Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Text geschrieben, von dem Sie sicher sind, dass er konsistent ist. Nehmen wir an, er ist es tatsächlich. Nun sterben Sie. Ich nehme Ihren Text und verstehe Sie an vielleicht zwei zentralen Stellen falsch. Ich nehme das aber als Beweis dafür, dass Ihr Text inkonsistent ist. Das heißt: Ich kritisiere nicht etwa Ihren Fehler, sondern mein eigenes Missverständnis Ihres Textes. - Frage: Durch welche Autorität ließen Sie sich, wären Sie an meiner Stelle, von Ihrer Überzeugung - die Sie vielleicht überdies berühmt gemacht oder Ihnen zumindest einen lukrativen Job an der Universität verschafft hat - abbringen, dass Sie den Fehler gemacht haben - und nicht der von Ihnen kritisierte Autor? Vielleicht durch einen guten Freund Ihres Autors, der dessen Texte sehr wohl verstanden hat? Und wenn kein ‚Zeuge' mehr lebte? Durch die Schüler, die danach drängen, an die Gedanken ihres Lehrers anzuschließen und sie weiterzuverbreiten? Oder durch die Schüler der Schüler, die danach drängen, die inhaltliche Sachfrage des Autors anders oder besser zu beantworten und so versuchen den Autor zu ‚überwinden'? - Lesen Sie Texte also von vorneherein auf ‚Fehler' hin (oder Probleme) - vielleicht aus Angst, der Autor könnte Sie quasi unversehens überrumpeln? - dann vergeben Sie die Möglichkeit, eine Unterscheidung treffen zu können ob Ihre Kritik wirklich die Darstellung des Autors - oder Ihr eigenes Missverständnis betrifft. Als Leser haben Sie sich dann nie gefragt: Was setze ich als selbstverständliche Grundlage voraus? Was ist für mich ein unhinterfragbarer Horizont? Von wo aus beurteile ich die Gedanken anderer? Und ist das alles schon so klar, wie es scheint? -
Im Hinblick auf philosophische Texte sollte dieser Hintergrund möglichst minimal gehalten werden: (1) Jeder philosophische Text muss für seine Darstellungen und Begründungen Begriffe gebrauchen, die er nicht thematisiert (weil jede ‚Thematisierung' durch Begriffe geschieht) und (2) jede philosophische Begründung ist an den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch gebunden, weil ohne ihn so etwas wie ‚Geltung' nicht mehr denkbar ist. Was sich widerspricht ist beliebig oder im Ansatz dogmatisch und kann von jedermann jederzeit zurückgewiesen werden. Natürlich müssen Sie immer einen Verständnishorizont voraussetzen. Aber Sie dürfen diesen Verständnishorizont nicht im Vorhinein zum Geltungshorizont erklären. Der Unterschied zwischen diesen beiden Auffassungen der eigenen Lektürevoraussetzungen ist der Unterschied zwischen einer Position, die nichts (mehr) lernt und einer Position, die etwas lernen kann, weil sie es immer auch noch einmal anders auslegen, in einer anderen Hinsicht betrachten kann. Das bedeutet nicht, das die Auslegung beliebig ist. Sondern: dass die Lektüre sich hinsichtlich des Verständnisses dem anzumessen hat, was im Text steht und nicht umgekehrt. Und dass manche Probleme sich in Luft auflösen, wenn man dieselbe Textstelle erst von einem und dann von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet. Dieses Betrachtenkönnen ist gemeint - und nicht ein beliebiges Hineininterpretieren von ‚Meinung' in einen Text!
Beachten Sie, dass ‚Kritik' zunächst ganz leicht ist: Sie können immer um einen einmal gezogenen Kreis einen anderen Kreis ziehen. Weil Sie immer mehr sehen können als der Text gesehen hat (z.B. die Begriffe, die er nicht mehr thematisiert). Sie können jede systematische Darstellung historisieren (z.B. das Argument „dafür muss man sich einer bestimmten historischen Sprache bedienen" - übersieht, dass Logik nicht identisch ist mit Sprache). Sie können jede Andeutung von geschichtlicher Kontingenz systematisch rechtfertigen. - Sie können sich auch eines Tricks bedienen und eine Äußerung eines Autors - etwa eine Selbstein- oder überschätzung - einfach zum ‚eigentlichen' Anspruch eines Textes erklären.
Warum ich Ihnen nahelege, erst einmal alles, was Sie über den Text zu wissen glauben, einzuklammern (nicht: zu vergessen)? Weil Sie lernen sollen, Ihre eigene Position, von der aus Sie einen Text befragen, mitzudenken, mitzureflektieren.