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Vertrauliche Soforthilfe mit Code-Wort

Vertrauliche Soforthilfe mit Code-Wort

Potsdam. Die Dunkelziffer von Vergewaltigungen ist hoch. Das soll sich ändern. Diese Woche stellte Brandenburgs Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, Diana Golze (Linke), ein neues Programm vor, dass Opfern sexueller Gewalt künftig schnell und vertraulich helfen kann – auch wenn sie (zunächst) keine Strafanzeige bei der Polizei stellen.

Rund 8 000 Vergewaltigungen werden jährlich bundesweit angezeigt. Die Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes“ geht davon aus, dass jede vierte Frau über 16 Jahre in Deutschland häusliche und/oder sexualisierte Gewalt erfahren hat. Im Land Brandenburg wurden im Vorjahr 182 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung registriert. Von 520 Ratsuchenden, die 2013 bei der Opferhilfe Brandenburg vorsprachen, waren 72 Prozent Opfer. Im gesamten Jahr 1997 hatten dort nur rund 80 Personen Hilfe gesucht. 33 Prozent der Inanspruchnahmen erfolgten nach Sexualstraftaten, 25 Prozent wegen Körperverletzung und 18 Prozent wegen Eingriffen in die persönliche Freiheit. Viele Täter stammen aus dem direkten Umfeld der Opfer. Aus Angst, dass die Taten öffentlich werden, scheuen viele Betroffene eine Anzeige. Das bedeutet meist die Fortsetzung ihres persönlichen Leids.

„Diese Fakten dürfen wir nicht ausblenden“, betonte Diana Golze, die selbst Trägervereinsmitglied eines Frauenhauses ist. Das Programm „Vergewaltigt – was nun? Medizinische Soforthilfe und vertrauliche Spurensicherung“ soll künftig eine Lücke schließen. In vier Brandenburger Kliniken in Cottbus, Frankfurt/Oder, Potsdam und Neuruppin kann künftig gerichtsverwertbares Beweismaterial vertraulich gesichert werden. Das bedeutet, dass die Polizei erst Kenntnis von der Straftat erlangt, wenn sich die Opfer für eine Anzeige entscheiden. „Bisher kamen sie nur mit der Kriminalpolizei. Zwar erhielten alle medizinische und psychologische Hilfe, künftig kommt eine juristisch sichere Unterstützung hinzu und die Betroffenen können nach dem Extremereignis in Ruhe entscheiden, wie sie weiter verfahren wollen“, sagte Dr. Christiane Richter-Ehrenstein, Chefärztin der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Klinikum Frankfurt (Oder). Damit dies diskret und schnell erfolgen kann, sollen sich vergewaltigte Frauen so schnell wie möglich nach der Tat mit einem Code-Satz wie „Ich brauche dringend ein Gespräch mit einer Gynäkologin“ oder Männer mit „Ich brauche dringend ein Gespräch mit einem Urologen“ in den Rettungsstellen bemerkbar machen. „So schnell wie möglich“ heißt innerhalb von 24 bis 48 Stunden. „Das kommt auf die Verletzungen an“, sagt die Frauenärztin. „Ein Würge-Mal am Hals ist nach zwei Tagen weg, eine Spermaspur am Oberschenkel nach der nächsten Dusche.“

Die der Schweigepflicht unterliegenden Mediziner in den vier Kliniken sind für die qualifizierte Spurensicherung geschult. Dazu gehören eine körperliche Untersuchung, die Sicherung der Kleidungsstücke zum Tatzeitpunkt, die schriftliche und fotografische Dokumentation von Verletzungen sowie Abstriche. Die gesicherten Spuren werden codiert und an einem sicheren Ort mindestens drei Jahre lang aufbewahrt. Entscheiden sich die Opfer erst später zu einer Strafanzeige, informieren sie die Polizei über die vertrauliche Spurensicherung, damit Weiteres eingeleitet werden kann. Aufgrund der besonderen Ansprüche halten die Experten ein flächendeckendes Angebot in mehr als den derzeit vier Brandenburger Kliniken für unwahrscheinlich. Ganz anonym ist die Spurensicherung indes nicht, da die ärztlichen Leistungen mit den Krankenkassen abgerechnet werden müssen. Diese seien jedoch instruiert worden, Opfer nicht mit eigenen „Ermittlungen und Nachfragen“, zum Beispiel nach dem Täter, zu belasten.

Dr. Bernd Christensen, Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe der Ruppiner Kliniken Neuruppin, beziffert die Patienten mit Gewalterfahrungen in den Rettungsstellen auf einen „zweistelligen Prozentsatz“. Im Klinikum Cottbus, wo die vertrauliche Spurensicherung seit Oktober 2014 praktiziert wird, konnte seitdem in zwei von drei Fällen, alle bei Kindern, der Verdacht auf sexuellen Missbrauch bestätigt werden. „Bisher gab es kein Schema der Fälle, aber nun haben wir ein standardisiertes Set der Spurensicherung“, hob Dr. Bernd Köhler, Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe des Ernst von Bergmann Klinikums Potsdam, hervor. In der einzigen Kinder-Notaufnahme des Landes mit jährlich 20 000 Konsultationen hegen die Ärzte wöchentlich mehrmals Verdacht auf Gewalteinwirkung: „Die Zahlen sind unglaublich.“

„Wir brauchen die Politik für die Dinge, die noch nicht geregelt sind“, sagte Rosmarie Priet, Leiterin der Opferberatungsstellen des Opferhilfe Land Brandenburg e.V. Die Menschen, die in Kliniken, bei Ambulanzen oder Beratungsstellen vorstellig werden, haben sich bereits für Hilfe entschieden. Nach Erfahrung der Diplom-Psychologin entscheidet das erste Gespräch nach der Tat, meist mit Freundin oder Mutter, über das wie weiter. „Wir müssen chronisches psychisches Leid vermeiden und die vielen Betroffenen vom Rand der Gesellschaft wieder hereinholen“, wünscht sie sich.

In den meisten Bundesländern haben sich vergleichbare Angebote schon bewährt. Zwischen 20 und 50 Prozent des gesicherten Spurenmaterials werden nach diesen Erfahrungen später für eine Strafanzeige abgefordert. Wie sinnvoll das ist, zeigt auch ein Blick auf die Statistik. Von 773 901 im Jahr 2012 in Deutschland rechtskräftig Verurteilten wurden nur 1 261 Urteile wegen sexueller Nötigung bzw. Vergewaltigung und 2 142 wegen sexuellem Missbrauch von Kindern gesprochen. Werden Täter nicht zur Verantwortung gezogen, entkommen Opfer der Gewaltspirale nur schwer. Auch deshalb will die Projektarbeitsgruppe ihre Öffentlichkeitsarbeit im nächsten Jahr intensivieren.

Foto: ©Dagmar Möbius

Helfen Vergewaltigungsopfern schnell und vertraulich: (v.l.) Dr. Christiane Richter-Ehrenstein, Chefärztin der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Klinikum Frankfurt (Oder), Rosmarie Priet, Leiterin der Opferberatungsstellen des Opferhilfe Land Brandenburg e.V., Dr. Andrzej Popiela, Chefarzt der Frauenklinik des Carl-Thiem-Klinikums Cottbus, Ministerin Diana Golze, Dr. Bernd Christensen, Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe der Ruppiner Kliniken Neuruppin und Dr. Bernd Köhler, Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe des Ernst von Bergmann Klinikums Potsdam.

veröffentlicht in Wochenzeitung Märker, Ausgabe Neuruppin, vom20./21. Dezember 2014, Seite 4