Politik Einfluss zu nehmen, fand hingegen nur jeder Vierte.
Sind »die in Berlin« tatsächlich so volksfern, wie diese Zahlen nahelegen? Das kann jeder Bürger selbst herausfinden, indem er den Abgeordneten seines Wahlkreises besucht. In der Bürgersprechstunde, die jeder Parlamentarier anbietet, besteht zumindest die Möglichkeit, seinem Anliegen Gehör zu verschaffen.
Sprechzeiten: 6 1/2 Stunden. Nachfrage: groß
Der durchschnittliche Bundestagsabgeordnete wendet pro Arbeitstag mehr als 1 Stunde für die etwa 277.000 Bürger in seinem Wahlkreis auf – in Sprechstunden, am Telefon, für das Beantworten von E-Mails oder auf Veranstaltungen im Wahlkreis. Sitzungswochen, in denen sich die Parlamentarier komplett in Berlin aufhalten, mit eingerechnet. Abgeordnete, die gleichzeitig ein Amt in Regierung, Fraktion oder Partei bekleiden oder einen Fachausschuss leiten, senken meist den Schnitt – was umgekehrt bedeutet, dass viele Hinterbänkler den Bürgern mehr Zeit einräumen.
Im Schnitt investieren die Abgeordneten nach eigenen Angaben rund 6 1/2 Stunden im Monat in »klassische« Sprechstunden, bei denen Bürger und Parlamentarier sich in einem Raum gegenübersitzen. 3 Mal so lange telefonieren sie mit Bürgern oder beantworten deren Mails.
Diese Erkenntnisse stammen aus einer Umfrage, die Perspective Daily unter allen 299 Wahlkreisabgeordneten mit Direktmandat durchgeführt hat. 55 Abgeordnete aus allen Fraktionen haben geantwortet. Allerdings führen die wenigsten Büros Buch über Sprechzeiten, sodass die Werte meist auf Schätzungen beruhen. Ob alle Abgeordneten tatsächlich so viel Zeit verwenden wie angegeben, wird nicht dokumentiert.
Zweifellos lässt sich festhalten: Die Abgeordneten registrieren großen Gesprächsbedarf aus der Bevölkerung. Jeder Vierte vermeldete eine sehr hohe Nachfrage – auf einer Skala von 1 bis 5, wobei 1 bedeutet, dass das Gesprächsangebot kaum genutzt werde, und 5, dass es sehr häufig genutzt werde, lag der Durchschnitt bei 3,9 (Grafik). Gut jeder zweite Abgeordnete gab an, die Nachfrage der Bürger habe zuletzt weiter zugenommen. Abgenommen habe das Interesse nur bei 7% der Parlamentarier.
Integration, Straßen und viel Persönliches
Die hohe Nachfrage vieler Bürger, mit ihren Abgeordneten ins Gespräch zu kommen, passt zum Gesamteindruck: Deutschland ist nach der »Flüchtlingskrise« und dem damit korrelierenden Aufstieg der AfD politischer geworden. Tatsächlich gibt gut 1/4 der Abgeordneten an, dass auch in ihren Wahlkreisen häufig Geflüchtete zum Thema werden. Immer wieder geht es um politische Megathemen wie Gesundheit, Integration, die Energiewende, innere Sicherheit, Europa oder den Euro. Besonders häufig wurde das Rentensystem in den Sprechstunden thematisiert.
Einige Gespräche drehen sich um regionale und lokale Angelegenheiten wie ÖPNV, Umgehungsstraßen oder örtliche Bauvorhaben. Ein Parlamentarier aus Niedersachsen nennt VW, ein anderer aus Schleswig-Holstein den Nord-Ostsee-Kanal als wiederkehrendes Thema.
Besonders häufig – ein Abgeordneter aus Franken beziffert den Anteil auf 60% – sind jedoch Anliegen nicht staatlicher oder regionaler, sondern persönlicher Natur: Fragen zur Arbeitslosigkeit, sozialen Sicherheit, Mietpreis-Entwicklung oder zur schon erwähnten Rente tauchen immer wieder auf.
