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Feature

Die vergesse Stadt

Da stehen wir und freuen uns wie die Schneekönige. Am Laternenmast vor uns klebt es laut und deutlich: „Besorgter Bürger [m], der, -n, -s; Subjekt mit beschränktem Horizont und Hang zum Brandstiften, der bevorzugt „spaziert“, um seine rassistische Ideologie zu verbreiten. Siehe auch Nazi.“ Konstantin hat es geschrieben und alle gemeinsam haben sie damit die Stadt verziert. Jetzt klebt es da als mahnende Erinnerung, aber hier und da zeigt es Spuren des Vergessens, die Wörter „Besorgter Bürger“ sind verblasst. Für uns macht das keinen Unterschied. Es ist der perfekte Abschluss unserer Reise. 


Konstantin ist ein Vorzeigeschüler. Er ist reflektiert, engagiert, Herausgeber der Schülerzeitung. Das Rutheneum oder Goethe-Gymnasium ist eine gute Schule, über 400 Jahre alt und mit musikalischem Schwerpunkt, eine der besseren Schulen hier in der Umgebung. 1997 geboren, fast 10 Jahre nach der Wende, da spürt man nichts mehr von der DDR, höchstens ein paar Nachwehen. Sehen aber kann die Spuren der Wende, er sieht sie in den Rissen der Häuser in Gera, in den leergefegten Einkaufstraßen, in den leerstehenden Häusern. Die Mühe ein „Zu Vermieten“ oder „Zu Verkaufen“-Schild in die öden Schaufenster zu hängen, macht sich hier niemand mehr. Hören kann Konstantin die Nachwehen in den Sätzen seiner Mutter, wenn sie vom starken Zusammenhalt der Nachbarn in der DDR spricht. „Heute ist davon nichts mehr übrig“, sagt sie dann. „Die Leute sind sich gegenseitig neidig, wenn sie mal überhaupt was haben und gehen wenig raus. Aber es gibt hier auch nichts. Arbeit schon gar nicht.“ Und dann kamen 2015 auch noch die Flüchtlinge und die AfD. Konstantin ließ Gera hinter sich, zog nach Salzburg und tschüss. 


Stau. Wien zeigt sich Freitag Nachmittag von seiner besten Seite als wir es verlassen. Dass wir überhaupt im Auto sitzen, war bis vor ein paar Tagen noch unsicher. Sechs Stunden Autofahrt nach Gera, kaum Budget in der Tasche und Konstantin kennen wir nur über Facebook. Aber da ist was, es fühlt sich irgendwie nach ETWAS an.  Es war dieser Satz „Ich habe mit Gera gebrochen“ der uns neugierig macht. Die rote Jacke am Linzer Hauptbahnhof fällt im Gewusel sofort auf. Ganz im Gegenteil zu dem jungen Mann, der drinsteckt. Die blonden Haare stehen wuschelig ab, die langen stacksigen Füße bewegen sich schnell und gazellenhaft durch die Menge, die Harry-Potter-Brille auf der Nase. Nach 20 Minuten gemeinsam im Auto merken wir sofort, Konstantin haut raus, schmeißt mit Zitaten von Adorno und Stefan Zweig um sich, weiß alles über Geschichte, verbindet die Fußball WM mit dem deutschen Nationalstolz, ALTER. Zehn Jahre jünger als wir, 50 Jahre klüger. Rasch wurde er zu unserem Privatlehrer in Sachen Afd, deutsche Geschichte, Ost-Westdeutsche Beziehung. Keine Frage, auf die er keine Antwort wusste. Wir sitzen da, hören zu, sind baff. Genau das wollten wir. Nach Gera fahren und uns Gera erklären lassen, von einem, der da aufwuchs. Wir wollten nach Ostdeutschland, wo der Rassismus so gesellschaftsfähig und der Fremdenhass so offen auf der Straße aus den Kehlen gebrüllt wird, weil wir aus einem Land kommen, wo das erste gleich ist, aber das mit dem Rausbrüllen noch hinter verschlossenen Türen stattfindet. In Österreich legt man eben noch Wert auf gepflegten Alltagsrassismus, da brauchen die Nazis nicht brüllen, da sitzt der Rassismus tiefer, ist enger mit der Bevölkerung verwurzelt, sagt Konstantin. Hier werden sie akzeptiert und gewählt. Aber das darf man nicht laut sagen, schon gar nicht in der LÜGENPRESSE oder in den Systemmedien, wie Björn Höcke sie nennt, schreiben. 


