Er trifft sie auf einer Party, folgt ihr nach Hause, beobachtet sie, verliebt sich. Sie konfrontiert ihn, lernt ihn kennen – und gibt ihm eine Chance. Als Freund.
Fabi* kennt Lisa* länger als Lisa Fabi. Als er sie zum ersten Mal ausgelassen tanzend auf einer Party sieht, ist er hingerissen. Außergewöhnlich sieht sie aus mit ihren langen schwarzen Haaren, den Sommersprossen und dem knallbunten Kleidchen. Ein bisschen wie Pipi Langstrumpf. Er beobachtet sie die ganze Nacht, traut sich aber nicht, sie anzusprechen. Unauffällig folgt er ihr nach Hause. Er merkt sich ihre Adresse in dem großen roten Haus. Als im obersten Stockwerk das Licht angeht, weiß er, welches Klingelschild zu ihrer Wohnung gehört.
Er tippt ihren Nachnamen in die Facebooksuche ein und findet das passende Profil. Stück für Stück puzzelt er sich Lisas Leben zusammen: Sie ist 24 Jahre alt, kommt aus einem kleinen Dorf in Süddeutschland, studiert Sozialwissenschaften und schreibt an ihrer Masterarbeit. Sie scheint viel unterwegs zu sein, postet regelmäßig Bilder aus Indien, Laos und Nepal. Sie geht wandern, zeichnet ab und zu und engagiert sich ehrenamtlich bei Amnesty International. Sie liest gesellschaftskritische Literatur, Thoreau, Orwell und Huxley. Und sie hört am liebsten Goa. Fabi ruft alle anstehenden Goa-Partys der Stadt auf und klickt sich durch die Teilnahmelisten.
Eine Woche später. Fabi steht angespannt vor einem Club, aus dem laute Musik dröhnt. Er weiß nicht, was ihn erwartet, und eigentlich hasst er . Er zahlt den Eintritt und sucht in der schwitzenden Menschenmasse nach dem Mädchen mit den bunten Klamotten und den Holzperlen im Haar. Sie ist nicht da, auch nach fünf Stunden nicht. Enttäuscht geht er am Morgen heim. Er versucht es wieder und erfährt über die Teilnahmelisten, welche Partys und Veranstaltungen sie besuchen wird.
Drei Monate später. "Hi Lisa, ich heiße Fabi", stellt er sich ihr an einem Samstagabend in einer Bar vor. "Hi, kennen wir uns?", fragt sie den Mann, der schüchtern wirkt, aber nett. "Du kennst mich nicht, aber ich dich. Ich bin dein Stalker", sagt er.
Heute. Eingemummelt in Fleecedecken sprechen Fabi und Lisa im Außenbereich eines Cafés über Martin Schulz, Rechtsradikalismus und die Luhmann-Habermas-Debatte der frühen siebziger Jahre. Wenn Lisa sich hitzig über Deutschland beschwert, bleibt Fabi ruhig und hört ihr lächelnd zu. Er weiß, dass sie sich schnell in Rage redet. Wenn Fabi zögert und die richtigen Worte nicht findet, hilft ihm Lisa auf die Sprünge. Sie weiß, dass er lieber denkt als redet. Ihr Verhältnis wirkt vertraut, wie das zweier Freunde, die sich schon in der Schule das Pausenbrot geteilt haben.
"Als er sich als mein Stalker vorstellte, habe ich ihn nicht ernst genommen. Ich habe gelacht, weil ich dachte, dass es witzig sein sollte. Eine Art überspitzter Anmachspruch, weil er mich gut findet", sagt Lisa über die erste Begegnung mit Fabi in der Bar. Sie merkt, wie aufgeregt er ist und wie viel Überwindung es ihn gekostet haben muss, sie anzusprechen. Lisa stellt sich vor und sie unterhalten sich kurz über den schlechten DJ und die zu kleine Tanzfläche. Es ist schon spät und eigentlich möchte sie ins Bett. Trotzdem nimmt sie sich Zeit, sagt ihm, dass sie schon vergeben ist und dass ihr Freund auf sie wartet. Dass es sie sehr freut, ihn kennenzulernen und dass man sich bestimmt noch mal sieht, auf der nächsten Party oder so. "Ich habe mich verabschiedet und die Situation schnell wieder vergessen", sagt Lisa.
