Am 4. Dezember haben wir eine Geschichte erzählt und knapp 2500 Menschen haben gebannt mitgelesen: bei WhatsApp. Ist Storytelling in Form von Messenger-Nachrichten also möglich? Unsere Erfahrungen.
Die Idee
Uns hat die Frage beschäftigt, wie wir zum 70. Jahrestag an die
Bombardierung Heilbronns vom 4. Dezember 1944 erinnern können. Wir haben
uns in der Redaktion von Stimme.de für zwei Arten der Berichterstattung entschieden: Zum einen haben wir den Luftangriff, die “Operation Sawfish”, in einem interaktiven Talkie erklärt (Werkstattbericht
folgt). Außerdem reizt uns seit Längerem der Einsatz von WhatsApp als
Nachrichtenkanal, vor allem nach den erfolgreichen Versuchen von BBC und SRF. Auch der Fränkische Tag experimentiert derzeit damit. Inspiriert von den historischen Twitter-Tickern (bspw. 9nov38) kam uns schließlich die Idee, die Bombardierung in Echtzeit in WhatsApp zu erzählen.
Warum WhatsApp?
"Heute ging mir dieser Tag so nahe wie nie."
Dieses Feedback erreichte uns wenige Minuten nach Ende unseres
Tickers. Genau dieses Gefühl wollten wir von Anfang an mit der Aktion
erreichen: Die Nachrichten sollten die Heilbronner in ihrem Alltag
abholen. Die Erinnerung an den 4. Dezember sollte an diesem Abend eine
Rolle für sie spielen.
Viele Heilbronner standen auf dem Kiliansplatz, als die Kirchenglocken zum Gedenken geläutet haben, genau in dem Moment, in dem vor 70 Jahren die ersten Bomben auf die Stadt fielen. Und während sie da standen, haben die Leute die Ereignisse in unserem Ticker mitgelesen.
Unserer Meinung nach war das nur mit WhatsApp möglich. Der mobile Messenger ist im Alltag der Menschen extrem präsent, der Umgang damit gelernt - nicht nur bei Jugendlichen.
Twitter haben wir schon allein deshalb ausgeschlossen, weil in der Region kaum jemand Twitter nutzt. Und die Geschichte auf Stimme.de oder bei Facebook nachzuerzählen, hätte teilweise erfordert, dass die User aktiv zu uns auf die Seite kommen. Mit WhatsApp konnten wir die Nachrichten zum User bringen, direkt auf die Sperrbildschirme der Smartphones ("Push").
Wie lief das technisch ab?
Wer an unserem WhatsApp-Experiment teilnehmen wollte, musste das Wort "Heilbronn" als WhatsApp-Nachricht an unsere Nummer schicken. Diese Art der Anmeldung haben wir uns vom SRF abgeschaut. Sie hat super funktioniert. Denn so mussten die Leute unsere Nummer in ihr Adressbuch speichern. Und das ist Voraussetzung dafür, dass sie unsere Nachrichten über Broadcast-Listen später erhalten.
Fast 2500 Menschen haben sich für unsere Aktion angemeldet. Eigentlich sogar noch mehr, fast 200 Leute waren aber zu spät dran. Wir haben sogar die Werbung gebremst, damit sich nicht noch mehr Menschen anmelden.
Jede einzelne Nummer mussten wir nämlich ins Adressbuch aufnehmen. Von Hand, auf einem Smartphone. Zwei Leute haben das abwechselnd gemacht und dafür sicher zehn Stunden gebraucht. Wir haben die Adressbucheinträge systematisch durchnummeriert, um den Überblick nicht zu verlieren. Dann haben wir immer 250 Nummern in eine Broadcast-Liste aufgenommen (eine Broadcast-Liste kann 256 Nummern speichern). Am Ende hatten wir zehn Broadcast-Listen, die wir von einem einzigen Smartphone aus parallel mit den Inhalten befüllen mussten.
Getextet haben wir schon mit einem konkreten Publikum im Kopf und mit einer klaren Vorstellung: Unsere kurzen Nachrichten sollten die Leute überraschen - beim Einkaufen in der Innenstadt, beim Heimweg durch Heilbronn. Jetzt gerade vor 70 Jahren fielen hier Bomben. Wie kann man das sonst überhaupt fassbar machen?
Ungefähr 4800 Zeichen haben wir insgesamt verschickt, 30 Nachrichten mit Text, zwei Videos, sieben Bilder und zwei Info-Grafiken.
Wir haben nie zuvor auf allen Kanälen so viele und ausschließlich positive Rückmeldungen für unsere Berichterstattung erhalten (diese Facebook-Kommentare haben uns besonders gefreut). Offenbar haben wir viele Menschen an diesem Tag in Heilbronn berührt mit dieser speziellen Form der Erzählung.
Fast niemand hat beklagt, dass es kaum Interaktionsmöglichkeiten gab - obwohl WhatsApp ein Chat-Medium ist. Wir haben auf einige Fragen geantwortet, mussten viele aber unbeantwortet lassen.
Viele Leute haben unsere Nachrichten mit traurigen Smilies kommentiert oder kurze Kommentare geschrieben, wie „das ist ja wirklich krass". Was die Leute sich gewünscht haben: Mehr Bilder, weiterführende Links, mehr Hintergrundinfos. Der Ton der Rückmeldungen war aber immer höflich, konstruktiv, freundlich - völlig anders, als wir das zum Beispiel von Facebook kennen.
Besonders überrascht hat uns auch die Rücklaufquote unseres Fragebogens: Von fast 2500 angemeldeten Usern haben mehr als 640 den Fragebogen ausgefüllt. Und die Ergebnisse machen Mut für weitere WhatsApp-Experimente: 91 Prozent der User würden gerne öfter Nachrichten o.ä. über WhatsApp erhalten.
Lohnt sich der Aufwand?
Der Aufwand für die Aktion war enorm groß. Wir sind uns einig, dass es sich für diesen einen speziellen Fall gelohnt hat. Aber ist das auch auf den redaktionellen Alltag übertragbar?
So lange WhatsApp rein manuell gesteuert werden kann, eher nicht. Derzeit muss jede Nachricht manuell verfasst werden.
So steht es in den WhatsApp-AGBs:
"You agree not to use or launch any automated system, including without limitation, "robots," "spiders," "offline readers," etc. or "load testers" [...] that accesses the Service in a manner that sends more request messages to the WhatsApp servers in a given period of time than a human can reasonably produce in the same period by using a WhatsApp application."
Den Anmeldeprozess und das Einspeichern der Nummern könnte man teil-automatisieren - etwa über ein Online-Anmeldeformular. Es gibt auch bereits Anwendungen, mit denen sich WhatsApp am Desktop steuern lassen kann. Das würden die AGBs aus unserer Sicht zulassen. Sie verbieten ja nur, dass man mehr Nachrichten verschickt, als ein einzelner Mensch senden könnte.
Wir wollen in den kommenden Wochen auf jeden Fall weiter experimentieren und nach technischen Möglichkeiten suchen, um den Prozess zu vereinfachen. Inhaltlich sind wir noch unsicher. Als reine Linkschleuder wollen wir WhatsApp auf keinen Fall einsetzen, als Storytelling-Medium gerne wieder.
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