Konstantin war nie politisch. Mit seinen 21 Jahren hatte er dafür nicht SO viel Zeit.  Bis vor knapp zwei Jahren die Flüchtlinge kamen, da ist es eng geworden auf Geras Straßen. Aufmärsche mit Schilder und Schreien „Wir sind das Volk“, die Anhänger der Pegida oder Thürgida, wie sie sich hier in Thüringen nennen, soviel Zugehörigkeit muss sein. „Bis zu 2000 Leute waren da“, erzählt Konstantin. Wie sie oben auf der Kirchentreppe gestanden haben, er und seine Schulkollegen, unten wie eine Lawine die Neonazis vorbeiziehen sehen. Oder wie er und drei Freunde am Platz vor dem Kultur- und Kongresszentrum Geras – ein semmelbrauner Betonbunker, ein Paradebauwerk der DDR und heute ein übergroßer Pickel in Geras Altstadt – wie sie da standen, vier 17-jährige gegen 200 Rechtsradikale. „Volksverräter“ spuckte man ihnen ins Gesicht. Die Situation in Geras Einkaufszentrum, den Arkaden, HOTSPOT der Jugendlichen, da wurde es auch schon unangenehm. Die Tasche von Konstantin ist komisch aufgefallen, Anti-Freiwild, das muss man mögen. Der eine Typ da mochte sie nicht. Die Rollentreppenfahrt wie ein zähes Gummiband, gespannte Stimmung, reißt sie oder nicht. Dieser Typ verfolgt Konstantin mit wachsamen Augen, mach’ nur EINE falsche Bewegung sagen sie, bis Konstantin unten angekommen ist und weg, aus den Augen aus dem Sinn. Glück gehabt, keine Schläge. Die gab es nie. Aber die Angst im Kopf reicht auch. Es sind Orte, an denen uns Konstantin später noch vorbei führen wird. Bedeutungsschwere Orte für ihn, Beweise, warum er nicht mehr da wohnt, sondern 500 km weit entfernt. Orte, die für den Rest nichtssagend und unbekannt waren, aber sie hatten ihren FAME, so voller Neonazis und die Presse und die Welt auf Ostdeutschland und die brennenden Flüchtlingsheime schaute. Davor vergessen und heute wieder, verlassen sowieso, das ist Gera. 


