Frau Kader-Tjijenda, wie verändert die Pandemie Partnerschaften?
KADER-TJIJENDA Ich erlebe zwei Kategorien von Paaren. Für die einen ist alles zu viel — Kinderbetreuung, Homeoffice, kein Sport als Ausgleich und Freunde kann man auch nicht treffen. Das macht viele unzufrieden und dieser Zustand wirkt sich auf die Beziehung aus. Dann gibt es die, die froh sind, dass alles ruhiger und entspannter geworden ist. Das sind zum Beispiel Pendler, die jeden Tag drei Stunden im Auto sitzen, Menschen, die ständig auf Dienstreise sind oder die ein aktives soziales Leben haben und Verabredungen sonst nur schweren Herzens absagen können. Das fällt jetzt alles weg und sie sind froh, die Zeit für sich selbst und mit ihrem Partner nutzen zu können.
Haben diese Paare zurzeit mehr Sex?
KADER-TJIJENDA Ja, sie genießen die Zweisamkeit und haben endlich die nötige Zeit dafür. Ein wichtiger Faktor beim Sex ist Entspannung, und die ist für diese Paare jetzt da. Wiederum möchten Menschen, die das Gefühl haben, keine Minute für sich zu haben und nicht atmen zu können, ihrem Partner nicht auch noch nahe sein. Sie brauchen Zeit für sich alleine, auch wenn sie sich nur eine Stunde alleine aufs Sofa legen.
Dabei würde uns mehr Sex jetzt gut tun, oder nicht?
KADER-TJIJENDA Was dem Menschen grundsätzlich gut tut, sind Berührungen. Das sieht man besonders bei Säuglingen, die intensiven Körperkontakt genau so brauchen wie Nahrung. Bei Erwachsenen ist das nicht anders. Wir können dann zwar besser damit umgehen, sie nicht zu bekommen, aber das Bedürfnis ist nach wie vor da. Nähe beruhigt unser Nervensystem und baut Stresshormone ab, das hilft in dieser ungewissen Zeit. Auch Sexualität kann uns als Lebens- und Energiequelle ausgeglichener und entspannter machen. Aber nur, wenn wir uns darauf einlassen können. Bei schwerwiegenden Problemen hilft Sex auch nicht weiter.
Was raten sie Paaren, die mit ihrem Sexleben unzufrieden sind?
KADER-TJIJENDA Ich arbeite mit meinen Paaren nicht anders als vor der Pandemie. Kommt ein Paar zu mir, gucken wir uns zuerst immer die Wurzel des Problems an. Von da aus geht man dann los und schaut, welche Schritte dieses Problem auflösen. Oder ob das Problem ein Symptom der Beziehung ist. Wenn zum Beispiel der eine mehr Sex möchte als der andere, hat das in jeder Partnerschaft einen anderen Ursprung, dem man erst mal auf den Grund gehen muss. Dabei hilft es, ehrlich zu sich selbst und seinem Partner.
Sprechen wir immer noch nicht offen genug über Sex?
KADER-TJIJENDA Wir reden unheimlich viel über Sex, aber viel zu selten über unseren eigenen. In vielen Beziehungen gibt es eine unglaubliche Sprachlosigkeit. Einerseits, weil wir uns selber erst einmal kennen lernen und herausfinden müssen, was uns gefällt. Andererseits, weil wir nicht die richtige Sprache gelernt haben und keine Wörter dafür finden, unsere eigene Sexualität auszudrücken. Das fängt ganz früh an, weil wir unseren Kindern nicht das richtige Vokabular beibringen.
Holt uns das jetzt ein?
KADER-TJIJENDA Diese Probleme gab es auch vor Corona schon. Sie werden jetzt nur sehr viel deutlicher, weil es weniger Ablenkungsmöglichkeiten gibt. Man kann nicht mehr weglaufen und muss sich damit auseinandersetzen.
Wie können wir lernen, über unseren eigenen Sex zu sprechen?
KADER-TJIJENDA Viele wissen gar nicht, was sie wollen oder welche es Möglichkeiten gibt. Das sollte jeder am besten erst einmal für sich herausfinden. Wenn die Menschen anfangen zu suchen, landen sie allerdings oft bei Sexspielzeug oder Pornos. Meiner Meinung nach kratzt das an der Oberfläche, denn letztendlich muss man erst wissen, welche Berührungen man mag und welche nicht. Das ist hoch anspruchsvoll und viel schwieriger herauszufinden, als sich sein Sexspielzeug zu kaufen. Dann braucht es den Entschluss, seine Schamgrenze zu überwinden und offen mit seinem Partner zu sein. Das ist kein einfacher Schritt, vor allem, wenn wir uns mit unseren Vorlieben und Wünschen unnormal oder komisch vorkommen. Und es kann sein, dass der Partner total überrascht oder überrumpelt ist, weil er gar nicht ahnen konnte, wie wir uns fühlen. In Sachen Sexualität wird ja auch viel geschauspielert. Deswegen sollten wir milde mit uns sein. Es ist normal, dass wir peinlich berührt oder verschämt sind. Das ist eben kein Thema, über das wir locker reden können.
Und wie kann man herausfinden, was einem gefällt?
KADER-TJIJENDA Dabei helfen kann Selbstbefriedigung, oder Selbstliebe, wie ich es nenne. Das ist immer noch ein Tabu-Thema, insbesondere in Beziehungen. Viele denken, dass ihnen der Partner genügen muss oder dass Selbstbefriedigung eine Notlösung für Singles ist. Es ist immer noch viel Negativität mit im Spiel, die gar nicht dahin gehört. Selbstbefriedigung ist letztendlich nur ein anderer Zweig der Sexualität, bei dem man sich ohne Druck und Anspannung selber kennen lernen kann. Und zu wissen, was man möchte, ist die beste Voraussetzung für guten Paarsex. Beim Sex mit seinem Partner ist es hilfreich, wenn man experimentierfreudig und offen sein kann. Dinge ausprobieren, die man mal gehört oder gesehen hat. Und sich dann die Frage stellen: ‚Ist das was für uns oder nicht?‘ Dazu gehört auch eine gewisse Fehlerfreundlichkeit, also die Sache mit Leichtigkeit und Humor anzugehen. Wenn ich den Druck verspüre, dass ich es ganz toll oder erregend finden muss, was mein Partner macht, geht das mit großer Sicherheit in die Hose.
Ist es für Frauen schwieriger, ihre Wünsche auszudrücken?
KADER-TJIJENDA Dieses Bild der lustlosen Frau und dem Mann, der immer will, kann ich aus der Praxis nicht bestätigen. Es gibt Männer, die keine Lust auf Sex haben und nicht wissen, was ihnen gefällt, und es gibt Frauen, die wahnsinnig gut über sich Bescheid wissen und gerne Sex haben. Ich sehe aber häufig noch, dass viele Männer mit einer selbstbewussten Frau, die beim Sex genau weiß, was sie will, nicht umgehen können. Nach meiner Einschätzung hält es sich ungefähr die Waage.
Glauben Sie, dass wir im nächsten Jahr mehr Corona-Babys haben werden?
KADER-TJIJENDA Ich glaube nicht, dass Corona viel daran ändert, um ehrlich zu sein. Paare, die sich schon lange ein Kind wünschen, werden es weiterhin versuchen, schwanger zu werden. Und Paare, die keines wollen, wissen hoffentlich, wie man das verhindert.