"Ich war sofort verliebt in sie", sagt Fabi, klein und hager, nachdenkliches Gesicht mit großen Augen, "und ich dachte, sie könnte sich vielleicht auch in mich verlieben." In der Bar hatte er sie das erste Mal alleine angetroffen und es endlich geschafft, seinen Mut zusammenzunehmen. "Ich war sehr angespannt. Doch als wir uns endlich unterhielten, war es einfach. Das Gefühl kannte ich nicht." Fabi fällt es schwer, sich zu unterhalten, vor allem mit Frauen: "Eine Frau anzusprechen kostet mich immer 'ne Menge Überwindung. Sie hat mich dafür wertgeschätzt und nicht wie einen Idioten dastehen lassen." Dass sie einen Freund hat, stört ihn, so richtig wahrhaben möchte er es nicht. "Ich konnte sie mir nicht aus dem Kopf schlagen. Ich war wie besessen von ihr", sagt Fabi.
Er schreibt ihr Nachrichten bei , erst nur ein paar, dann werden es immer mehr. Lisa ist genervt und versucht, ihn zu ignorieren. "Zu Beginn habe ich geantwortet und bin auf seine Fragen eingegangen. Irgendwann wurde es mir zu viel", sagt sie. Dass sie nicht mehr antwortet und in keiner Facebook-Teilnahmeliste mehr zu finden ist, treibt ihn in den Wahnsinn.
Einige ihrer Freunde kennt er oberflächlich. Um mehr über Lisa zu erfahren, sucht er sie auf und fragt nach ihr, immer möglichst so, dass es noch nach gesundem Interesse aussieht. Ihre Freunde reagieren ein wenig verwundert, geben ihm aber die gewünschten Informationen. In einem Gespräch bekommt er beiläufig mit, dass ihre Freunde zu einem Goa-Festival nach Hamburg fahren. Er fragt, wer alles mitkommen wird. Als Lisa Name fällt, weiß er, wo er vom 23. bis zum 27. August sein wird. Er nimmt sich Urlaub und bestellt ein Ticket.
In Deutschland werden pro Jahr ungefähr 20.000 Menschen gestalkt, 80 Prozent der Opfer sind Frauen, drei Viertel der Täter sind männlich. Es gibt verschiedene Arten von Stalking, die verschiedene Beweggründe haben. Zu den Tätertypen gehören der wütende Stalker, der sein Opfer quält und ängstigt, der habgierige Stalker, der sich auf einen sexuellen Übergriff vorbereitet, und der zurückgewiesene Stalker, der eine Beziehung zu einer ehemaligen Intimpartnerin aufbauen möchte, indem er sie belästigt.
Fabi ist weder wütend noch habgierig, Fabi ist verliebt. Er gehört zu den Intimität begehrenden Stalkern, die versuchen, eine Liebesbeziehung zu der Traumpartnerin aufzubauen. Er bildet sich ein, dass er Lisa liebt und dass sie dies auch tut, wenn nicht jetzt, dann irgendwann. Diese Art von Stalking nennt man auch Liebeswahn oder Erotomanie.
Das Festivalgelände ist riesig, Fabi ist nervös. Was, wenn er sie nicht findet? Oder wenn sie doch nicht da ist, weil sie krank geworden ist? Was, wenn ihr Freund dabei ist? Am Abend sieht er sie endlich am Lagerfeuer sitzend, sie lacht so schön und auf einmal sind alle Zweifel fort. Weil sie nicht wissen soll, dass er auch da ist, beobachtet er sie von weitem und folgt ihr über das Festivalgelände, drei Tage lang. Was er nicht ahnt: Sie hat ihn längst bemerkt.
"Es war komisch", erzählt Lisa, "ich habe gespürt, dass ich beobachtet werde, wusste aber nicht, von wem. Irgendwann erkannte ich das Augenpaar, das mich verfolgte. Mein Stalker war da." Er fährt 400 Kilometer weit, nur um sie zu sehen; das ist mehr als eine kleine Schwärmerei, wird ihr klar. Sie hat einen Stalker, so wie im Fernsehen beim Tatort oder anderen Krimiserien.
Konfrontieren soll man nicht, das hatte sie vor kurzem gegoogelt, den Stalker aushungern soll man – oder die Polizei rufen. Schwierig auf einem Festival, denkt Lisa, und entscheidet sich für Konfrontation.
Sie geht auf Fabi zu, er lächelt. "Was möchtest du von mir?", fragt sie. Sie ist böse, das hört er an ihrer Stimmlage. Mit dieser Reaktion hat er nicht gerechnet. Fabi ist sprachlos, weiß nicht, was er antworten soll. Er stammelt vor sich hin, sagt Worte wie "vermisst" und "verliebt". Lisa merkt, wie unsicher er ist. Sie bekommt Mitleid und fragt wieder nach, dieses Mal behutsam und ruhig: "Also, was machst du hier?" "Ich bin wegen dir hier", sagt er und guckt verlegen auf den Boden.