Neuer Weg: Bürgersprechstunde per Facebook
Auch in der Sprechstunde von Hubertus Heil, dem stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden und ehemaligen Generalsekretär, werden vor allem persönliche Themen angesprochen. »In letzter Zeit vermischt sich das oft – da kommen Leute mit einem persönlichen Anliegen, die dann aber auch noch irgendetwas zu größeren politischen Fragen mitteilen wollen«, sagt er am Telefon.
Heils Wahlkreis umfasst die beiden niedersächsischen Landkreise Peine und Gifhorn; in beiden Städten betreibt er Büros mit insgesamt 4 Mitarbeitern. 1 bis 2 Mal im Monat lädt er zu mindestens halbstündigen Sprechstunden ein.
Seit Januar testet der 45-Jährige noch ein weiteres Format, »weil sich nicht alle immer in ein Büro bemühen wollen«: Er bietet 1 Mal im Monat eine digitale Bürgersprechstunde über den Echtzeit-Videostream bei Facebook an. Die Facebook Live-Bürgersprechstunde im Februar wurde von über 1.500 Menschen gesehen. »Das hat eine gigantische Reichweite im Vergleich zu den Möglichkeiten, die man sonst an direkter Kommunikation hat«, sagt Hubertus Heil. Einige Fragen kämen schon vorher per E-Mail oder Facebook – aber auch live von den Facebook-Nutzern, sagt Heil: »Da kann man sich dann auch gar nicht wegducken, sondern muss sie live beantworten.« Wenn eine Frage mit Recherche verbunden sei, antworte er im Nachgang.
An den Fragen lasse sich erkennen, dass viele Zuschauer einen Bezug zum Wahlkreis haben: »Wann kommt endlich die Ortsumgehung? Warum ist das Tierheim so furchtbar? Was wird aus der Innenstadt?« Es gehe aber auch schon mal um Martin Schulz oder Donald Trump oder um die etwas trivialere Frage: »Wer wird Dschungelkönig?«
Heil fallen spontan 2–3 weitere Parlamentskollegen ein, die ebenfalls Facebook Live benutzen. Ein öffentlicher Livestream ist jedoch eher eine Ergänzung als ein Ersatz für die klassische Bürgersprechstunde, in der auch persönlichere Anliegen aufkommen. Hubertus Heil benennt einen entscheidenden Vorteil: »Man kann sie von überall machen, egal, ob in Berlin oder Peine oder von unterwegs. Es ist nur wichtig, dass man eine stabile Internetverbindung hat.«
Sprechstunde mit Reichsbürgern
Ein Video bei Facebook anklicken ist das eine – einen Termin vereinbaren und zum Abgeordnetenbüro fahren, verlangt den Bürgern mehr Eigeninitiative ab. Erreicht man mit Bürgersprechstunden auch eher politikferne Menschen? Also die »Die in Berlin hören uns nicht zu«-Sager?
Ich mache mir nichts vor: Die Mehrheit der Menschen würde, wenn sie ein Problem haben, nicht sofort in ein Abgeordnetenbüro gehen. Trotzdem bin ich froh, dass sehr unterschiedliche Menschen zu uns kommen; dass das nicht nur eine informierte Bildungsschicht ist, sondern dass die Fälle hier so bunt sind, wie man sich die Lebenslagen so vorstellen mag im Leben.– Hubertus Heil
Manchmal, sagt Heil, kämen recht schwierige Menschen – »da muss man aufpassen, dass man Leute nicht abstempelt, weil sie ein bisschen ungelenk auftreten.« In seltenen Fällen kämen Menschen mit Verschwörungstheorien im Gepäck. In den vergangenen Jahren, schätzt Hubertus Heil, waren auch 4–5 Reichsbürger in seiner Sprechstunde. Er vermutet: »Vielleicht ziehen Abgeordnete solche besonderen Persönlichkeiten auch noch ein bisschen mehr an, als es sie tatsächlich im Leben gibt.«
Für Abgeordnete gilt, egal, ob sie Befürworter der Ortsumgehung sind oder einen Reichsbürger vor sich sitzen haben: Sie müssen einzelne Anliegen mit dem Gemeinwohl abwägen. »Es ist ja nicht so, dass wir im Bundestag Weisungsgebundene von Plebisziten, also Volksabstimmungen, sind, sondern wir haben in einer repräsentativen Demokratie ein Mandat«, sagt Hubertus Heil. Abgeordnete nehmen zwar Anregungen aus ihrem Wahlkreis auf, wurden letztendlich aber gewählt, damit sie mit Haltung und Verantwortungsbewusstsein frei abstimmen. »Man soll als Abgeordneter nicht so tun, als könne man alles vertreten, das geht nicht.«