Es ist spät, als wir in Gera ankommen. Konstantins Mutter wohnt nicht direkt in der Stadt, sondern etwas außerhalb, eine flache Reihenhaussiedlung hinter einem Einkaufszentrum, das ist unser Ziel. Ehemalige DDR im Randbezirk von Gera, früher in den 80ern waren hier noch Textilarbeitern und Uranbergwerker untergebracht. Früher als Gera noch Bezirkshauptstadt und bedeutend war. Konstantins Mutter hat mit Senfbraten auf uns gewartet, eine Spezialität aus Thüringen. Es schmeckt herrlich, zart, senfig, ein wohliges Gefühl, es schmeckt nach nach Hause gekommen. Spätestens als die zweite Portion Fleisch auf den Teller geklatscht wird, fühlt man sich wie am mütterlichen Küchentisch. Mama Bettina erzählt von früher. Wir lauschen und vergleichen die Geschichten mit jenen unserer Eltern, die haben auch immer von der DDR erzählt, aber eben nur aus zweiter oder dritter Hand, was man eben so HÖRT. Jetzt erzählt hier eine, die DABEI war. Die sich wirklich angestellt hat, um Bananen zu kaufen und neidisch war auf Urlaubsfotos, geschossen in Griechenland von Verwandten aus dem Westen. Flugbegleiterin wollte sie immer werden und sofort beginnt man, sich die kleine, schlanke Frau vorzustellen, als junge Frau damals, als junge Mama von drei Kindern, selbst erst knapp über 20 Jahre, alleinerziehend. Geworden ist sie Kellnerin. Wenn schon Kellnerin, dann nicht in IRGENDEINER Bar, hat ihre Mama bestimmt, denn dann könnte sie gleich Prostituierte werden. Im Hotel Interkont verdiente man auch nicht so schlecht, 600 Mark immerhin und ein paar Mark aus dem Westen waren auch immer dabei, wenn ausländische Gäste da waren. Die hat man sich natürlich immer heimlich behalten, VERGESSEN umzutauschen, denn die waren was wert. Zehn westliche Mark für eine Dose Ananas im Westladen, da konnte man schon mal mit angeben, wenn man Freunde einlud. Bettinas Augen leuchten, wenn sie erzählt. Wir trinken Rotkehlchensekt, eine Marke aus der DDR, jetzt wieder TOTAL angesagt. „Das Ende der DDR war das Beste, was uns passieren konnte“, sagt Bettina irgendwann, als wir irgendwann doch die Frage stellen, voller Sekt und Euphorie nach ihren Geschichten, ob früher alles besser war. Sie seien sofort ins Auto und RÜBER gefahren, nachdem sie die Nachricht von den offenen Grenzen zuerst über den Fernsehen und dann wie ein Lauffeuer von Nachbar zu Nachbar weiter getragen wurde. DORT geblieben ist sie aber nicht, obwohl sie es für ein paar Wochen probiert hat. Da war sie mit ihren Kindern in Bayern, hatte eine Stelle im Hotel in Aussicht, da hat sie der Mut für den Westen verlassen. Seit damals ist sie in Gera und seit einem Jahr in dieser Reihenhaussiedlung bei ihrem neuen Freund. Ein paar Mal hat sie die Stadt verlassen, da war sie bei Konstantin in Salzburg oder fünf Tage in Ägypten auf Urlaub. „Gera ist öde“, erzählen Bettina und ihr Freund, auch Konstantin kennt ihn noch nicht so gut. Viele hätten hier keine Arbeit und die Jungen ziehen weg. „All die Hoffnungen, die nach der Wende da waren und all die Versprechen der Politiker sind geplatzt.“ Jetzt ist Gera alt geworden. Bettinas Freund ist Feuerwehrmann. Zu seinen häufigsten Einsätzen gehört das Tür knacken, wenn jemand Älterer sich versehentlich ausgesperrt hat, sagt Konstantin.  