Aus der vermeintlichen Konfrontation wird eine lange Unterhaltung. Sie erfährt, dass er schon mit 16 eine Freundin hatte, mit der er nach der Schule direkt zusammengezogen ist. Nach zehn Jahren hat sie Schluss gemacht und er ist zu seinen Eltern zurückgezogen. In den zehn Jahren hat er sich weder um Freunde noch Bekanntschaften gekümmert und ist jetzt immer allein. An den Wochenenden freut er sich, wenn sein Neffe ihn besuchen kommt. Wenn nicht, sitzt er vor dem Computer, zockt, surft, chattet. Manchmal guckt er fern oder liest ein Buch.
Dass er an dem Abend damals auf die Party gegangen ist, wo er sie das erste Mal sah, war Zufall, ein Arbeitskollege hatte ihn eingeladen. Den größten Teil des Abends verbringt er mit einem Bier in der Hand an der Bar, zu schüchtern zum Tanzen und Unterhalten. Er erinnert sich an die Gesichter der Menschen auf dieser Party, arrogant und herablassend starren sie ihn an, als ob sie seine Unsicherheit riechen konnten. Er erinnert sich, dass ihr Gesicht anders war. Es strahlte Wärme und Freundlichkeit aus und es gab ihm Sicherheit. Es war das erste Gesicht, das ihn nicht einschüchterte, sondern ermutigte.
Fabi erzählt ihr, dass er seitdem süchtig ist nach ihr und sie regelmäßig sehen muss. Dass er sie schon seit Monaten beobachtet und manchmal vor ihrer Haustür auf sie wartet. Das Stalken gibt seinem Leben einen Sinn, sagt er.
Lisa hört zu und merkt, dass er sich lange nicht unterhalten hat. Nicht so oberflächlich wie mit Mama, Papa und Arbeitskollegen, sondern eine richtige Unterhaltung, eine, in der man so ehrlich ist, dass man auch alles verlieren könnte. Sie merkt auch, dass er sein Handeln weder verharmlost noch rechtfertigt. Zwischen grölenden Besoffenen und viel zu lauten Goa-Bässen gibt er ihr seine ganze, hässliche Wahrheit.
"Er war so entwaffnend verletzlich. Und ehrlich", sagt Lisa, "ich mochte ihn." Sie macht ihm einen Vorschlag: Sie werde sich mit ihm treffen, wenn er aufhöre, sie zu stalken.
Dass Lisa so viel Empathie für ihren Stalker hat, liegt an ihrer Vergangenheit: "In meiner Schulzeit hatte ich kaum Freunde und habe mich häufig gefragt, was ich falsch mache. Das zerrt am Selbstwertgefühl", sagt sie. "Ich musste Freundschaft erst erleben, um zu wissen, dass mit mir alles in Ordnung ist, und dass es lange dauert, gute Freunde zu finden. Ich wollte ihm diese Möglichkeit geben." Fabi gefällt ihre Idee und stimmt ihr zu. "Ich muss nicht mehr darauf hoffen, dass sie kommt. Ich weiß es sicher."
Auf das erste Treffen freut sich Fabi. Sie gehen spazieren, füttern Enten und unterhalten sich über Bücher, Musik und Partys. Er fühlt sich sicher und erzählt viel. Lisa ist erstaunt über den schüchternen Mann, in dem so viel steckt, von dem niemand weiß. "Ich konnte gar nicht verstehen, warum er keine Freunde hatte. Er war belesen, interessierte sich für Politik und Soziologie, hatte schöne und komplexe Gedanken in seinem Kopf, über die er mit niemandem reden konnte. Er brauchte keine Beziehung, er brauchte Freunde", sagt Lisa.
Sie hatte Recht", sagt Fabi, "das war mir zu dem Zeitpunkt nicht bewusst. Ich wusste nicht, wie eine Freundschaft funktioniert, und dass sie genauso wichtig ist wie eine Liebesbeziehung. Vielleicht sogar wichtiger."
Lisa und Fabi treffen sich regelmäßig. Mit der Zeit entwickelt sich eine Freundschaft, die Fabi mutiger und selbstsicherer macht, und die dazu führt, dass er nicht jedes Wochenende vor dem Computer verbringt, sondern hin und wieder mit Lisa und ihren Freunden. Das fällt ihm schwer, vor allem die Unterhaltungen mit Menschen, die er nicht gut kennt: "Ich muss noch lernen, meine Gedanken zu formulieren und mitzuteilen", sagt Fabi.
Nach wie vor redet er nicht viel, aber er fühlt sich nicht mehr fehl am Platz. Er arbeitet daran, auch andere Freundschaften aufzubauen, zu seinen Kollegen zum Beispiel. Das hat Lisa ihm geraten. "Ich weiß nicht, ob wir für immer befreundet sein werden. Aber ich weiß, dass ich ihm die Chance gegeben habe, die ich damals auch bekommen habe", sagt sie.
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