Der Abgeordnete als »Transmissionsriemen«
Dazu kommt noch, dass einige Themen so speziell sind, dass kein einzelner Abgeordneter alle von ihnen durchdringen kann. Niemand ist gleichzeitig Fachmann für die Erbschaftssteuer, EU-Saatgut-Verordnungen und Fluglizenzen für private Drohnen – aber alle 3 Themen wurden in dieser Legislaturperiode im Bundestag debattiert. Hubertus Heil sagt: »Da ist man als Abgeordneter, der nicht in allen Fällen tief drin sein kann, im Wesentlichen so etwas wie ein Transmissionsriemen von den Vorstellungen der Bürgerinnen und Bürger zu den Fachpolitikern.«
Diesen Effekt nutzen Aktionsbündnisse wie zum Beispiel Campact, um Einfluss zu nehmen: Sie halten vorformulierte Mails mit Forderungen und Argumenten zu verschiedenen Themen bereit, die Sympathisanten dann ganz einfach an ihre Abgeordneten schicken können. In seinen Anfängen 2009 veröffentlichte das Watchblog Netzpolitik.org sogar eine Kurzanleitung, wie man seinen Abgeordneten am besten kontaktiert. Per Post oder Fax sei besser, als einen vorformulierten Text per Mail zu verschicken – schließlich müsse man das Papier in die Hand nehmen und es gebe keine Spamfilter.
In der Regel ist es bei solchen Massenbriefen so, dass man auch nur mit Standardmails antworten kann, weil man erspürt, dass es kein individuelles Anliegen ist, sondern eine Kampagne. Das ist legitim – nicht nur legal, sondern auch legitim – um deutlich zu machen, dass hinter einem Anliegen sehr viele Menschen stecken.– Hubertus Heil
Kann der Kontakt zu Abgeordneten eine politische Wende herbeiführen? Ja, das geht. Wie effektiv eine engagierte Kampagne sein kann, hat sich 2009 gezeigt.
Wie die Paintballer ihren Sport retteten
Am 11. März 2009 betrat ein schwerbewaffneter 17-Jähriger die Albertville-Realschule im schwäbischen Winnenden. Er tötete 15 Menschen und danach sich selbst. Deutschland fragte sich, warum und wie so etwas geschehen konnte. Da auf dem Rechner des Amokläufers Egoshooter-Spiele installiert waren, war eine Debatte zum Verbot von Killerspielen entbrannt – oder wenigstens von analogen »Tötungssimulationen«, zu denen Spiele wie Paintball oder Lasertag gelegentlich erklärt wurden.
Die schwarz-rote Bundesregierung formulierte rasch ein Verbot von Paintball. »Wir waren ziemlich überrascht, dass jemand auf die Idee gekommen ist, da eine Verknüpfung zu ziehen«, sagt der Geschäftsführer der Deutschen Paintball Liga, Arne Petry, heute. »Der Amokläufer von Winnenden hat nie Paintball gespielt, das hätte er eh erst mit 18 gedurft.«
Petry, selbst studierter Medienmanager, leitet unter anderem eine Firma, mit der er Marketing für verschiedene Paintball-Felder betreibt. Heute beschäftigt Arne Petry etwa 45 Menschen – in der gesamten Branche bedrohe ein Verbot nach seinen Angaben mehrere hundert Jobs. Als die Nachricht vom Gesetzentwurf die Runde machte, initiierte Petry mit seinem Verband eine Kampagne mit geringen Mitteln: »Wir hatten weniger als 20.000 Euro zur Verfügung. Ich selbst habe eine Zeit lang nur 2 Stunden pro Nacht geschlafen und bin durch ganz Deutschland gekurvt.«
Petry und viele weitere Mitstreiter aus der Deutschen Paintball Liga – die laut seinen Angaben zurzeit etwa 3.000 Mitglieder in 450 Teams zählt – sind erst mit Massenmails, später zunehmend mit persönlicheren Anfragen an Bundestagsabgeordnete herangetreten. Ihr Ziel: »Wenn sie entscheiden, sollen sie sich zumindest informieren, worüber sie Entscheidungen treffen.« Wie gesagt: Abgeordnete funktionieren auch als Transmissionsriemen zwischen Wahlkreis und Fachpolitikern.