Es ist ein dumpfer Schleier der Resignation, der sich über diese Reihenhaussiedlung gelegt hat. Einen, den man nicht wahrhaben will, einen, den Helene Fischer, die aus dem Fernsehen tönt, wegsingen soll und sie schafft das auch für Momente. Für kleine Momente sitzen wir da, trinken Sprudel und singen alte Songs der Kelly Family. Der Schleier geht viel tiefer. Er hat sich über Gera gelegt und festgesetzt, ist in jede Ritze gekrochen und steckt fest. Ihn dort raus zu kratzen, wäre jahrzehntelange Arbeit und überhaupt, wo anfangen und WER außerdem. Eine, die jetzt den Schaber wieder ansetzen will, ist Elisabeth Kaiser. 30 Jahre ist sie alt und damit jünger als zwei Drittel der Geraer, aber auch für genau die sitzt sie seit der letzten Bundestagswahl für den Landkreis Gera im Bundestag. Wir treffen sie in einem Cafe am Marktplatz, Hauptplatz von Gera und menschenleer an einem Samstagnachmittag. Ihre Eltern waren Linke, ihre Wahl fiel auf die SPD, sehr links waren die Eltern sogar, erzählt sie, und sie selbst sei schon seit ihrer Jugend politisch aktiv. Keine leichte Partei hat sie damit ausgesucht, betont sie, gerade jetzt stehen die Karten besonders schlecht für die Sozialdemokraten, wie in fast jedem europäischen Land. Kaiser redet schnell und energisch, die Worte purzeln durcheinandergewürfelt auf den Tisch. Da ist so viel, was gesagt werden muss. Seit den 1950ern war die SPD eine Partei der Jungen, bei jeder Wahl seit damals in Deutschland wurde sie von fast der Hälfte der 30-jährigen unterstützt. Heute ist es gerade einmal jeder 5. Die Jugend im Osten wählt heute die AfD, 17% erreichte die Alternative hier durchschnittlich, in Gera sogar über 20%. Die Gründe dafür sind klar, meint Kaiser und sie, Kaiser, als waschechte Geraerin will das ändern. Es fehlt die Infrastruktur, die Vernetzung zu den umliegenden Universitätsstädten ist so löchrig, da muss man doch wegziehen. Und dabei war Gera einmal Bezirkshauptstadt und Einkaufstadt, Textilstadt und um 40.000 Menschen reicher. Über 130.000 Menschen lebten 1985 hier in Gera. Heute sind es etwa 95.000. Nach der Wende war Gera nichts mehr. Der Osten wurde von der Politik nach der Wende als Niedriglohnland angepriesen, praktisch VERKAUFT also. Das hat zwar kurzfristig ein paar Arbeitsplätze geschaffen, aber eben, zu welchem Preis? Die Kluft zwischen Ost und West ist damit vor allem eine finanzielle. 

Heute ist die Wende schon einige Jahre her, aber die Stadt erholt sich nicht aus der Lethargie, sie wird immer älter, immer unbeweglicher und immer wütender im Bauch. Als Kaiser noch jung war, war in Gera ECHT was los, sagt sie. Und was, fragen wir. Na einfach mehr, mehr Leute auf der Straße, mehr alles eben. 2005 war das, sagt sie. Heute laufen wir durch Gera, vorbei an leeren Geschäften, die sich aneinander fädeln wie Murmeln. Die Farbe der Hauswände ist vergilbt, die Fassade am Bröckeln. An manchen Stellen ist der Verfall so offensichtlich, da muss man was tun, aber was nur und dann geht man weiter. Dass die AfD in diesen leeren, ausgehöhlten Häusern und Gassen gut Platz fand, wird auf einmal logisch. 

Die Politikverdrossenheit vieler Junger heute versteht Kaiser. „Die SPD hat viele Fehler gemacht, wir haben Hartz4 und Minijobs zugestimmt“, sagt sie. Das kann nicht der Wunsch einer Gesellschaft sein, die ohnehin schon kämpft, um finanzielle Gleichheit, um Zugehörigkeit, um Anerkennung. Jetzt machen sie – das haben sie sich von der AfD abgeguckt – Bürgerstammtische, um zu hören, was die Leute wirklich wollen. „Verratet euch nicht wieder“, hat da einmal eine Frau zu ihr gesagt. Dass Kaiser sich überhaupt mit uns trifft, ist schon fast ein Wunder. Angefragt haben wir auch bei der amtierenden Oberbürgermeisterin Viola Hahn, eine Parteilose, aber das blieb unbeantwortet. Von den Linken und der CDU kamen Absagen, den AfD Stammtisch heben wir uns für den nächsten Besuch auf. Kaiser hat zugesagt, sie ist jung, sie ist trotz Bundestagsplatz und ihren geraischen Wurzeln kaum bekannt in Gera. Sie will mit Leuten reden, sie muss. 