Über ein Forum hielten sich die Paintballer gegenseitig auf dem Laufenden. Die oft geäußerte Erkenntnis: Im persönlichen Gespräch in der Bürgersprechstunde kommt die Nachricht am besten an. Häufig werde erst auf diese Weise klar, zitiert ein saarländischer Paintballer im Forum eine Abgeordnete, dass die Sportler »ganz normale Menschen sind und keine wild gewordenen Militaristen, die durch den Wald robben.«
Eine Abgeordnete, die sein Paintball-Feld besuchte, habe sich nach wenigen Minuten für ihr martialisches Bild der Sportart geschämt, sagt Petry: »Viele Politiker haben vor Ort ihre Vorurteile abgebaut, als sie uns gesehen haben. Bei uns trainieren Bundesliga-Mannschaften, die Damenmannschaft hat sich gerade auf die EM vorbereitet, auf dem Platz sind manchmal Junggesellenabschiede in Hasenkostümen. Und wir brauchen als Betreiber selbst eine Waffenhandels-Lizenz von der IHK.« In anderen Ländern sei Paintball wesentlich schwächer reguliert – in Belgien genüge selbst für 12-Jährige eine kurze Einweisung.
Die Kampagne zeigte Wirkung: Die Öffentlichkeit stand Paintball im Laufe der Zeit zunehmend aufgeschlossen gegenüber, die Politik wischte das Verbot vom Tisch. Arne Petry sagt: »Im Rückblick ist es toll, dass wir mit so wenig finanzieller Power Medien und Abgeordnete davon überzeugt haben, dass sie einen falschen Weg eingeschlagen haben.«
Abgeordnete treffen heißt Demokratie leben
Das gekippte Paintball-Verbot zeigt, wie viel es bringen kann, auf seine Abgeordneten zuzugehen. Natürlich braucht es viel Koordination und Ausdauer, um ein ganzes Gesetz zu stoppen – es ist aber nicht unmöglich.
Es gibt effizientere Orte als Kommentarspalten, um die politische Sichtweise anzubringen. Und in einer repräsentativen Demokratie gibt es für politisch Interessierte sicher mehr Möglichkeiten, als nur alle 4 Jahre ein Kreuzchen zu machen. Bei einer Demonstration mitzumachen, sendet ein quantitatives Zeichen – die größten Anliegen in die Bürgersprechstunde mitzunehmen, ein qualitatives. Beide Formen der politischen Willensäußerung sind wichtig. Aus demselben Grund, aus dem man auch einen Fahrraddiebstahl, der eh nicht aufgeklärt wird, zur Anzeige bringen soll: Erst wenn man seine Meinung an der geeigneten Stelle ausspricht, fließt sie ins »System« ein und wird nicht zu einer Dunkelziffer.
Die Bürgersprechstunde ist für Themen verschiedener Größenordnung der richtige Ort – hier treffen Volk und Vertreter persönlich aufeinander und können Anliegen in Ruhe besprechen. Und tendenziell kann jedes konstruktiv geführte Gespräch in die Beurteilung vor einer Abstimmung im Bundestag einfließen.
Jeder Abgeordnete setzt sich 1 Stunde am Tag mit den Belangen der Menschen in seinem Wahlkreis auseinander. Egal, ob du das für ausreichend oder für zu wenig hältst: Du kannst einen Teil dieser Zeit in Anspruch nehmen und mit dem Thema füllen, das du wichtig findest. Das bringt in jedem Fall mehr, als über »die da in Berlin« zu schimpfen.
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