Bei einem der ersten Stammtische der AfD war auch Konstantin. Damals, als die AfD noch NUR eine europakritische Bewegung war, nicht unbedingt im rechten Rand zuhause oder wurzelnd im Nationalsozialismus. Aber wie das eben so ist, mit reaktionären Systemen und mit viel Wut im Bauch, sie ziehen früher oder später das Rechte an. Und weil auf den Straßen die Flüchtlinge waren, waren die Stammtische für den besorgten Bürger der Ort, wo er endlich einmal RAUSHAUEN konnte, wie sehr ihm diese Wut im Bauch schon brannte und wie sehr ihm diese Flüchtlinge am ARSCH gingen, vor allem am Arsch vorbei, und das konnte man hier sagen. Frei raus, Meinungsfreiheit, das wird man wohl noch. So oft hat man das dort gesagt und wiederholt, dass irgendwann das Ventil geöffnet war und es einfach floss, unkontrolliert, bis auf die Straßen hinaus. Es fühlt sich an wie eine Befreiung, wenn man etwas sagt, so revolutionär und endlich weiß man, was immer falsch gelaufen ist und endlich tut man etwas. Solange durfte man nichts sagen, was nationalistisch war oder dafür gehalten werden konnte, diese Zeiten sind jetzt vorbei.  Das Fremdenfeindliche war immer da, die Probleme in Ostdeutschland zwar auch, aber jetzt wo das Fremde da war, kam zumindest die Einigkeit, gemeinsam gegen ETWAS zu sein, wieder zurück. Erstmals die höchste Geburtenzahl in Gera wieder, seit 1991. Erstmals wieder eine positive Bevölkerungsbilanz in Gera. Aber eben eine multinationale, 5 Prozent Ausländer, etwa 4500. „Wir sind das Volk“, wurde auf den Straßen geschrien. Zuletzt hörte man den Spruch auf den Montagsdemonstrationen im Herbst 1989. Ein Spruch, der ein geeintes Deutschland forderte, Demokratie und Reisefreiheit. 


Wir laufen durch Gera. Wir sehen uns die Leute an, im Einkaufszentrum, auf den Straßen, von oben, am Hainberg beim Schloss Osterstein stehen. Untermhaus, Geras kulturelles Zentrum umrundet das Schloss wie ein schmaler Burggraben. Hier ist das Haus von Otto Dix, er ist Geras bekanntester Export, ein Maler. Nächstes Jahr jährt sich sein 50. Todestag. Die Stadt ist stolz auf ihn, jeder will die Verbindung zu Dix zeigen. Hier hat er gemalt, hier gewohnt, hier gefrühstückt. Dieses Viertel würde ich nicht mit Gera verbinden, sagt Konstantin als wir durch Untermhaus laufen. Es ist Geras liebstes Postkartenmotiv nach dem Turm auf dem Marktplatz. Die Straßen sind wie ausgestorben, es ist kalt, die Sonne scheint hin und wieder zwischen den Wolken hervor. Der triste Wintertag liest man auch im Gesicht der Menschen, denen wir auf unserem Stadtspaziergang begegnen. Konstantin ist der beste Stadtführer, er weiß alles über das Theater, das Schloss, über Dix. Während der Schulzeit hat er als Stadtführer gearbeitet, sagt er. Aus der ehemaligen Landesbankzentrale sollte das Otto-Dix-Zentrum werden, die damalige Oberbürgermeisterin Viola Hahn wollte das. Nicht ganz eingesehen habe er das, denn die Stadt ist schwer verschuldet, „hängt am Tropf der Landesregierung“, wie Konstantin sagt. 


Auf die Straßen traue er sich schon lange nicht mehr, erzählt uns Horst Schreiner. Wir treffen den 87-jährigen auf einer Party im Altersheim, der Herr Kürschner feiert seinen 100. Geburtstag. Wir erfahren es zufällig, wir wollten mit einem älteren Bewohner sprechen, weil ja Geras Mainstream-Gesellschaft eher älter ist. Auf ein Kleinkind kommen etwa fünf über 65-jährige. Jährlich ziehen mehr Menschen von Gera weg, als kommen. „Der Mangel an Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter wird in Gera voraussichtlich über drei Jahrzehnte prägen“, liest man in der Bevölkerungs- und Haushaltsprognose der Stadt Gera. Das Durchschnittsalter in Gera: 48 Jahre. Bis zum Jahr 2030 sollen über 65-jährige 40 Prozent der Gesellschaft ausmachen und die Bevölkerung wieder um 20.000 schrumpfen, prognostiziert das Landesamt für Statistik Thüringen. Wie man mit der alternden Gesellschaft umgeht, dazu macht sich Gera seit Jahren Gedanken. Einige leerstehenden Häuser sind jetzt Altersheime oder betreutes Wohnen, so kommt man unter anderen an eine Unterkunft in bester Innenstadtlage, wie hier mitten am Marktplatz, wo wir gelandet sind. Uns da hat man prompt eingeladen. Zu Kaffee und Brötchen, nur nicht schüchtern sein, hat man uns gesagt. Gefeiert wird oben, im Dachgeschoss mit Blick über die Stadt, das gibt es nur in Gera. Horst wohnt schon fast sein ganzes Leben hier, in Gera, nicht im beste-Lage-Altersheim, sondern in einer Wohnung, er hat eine Tochter, die ihm hilft. Nur einmal war er für 15 Jahre drüben im Westen, sagt er, bis sein Vater erkrankte. Horst hat als Fuhrparkleiter gearbeitet im großen Kaufhaus Tietz in Geras, ein Vorzeigekaufhaus in Geras Einkaufsstraße, aber das ist schon lange her. Das waren noch Zeiten, als Gera noch groß und wichtig war und mit diesem Geschäft als Aushängeschild, als Arbeitgeber, da war man schon stolz. Damals gab es für jeden Arbeit, sagt Schreiner, in der DDR, aber die Jungen gehen eben dahin, wo es Arbeit gibt. Und das ist nicht Gera. Jetzt auf den Straßen, die ganzen Ausländer. Er selbst hat das zwar nicht gesehen, aber Bekannte haben ihm das erzählt. Wenn man früher in der DDR etwas angestellt hat, etwas VERBROCHEN, dann konnte man wenigstens nicht einfach abhauen, sagt Schreiner. Der Mann wirkt gar nicht wütend, wie er so dasitzt, ein kleiner lieber Opi, die grauen Haare, die Falten, der drahtige Körper, etwas resigniert vielleicht. In der DDR hatten die Menschen Arbeit und keine Sorgen, sagt er. „Die Demokratie war das Beste, was uns passieren konnte. Und wenn Gera Geld hätte, dann würden die schon was machen. Aber man gewöhnt sich an alles.“ 

Die Party ist mittlerweile in vollem Gange. Alle 25 Gäste haben ihr Essen bei der Essensausgabe geholt und brav aufgegessen, im Hintergrund läuft ein Lied, „Dankeschön und Auf Wiedersehen“. Herr Kürschner hört es nicht, er hört kaum mehr. Schreiner holt uns aus der Skurrilität der Situation zurück. „Da hat man ein Leben lang gearbeitet und sie versprechen 8000 neue Pflegekräfte für Ostdeutschland, das ist nicht mal für jedes Altersheim eine.“ Auch die Oberbürgermeistern Viola Hahn wollte heute kommen zum 100. Geburtstag von Herrn Kürschner, weil man das so macht. Gekommen ist sie aber nicht, abgesagt hat sie auch nicht. Kein Interesse vielleicht, an den Menschen hier in Gera, aber ein bisschen sind sie das gewohnt. Vergessen worden, auch in der neuen Bundesregierung kein einziger ostdeutscher Minister, außer man zählt Merkel selbst. Man gewöhnt sich an alles, hat Schreiner vorhin gesagt. „Wenn jetzt auch noch das Galeria Kaufhof zusperrt, dann ist Gera tot.“


Samstagabend, wir suchen etwas zu essen. Da reingehen, wo viele Leute sind, denn dann muss es gut sein, diese alte Regel funktioniert hier nicht. Die Straßen sind leer und ausgestorben, gleichen sich den verlassenen Läden an. Wir essen im Klimperkasten, keine Ahnung warum, vielleicht weil wir am Nachmittag vorbei gelaufen sind und Konstantin gesagt hat, genau hier war es, wo immer Stammtische der AfD stattgefunden haben. Am Anfang, da hat ein Klimperkasten noch gereicht, heute muss mehr Platz her. Also wir rein. Die Kellnerin fragt dreimal, ob es schmeckt, ohne die Antwort abzuwarten. Wir beobachten schweigend die restlichen Gäste, wie sie sich anschweigen und freuen uns über die Kellnerin, die wenigstens redet. Stammtischatmosphäre kommt nicht auf, also gehen wir. Konstantin will uns heute noch einen Freund vorstellen, der auch immer bei Stammtischen der AfD dabei war und diskutiert hat. Die Bar, in der wir ihn treffen, ist gleich unterm Klimperkasten. Warum haben wir nicht da gegessen, was haben wir uns da oben erwartet? Dass einer etwas afd-iges sagt? Dass eine aussieht, als würde sie Afd wählen, nicht so normal und durchschnittlich, wie sehen die überhaupt aus? KEINE AHNUNG. Unten ist eine andere Welt. Alles jünger, man trinkt hier Berliner Weiße, also Bier mit Sirup, von Banane bis Haselnuss, die Auswahl überfordert. Oben AfD, unten Linke. In Ostdeutschland sind die Extreme so nah. 


Lukas ist 21, Christ seit 2013 und politisch seit 2015. Vor unserem Kopf ein Fragezeichen, zumindest Lukas sieht es und erklärt. Als Christ kann man nur links sein, sagt er, das befielt einem die Nächstenliebe. Und weiter: „Gera ist für Linke eine schwere Stadt.“ Man kennt sich hier, man weiß, wer wohin gehört und wen man nicht kennt, den scannt man, sagt der Student und „man guckt wer in Hörweite sitzt.“ Diese Bar hier ist zwar links, aber kein wirklicher linker Treffpunkt, das ist eher das Shalom, das evangelische Jugendzentrum. Seit einem Jahr studiert Lukas in Jena, Deutsch und Geschichte auf Lehramt. Die klare politische Positionierung ist Lukas wichtig, 2015 habe er regelrecht einen DRANG verspürt sich eindeutig und offen auf eine Seite zu schlagen. In Gera gab es zu der Zeit fast niemanden, der für Flüchtlinge war. „Es ist die Aufgabe der Jugend klare Antworten zu haben,“ sagt Lukas. Ziemlich persiflierte Ansage, denke ich beim Zuhören. Später beim Schreiben bewundere ich die sture Überzeugung von einer besseren Welt. Zu den ersten Stammtischen der AfD ist er gegangen, um sich das einmal anzuhören, was sagen die, was wollen die. Irgendwie muss man das auch mit eigenen Ohren hören, sonst glaubt man es nicht. Der Stefan Brandner hat diese Stammtische damals geleitet, ANGEFÜHRT, heute sitzt er für die AfD im Bundestag und Vorsitzender des Rechtsausschusses. Stefan Brandner war früher CDU, heute ist ihm die nicht mehr konservativ genug. Auf gegoogelten Fotos sieht man ihn mit zurück gegeeltem Haar, die Hand faschmännisch am Kinn. „Thüringens wütendster Abgeordneter“ titelt der MDR zu einem der Artikel und „Der neue Ton im Bundestag“. Brandner selbst titelt zu einem Foto, das er im Dezember 2017 selbst geschossen und auf Twitter gepostet hat: „Warten auf die #antifa oder der/die/das Zentrum für politische #Schönheit (#zps, das sind die #beklopptenn ‚Kunst’-#Ballos, die in #Bornhagen rumirren). Vielleicht können sie mir `nen Tipp geben, wie ich das Gerät ‚künstlerisch’ gebrauchen kann. #afd“ Auf dem Fotoist ein fast leeres Glas Bier zu sehen, aber mit großer Wahrscheinlichkeit meint Brandner wohl eher die Machete, wenn er „das Ding“ schreibt. Den Fall prüft jetzt die Staatsanwaltschaft. 

„Es gibt einen Unterschied zwischen rechter und linker Gewalt,“ sagt Lukas. „Die rechte richtet sich gegen Ausländer und die linke richtet sich gegen Nazis.“ Hier in Gera sind die Linken viel zu passiv, es fehlt an Militanz. Lukas redet sich in Rage. „Die Studenten sind alle pseudo-links, machen nichts, wenn es darauf ankommt. Politisch sein heißt sich öffentlich zu äußern.“ Schwer ist das aber schon, denn mit der AfD kannst du kein normales Gespräch führen, sagt er dann. Er habe es versucht, auf einigen Stammtischen, auch in der Schule, da wollten sie einen mannsgroßen Lautsprecher in den Schulhof stellen, der die Nazi-Pegida-Thürgida-besorgten-Bürger einfach ÜBERSCHREIEN sollte, wenn sie mal wieder durch Geras Innenstadt ziehen sollten. Mit klassischer Musik vielleicht, nur nicht Wagner. Der Direktor war dagegen, er wollte sich nicht klar gegen die AfD oder die Thürgida positionieren. Auch bei der Schülerzeitung, die Konstantin herausgab, wollte der Direktor mitreden, da sollten sie die Artikel vor dem Druck abgeben und noch einmal DRÜBER SCHAUEN lassen, damit nichts über einen Lehrer drinsteht, was nicht stehen soll, das die offizielle Erklärung dazu. Haben sie dann aber nicht gemacht. Die Druckkosten haben sie dafür selbst übernommen, denn die Schuldruckerei gehört der Dr. Frank Gmbh und der Dr. Frank geht auch immer zu den Stammtischen. Die Dr. Frank Gmbh druckt nicht nur, sie bringt Geras Gratis-Wochenblatt heraus, das in jedem Briefkasten landet, da braucht man eigentlich keine andere Zeitung mehr abonnieren. „Das neue Gera“ heißt sie Zeitung. AfD-Werkblatt, sagt Konstantin. 


Wir spazieren in Richtung nach Hause, Konstantin zu Mama Bettina, wir in die Pension. Lukas wohnt seit kurzem in Jena, davor ist er zwischen Uni und Gera gependelt. „Man hat Gera irgendwann satt. Die Leere, die Leute,“ sagt er. Wir sagen, wir wollen ihn wieder treffen, wir finden ihn spannend und gescheit, wie er so dasitzt und mit Politikernamen und Nazibekanntheiten um sich schmeißt und Ernst Jünger und Dietrich Bornhoeffer zitiert, mit 21 Jahren. „Kannst du dich noch an diese Aufkleber erinnern?“, fragt Lukas Konstantin. „Wir haben die damals in der ganzen Stadt verteilt,“ das war an uns gerichtet. „Ich glaube, ich habe vor kurzem wieder einen gesehen,“ das war eine Ansage. Wir suchen jetzt an Laternenpfählen und Masten diesen Aufkleber. Wir finden ihn wirklich. Da steht es, schon etwas vergilbt, aber immer noch da, nur da, wo einmal „besorgter Bürger“ stand ist eine freie weiße Stelle. Hat Platz gemacht für die nächste Bezeichnung: „Subjekt mit beschränktem Horizont und Hang zum Brandstiften, der bevorzugt spaziert, um seine rassistische Ideologie zu verbreiten. Siehe auch Nazi.“